Schönheit des Verschwindens
Magdalena Saiger erzählt von dem „Was ihr nicht seht“
Von Lutz Hagestedt
Der apostrophierte, ein- wie ausgeschlossene Leser, der sich auf den Weg macht, dem namenlosen Ich-Erzähler (nennen wir ihn Agamemnon) in sein (projektiertes) Labyrinth aus Papier und anderen Werk- und Wertstoffen zu folgen, in einer aufgelassenen Industrieanlage des Kohlentagebaus (irgendwo im Nirgendwo), betritt einen teils realistischen, teils fantastischen Raum, wie er uns von E.T.A. Hoffmann oder Gustav Meyrink, Lewis Carroll oder J.R.R. Tolkien vertraut sein mag.
Am Wacholder dort, wo traditionell die Grenze zum Zauberreich der „Erementaschen“ (Arno Schmidt) verläuft, begegnet er dem namenlosen Giacometti, der wegen seiner ausgemergelten Gestalt hier so genannt wird. Ausgemergelt ist er wie der schrundige Boden, der im Grenzgebiet der Lausitz (dafür spräche ein neues Wort, das der Erzähler lernt: „sowjetzonal“) oder nach Holland hinüber (dafür spräche der Aquavit) liegen mag und der einst im Kohlentagebau abgebaggert werden sollte. Da aber Aufwand und Ertrag nicht harmonierten, blieb das Terrain letztendlich verschont.
Blieb es verschont? Die Bewohner des „Dorfes“ (wie es hier namenlos heißt) wurden umgesiedelt, nur Giacometti blieb zurück, und die Industriehallen des Bergbaubetriebes verwaisten. Jetzt, in der Handlungsgegenwart des Romans, werden sie zum Installationsraum einer ultimativen Kunstaktion, wie sie radikaler und existenzieller kaum gedacht werden kann. Denn die intendierte absolute Einsamkeit des Protagonisten verträgt sich nicht mit dem Kommunikationsbedarf aller Kunst, die zum Besucher, zum Betrachter, zum Bewahrer drängt. Als „Bericht“ deklariert ‚Agamemnon‘ seine Prosa, die sich bevorzugt mit Sondierungen des unbekannten, aber vertrauter werdenden Terrains, mit technischen Details der Papierproduktion und mit einer Theorie des Labyrinths beschäftigt. Seine Gedanken kreisen auch um Giacometti, mit dem er stillschweigend eine Form „friedlicher Koexistenz“ eingegangen ist, wiewohl seine Kunst keine Gegenwart anderer verträgt und obwohl Giacometti im Gegenzuge auch ihn, den Künstler, aus dieser verlorenen Welt vertreiben will. Anfangs zumindest.
Von poetischer Schönheit sind die raren Momente im Leben, in denen wir der Welt verlorengehen. Wimpernschläge sind es oft nur: Jähes Entsetzen befällt uns, sobald wir zur Realität zurückgefunden haben, sobald die jenseitige Welt zerfällt. Wir sprechen dann vielleicht, hilflos, von Nahtodeserfahrungen, oder wir suchen nach bildhaften Entsprechungen einer Erkenntnis, die sich nicht in Worte fassen lässt. (Wort- und bilderreich beschwört sie der Kinofilm „Vanilla Sky“ mit Tom Cruise, daran muss ich entsprechend denken.) Die abschüssige Mondhalde beispielsweise, die Abraumhalde, die hier imaginiert wird, hat irgendetwas (Vages) auch mit Matthias Claudius zu tun, dessen „Abendlied“ den Titelvers des Romantitels beisteuert: Was ihr nicht seht (und auch nicht sehen sollt). Das Paradox ist: Wir sollen davon erfahren, sonst gäbe es diesen „Bericht“ in Gestalt eines Romans nicht. Wir sollen zumindest erahnen können, wie das Kunstwerk beschaffen war, das hier „nur mit Worten“ bezeichnet werden kann (entsprechend ist der Mond, wusste schon Claudius, nur halb zu sehen – und ist doch rund und schön).
Der erdabgewandten Seite des Mondes (die überhaupt lange Zeit unsichtbar war) und der weltabgewandten Seite des dargestellten (Wort-)Künstlers, der hier eine riesige Origami-Skulptur aus Raum und Zeit und Papier zu erschaffen weiß, entspricht in gewisser Weise der (radikale) Konstruktivismus, und wir mögen uns fragen, ob diese begehbare Skulptur denn überhaupt „existiert“, wenn sie nicht „gesehen“ werden kann:
Als ich noch ein halbes Kind war, kam es einmal vor, dass ich mich verlief, vielleicht nur für Minuten, aber ich war den vertrauten Wegen entkommen und hörte auch die Rufe der Erwachsenen nicht. Ich weiß auch nicht mehr, war es in der Stadt meiner Kindheit oder in der Stadt irgendeiner Reise, weiß nur noch, dass ich in einer mir fremden Gegend durch ein Tor trat und mich in einem Hof wiederfand, in dem es schon dämmerte und wo niemand zu leben schien. Hinter einem Haufen rostigen Blechs stand aufrecht und allein eine einzelne Mohnblüte, zart, verletzlich und rot und morgen verblüht, und nun hörte ich doch die Rufe, jemand stand im Eingang zum Hof, ich musste mich losreißen und ertrug an diesem Abend regungslos das Ausgeschimpftwerden, das mich kaum erreichte. Denn ich wurde die Frage nicht los: Was, wenn ich nicht gekommen wäre. Wäre sie schön gewesen dann.
Entsprechend fragen wir uns, als Kinder, ob wir gesehen werden, wenn wir uns die Augen zuhalten, und später rätseln wir, welchen Einfluss es auf uns nimmt, wenn wir „gesehen“ werden. Denn unsere Persönlichkeitsentwicklung wäre ohne Fremdwahrnehmung gestört, eigentlich gar nicht vorstellbar – so wie auch Kunst ohne Vorstellung und Wahrnehmung gar nicht existieren kann.
Unser Wissen um das nicht Wahrnehmbare im Leben ist, siehe Claudius, (Mit-)Voraussetzung für eine im emphatischen Sinne menschliche Existenz. So können wir Vieles, weil wir es nicht wissen und nicht wahrnehmen können, nicht entscheiden. Entscheiden wir uns dennoch, so tun wir es oft spekulativ und auf mangelnder Grundlage. Der Künstler hingegen, den Magdalena Saiger uns schildert, orientiert sich umfassend über „[s]ein Tun“. Risiken muss gleichwohl auch er eingehen: „hic sunt homines“, heißt es an einer Stelle, „ich aber suchte einen Ort, an dem es Löwen gibt.“ Dieser Roman könnte somit einem Martial gefallen haben, der den schönen Satz prägte: „dic mihi, si fias tu Leo, qualis eris?“ („Sag mir, wenn du ein Löwe wärest, wie würdest du dich gehaben?“) Man würde sich, so die Antwort (eine unter vielen möglichen), wie ein Löwe geben und ganz so tun, als ob man einer wäre: Man würde zu tun versuchen, was ihm entspricht, und damit das Löwesein erproben, die Identität mit sich selbst und die Erfüllung suchen, die einem als Mensch nie ganz gelingt. So wie ein pelziges Tier, das auf einem warmen Fels von einem schönen Fell träumt (und es auch bekommt).
Ähnlich träumt der Künstler vom Absoluten, vom Numinosen und vom Vollkommenen, in diesem Fall von einem „Perpetuum immobile“, das sich, vom „unbewegten Beweger“ inspiriert, vom „ewig Bewegten“ emanzipiert und zur ewigen Ruhe findet. Ähnelt das nicht dem Lebensweg schlechthin: dem Weg vom Anfang des Lebens, durch es hindurch, zu seinem Ende? Und gleicht unser Nachleben nicht Theseusʼ Totenreich auf Kreta, bei Knossos, wo das Labyrinth ureinst (in mythischer Ferne) gelegen haben soll?
Nur aus mythischen Erzählungen wissen wir davon, und auch Giacometti erzählt vom namenlosen Dorf in fast mythischer Weise, als sei es das untergegangene Troja: „Ein Wort / einen Stein / einen Ast / legte er zusammen, legte Sätze nach wie Zweige ins Feuer, so wuchs das Dorf, so klebte sich eins zum andern, so lebte das Dorf.“ Wollte man nach Vorbildern in der Wirklichkeit graben, die Ähnliches vermochten, so würde ich bei Giacometti zuallererst an Peter Kurzeck denken, der – wohlstrukturiert – das Dorf seiner Kindheit zu erzählen wusste: Schöner noch als seine Romane (fast) sind seine zauberhaften Hörbücher, die mit großem Ernst, doch nicht ohne Witz eine Welt von Gestern heraufbeschwören.
Und bei dem (dargestellten) Künstler würde ich an Dieter Roth denken, der sich auch Diter Rot schrieb (und etliche Namensvarianten mehr in petto hatte), der einst (1995) mit einer unvorstellbaren Rauminstallation in der Wiener Secession gewürdigt wurde, ein Gesamtkunstwerkler, der begehbare Bilder riesigen Ausmaßes schuf, eine ganze Welt innerhalb der Welt, einen Kosmos für sich. Ganze LKW-Ladungen Materialien mussten herangekarrt werden, um die Wiener Räumlichkeiten umzugestalten und auszukleiden.
Der Künstler-Architekt, der in Saigers Roman eine vergleichbar komlexe und aufwendige Papiermaschine erschafft – winzig ist sie nur im Vergleich mit dem Nachthimmel –, die er „mit niemandem auf der Welt zu teilen bereit“ ist (bloß die Gegenwart Giacomettis muss er im Prozess ihrer Entstehung billigend in Kauf nehmen), reiht sich in die lange Phalanx der Künstler ohne Werk ein, wenn er für den Verbleib seiner Kunst (und seiner selbst) eine Lösung sucht – und schließlich auch findet. Diese „Lösung“ (und Loslösung, Ablösung, Auflösung) entspricht in letzter Konsequenz einer Tilgung und damit einer Erkenntnistheorie, der zufolge eine Welt nur existiert, soweit und solange sie auf eine Denkungsart trifft, auf Wahrnehmung, Einschätzung, Deutung, Dialog. In diesem Sinne existiert auch Literatur nur, sofern und soweit sie gelesen wird – Bücher, die nur ihrem Autor ‚erschienen‘ sind, sich als nicht markttauglich erweisen, makuliert werden müssen, wieder zur Papiermasse werden, um recycelt und erneut Schriftträger zu werden, gibt es weiß Gott genug, obwohl sie (für Leser) nicht eigentlich existieren. Wie wird es diesem Buch ergehen? Schön gestaltet ist es jedenfalls – von der Buchgestalterin und Papierkünstlerin Maja Bechert. Die Einsamkeit und Zurückgezogenheit des Erzählers, seine „Rekluse“ (respective Inkluse) in einem aufgelassenen Gebäudekomplex, harmoniert zudem optimal mit der gekammerten Schale des Nautilus als dem Verlagssignet der Edition Nautilus.
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