Der Kindergärtner und sein Blumengarten

Thomas Sandoz erzählt eine Familiengeschichte der ganz anderen Art

Von Eva UnterhuberRSS-Newsfeed neuer Artikel von Eva Unterhuber

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Sie kommt an einem Morgen im Februar. Er hat schon einiges durchgemacht, stürzt nach ihrer Ankunft in noch größere Isolation. Sie liegt im unteren Teil des Friedhofs. Eine verfluchte, für Kinder reservierte Stätte ohne eigentliche Abgrenzung.“ Sie, das ist der letzte Neuzugang bei den Kindergräbern des städtischen Friedhofs. Und er, der dieses Mädchen fortan liebevoll Primel nennen wird, ist der Protagonist in Thomas Sandoz’ Roman Ruhe sanft, ein Friedhofsgärtner, dem diese Abteilung seit Kurzem zur Betreuung überantwortet ist. Wie sein Name lautet, erfährt man nicht, sein Alter kann man nur erahnen und wo genau er lebt, bleibt offen. Was man dagegen über ihn erfährt, ist, dass er ein Gezeichneter ist, ein Mann mit einem schweren Schicksal, das ihn zu einem scheuen, wortkargen Einzelgänger gemacht hat. Dass er nun als Friedhofsgärtner tätig ist, war eine Entscheidung des Zufalls, doch er nimmt seine Verantwortung sehr ernst und sorgt sich aufopferungsvoll um die ihm anvertrauten Schützlinge.

Denn als solche betrachtet der „Kindergärtner“ die allzu früh Verstorbenen und seine Sorge für sie erschöpft sich nicht allein in einer zärtlichen Namensgebung – er nennt sie Hyazinthe, Pfingstrose, Anemone, Lavendel – oder einer aufwendigen Grabpflege. Sein Bemühen geht viel weiter. Tatsächlich fühlt er sich für die Toten in einem solchen Maße verantwortlich, dass er ihnen nun, da sie schon dahingegangen sind, all das geben will, was ihnen und vermutlich auch ihm selbst im Leben versagt geblieben ist: ein unbeschwertes Aufwachsen, Liebe, Geborgenheit und Fürsorge. Er bringt ihnen Spielzeug und Geschenke, macht sich Gedanken über ihre Ernährung, ihre Gesundheit, ihre Erziehung, lauscht ihren Sorgen und Nöten und versucht ihre Wünsche zu erfüllen, so gut er eben kann. Dass er mit seinem unangepassten Verhalten sowohl bei Kollegen als auch bei Besuchern zunehmend aneckt, bereitet ihm dabei kein Kopfzerbrechen. Die anstehende Umstrukturierung des städtischen Friedhofs dagegen schon, denn sie bedroht unmittelbar sein mühevoll erschaffenes Refugium. Und so beschließt er, ‚seinen‘ Kindern ein neues Zuhause zu geben, das ihm erlaubt, sich noch intensiver um sie zu kümmern, und macht sich daran, diesen Plan auch in die Tat umzusetzen.

Spätestens an diesem Punkt des Romans ist für Sandoz’ LeserInnen offenkundig, dass das Verhalten seines Protagonisten von Wahn und Illusion diktiert ist. Nichtsdestotrotz gelingt dem Autor das Kunststück, das Verhalten seiner Hauptfigur nicht als abwegig und absurd erscheinen zu lassen, sondern vielmehr als plausibel und stringent. Der mühelose Erzählfluss zieht tief in die gedankliche Parallelwelt des namenlosen Protagonisten hinein und erzeugt im steten Wechsel zwischen der faktischen, äußeren Realität und der imaginierten, inneren Realität der Hauptfigur allmählich ein Verständnis für den geistigen und emotionalen Zustand dieses einsamen, beschädigten Individuums – eines Individuums, das sich letztlich nur auf seine Weise zu erschaffen hofft, was ihm das Leben vorenthalten hat: die Geborgenheit einer Familie, die ihn wertschätzt und braucht, einen Blumengarten voller Kinder, um die er sich kümmern kann, soll und muss, weit über die Barriere des Todes hinaus.

Titelbild

Thomas Sandoz: Ruhe sanft. Roman.
Übersetzt aus dem Französischen von Yves Raeber.
verlag die brotsuppe, Biel/Bienne 2018.
133 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783038670100

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