Stabil unklare Dichtungen

Ulrike Almut Sandig experimentiert in „Leuchtende Schafe“ mit Wörtern und Bildern

Von Thorsten PaprotnyRSS-Newsfeed neuer Artikel von Thorsten Paprotny

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Preisgekrönt wurde die experimentelle Erzähl- und Dichtkunst, die Ulrike Almut Sandig immer wieder variantenreich, eigensinnig und überraschend vorlegt, schon mehrere Male. Auch der neu publizierte Band zeigt facettenreich den Erfindungsreichtum und zugleich unübersehbar die Grenzen der visuellen Poesie. Was Sandig dichtend vorstellt, steht in Beziehung zu Inszenierungen, ob auf YouTube-Kanälen oder anderswo dargeboten, die sich trotz der unleugbaren Sprachkraft ihrer Verse und der kreativen Gestaltung des Buches kaum oder gar nicht der Leserschaft vermitteln.

Suchtthemen werden zunächst vorgestellt. In den kreisförmigen Anordnungen der Wörter mögen die eine oder der andere in einen Sog dieser sehr speziellen Poesie geraten – oder schlicht ratlos außen vor bleiben, wenn die Dichterin von Alkoholismus und Depressionen berichtet. Zweifellos verfügen diese Gedichte über eine nahezu elementar anmutende Wucht, die dennoch ratlos macht:

O

heut Nacht

bin ich
aufgewacht

weil ich so
plötzlich und
vor allem

ohne Grund
erwacht
war

Hier mag die Dichterin eine Art inwendiger Leere nachzeichnen, die grundlos auftritt, zu unsagbar schockierenden Wachzuständen in der Nacht zu führen scheint, aber gewissermaßen in der Plötzlichkeit des Schreckens verbleibt, die lesend eher zur Kenntnis genommen wird, als dass sie zu erschüttern weiß. Ein poetischer Eindruck verbleibt, aber das grundlose Erwachen in der Nacht, das hier auf eine depressive Stimmung hindeutet, tritt auf in einem karg formulierten Gedicht. In der Folge werden diese nächtlichen Wachzustände immer wieder neu beschrieben, mit anderen Akzenten versehen, als schmerzhaft gedeutet. Eine Person vermag nicht mehr friedvoll zu schlafen. Die Plage, die dieses lyrische Ich erlebt, wird sichtbar, erweckt jedoch kaum das Mitgefühl derer, die nachzuvollziehen versuchen, warum solches Leid – „weil mir alles wehtat“ – lyrisch dargeboten wird.

Auch in anderen Gedichten und Gesängen werden rätselhafte Wendungen gegenwärtig: „Ich habe so viele Wörter in mir / wie ihr Wörter habt, in exakt derselben Anzahl“. Doch selten nur erschließt sich, was überhaupt ahnungsvoll gemeint sein könnte, wenn Ulrike Almut Sandig über „Götterlein“ nachsinnt, von trostlosen Kirchen und ins Leere gehenden Gebeten berichtet, die so lang sind „wie dreihundert Jahre Vaterunser in Schleife“. Möglicherweise werden hier seelische Abgründe sichtbar, möglicherweise sind auch nur Sprachbilder vorgestellt, eindrucksvoll dargeboten und weithin unklar zugleich. Am ehesten anschaulich werden bittere Schulstunden, etwa der Sportunterricht, der vor Augen tritt, wenn von der „Turnstunde eines parteilosen Gottes“ berichtet wird. Erwogen werden mag, ob die Lyrikerin nun tatsächlich mit solchen Versen, die wie nebelhafte Erinnerungen wirken, Erfahrungen bezeichnen möchte. Doch lesend bleiben wir fast immer im Stadium des Rätsels:

es gibt nicht das Erste ohne das Zweite.

und alles hing an diesen Menschen: der Sprung, die Erde,
der Himmel.

es gibt nicht den Turnlehrer ohne die Klasse.

es gibt nicht den Ersten ohne die Letzten.

Und alles hing an diesem Himmel: die Menschen, der Sprung,

die Erde.

Was immer gesagt sein mag, über Rhythmus und Melodik verfügen diese Gedichte durchaus, auch wenn inmitten der dräuend anmutenden Lyrik kein klarer Gedanke ersichtlich wird. 

Mitleidvoll wendet sich Ulrike Almut Sandig dem traurigen, psychisch kranken Friedrich Hölderlin zu und folgt den Spuren seiner Gedichte, die sie poetisch ergänzt und erweitert. Sie wünscht ihm, so scheint es, einen friedvollen Schlaf und Ruhe in den irrlichternden Gedanken. Doch wer hätte ihm dies verschaffen können? Eine wunderliche Antwort erhalten wir: „sag: leuchtende Schafe, leuchtende Schafe / leuchtende Schafe, Friedrich, und jetzt / schlafe / ein.“ Die Dichterin erläutert am Ende selbst, wie sie ihr Gedicht über Hölderlin versteht und verstanden wissen möchte. Es sei ein „Wiegenlied für die Schlaflosen, die von den großen Ideologien Enttäuschten, die Alleingelassenen unseres eigenen Jahrhunderts“.

Zu allen Versen legt Sandig knappe Gedanken, Hinweise und Erläuterungen vor, die für manche lichtreich und gedanklich erhellend sein mögen – doch insgesamt hinterlassen diese formal sicher gekonnt arrangierten Verse nur Fragezeichen. Ulrike Almut Sandig stellt also eine Form visueller Poesie vor, klangvoll und ganz und gar rätselhaft. Anders ausgedrückt: Es bleibt einfach bloß stabil unklar und damit unsichtbar, was mit diesen Gedichten visualisiert werden soll.

Titelbild

Ulrike A. Sandig: Leuchtende Schafe. Gedichte.
Schöffling Verlag, Frankfurt a. M. 2022.
112 Seiten, 26,00 EUR.
ISBN-13: 9783895611827

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