Der Erzähler im Netz

Christina Schachtner untersucht die Aussagen von Erzählern, die die digitalen Medien als Instrumente und Bühne des Erzählens nutzen

Von Sebastian MeißnerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Sebastian Meißner

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bei der Studie Kommunikative Öffentlichkeiten im Cyberspace der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt richtete sich das Forschungsinteresse auf die kommunikativen Praktiken, die Netzakteur_innen und Blogger_innen im Alter zwischen elf und 32 Jahren in der Internetöffentlichkeit entfalten sowie auf die in diesen Praktiken angelegten Subjektkonstruktionen. Doch Christina Schachtner, Professorin für Medienwissenschaft, entdeckte in den empirischen Quellen, Interviews und Visualisierungen noch mehr als das. Die Daten transportieren Geschichten, „die sich sowohl auf den Lebensort Internet als auch auf Lebenswirklichkeiten jenseits des Netzes beziehen, die nicht nur das Jetzt, sondern auch das Gestern und Morgen thematisieren und die die ermittelten Praktiken und Subjektkonstruktionen in einen übergreifenden narrativen Zusammenhang stellen.“

Für „Das narrative Subjekt. Erzählen im Zeitalter des Internets“ hat Schachtner nun eine Zweitauswertung der empirischen Daten durchgeführt, diesmal mit Blick auf die Forschungsfrage: Welche Geschichten erzählen netzaffine Jugendliche und junge Erwachsene aus verschiedenen Teilen der Welt in der heutigen Zeit? Nun, es sind Geschichten, die unter anderem von Vernetzung, Verwandlung, Grenzmanagement und Aufbruch handeln. Geschichten, die auf Fragen, Bedürfnisse, Ängste und Sehnsüchte verweisen, mit denen sich Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene in verschiedenen Regionen der Welt angesichts des weltweiten gesellschaftlich-kulturellen Wandels konfrontiert sehen.

Aufgeteilt in sechs schlüssig aufeinanderfolgende Kapitel führt Schachtner ihre Leser durch ihre Erkenntnisse. Ausgehend von der Idee des Erzählens als Kultur- und Lebensform, die „tief in die Menschheitsgeschichte eingelassen ist“, unterscheidet die Autorin zwischen der Funktion des Erzählens als Technologie der Selbstkonstruktion einerseits und des Erzählens als Öffnung zum Du andererseits. Diese Trennung überträgt sie anschließend auf die besonderen Strukturmerkmale digitaler Medien (hier: Vernetzung, Interaktivität, Globalität, Multimedialität und Virtualität). Aus den Gesprächen filtert Schachtner nun Textpassagen, in denen die Befragten über ihre Motive sprechen, etwa im Bereich der Selbstinszenierung. Ihre Interpretationen dieser Äußerungen sind nachvollziehbar und aufschlussreich. So deckt Schachtner auf, womit sich die Netzakteure und Blogger – allesamt Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene – beschäftigen. Schachtner zieht Parallelen zu soziologischen Modellen, zu George Herbert Mead, Alfred Schütz, Marshall McLuhan, Hannah Arendt, Ludwig Wittgenstein und anderen. Wir lesen zum Beispiel über Blogger, die Produkte von Unternehmen anpreisen (etwa Headsets oder Games) wenn sie diese anschließend behalten dürfen, die auf ihren Plattformen aber auch Produktideen und Mitmachaufrufe teilen. Damit weisen sie weit über klassische Werbeformen hinaus und verändern Erwartungshaltungen grundlegend. Auch erfahren wir von Blogerin, deren Nickname sie aus einer Manga-Serie entlehnt hat – in der Hoffnung, damit auch die positiven Eigenschaften des Comic-Charakters zu adaptieren.

Es sind Geschichten wie diese, die zeigen, wie vernetzt und frei von herkömmlichen Regeln Erzähler im Internet operieren. Doch nicht nur der Erzählinhalt, sondern auch die Erzählformen und -absichten wandeln sich. Hierzu tragen Schachtners Analysen wertvolle Erkenntnisse bei. „Das narrative Subjekt“ ist eine hilfreiche Bestandaufnahme, die auch als Ratgeber taugt.

Titelbild

Christina Schachtner: Das narrative Subjekt. Erzählen im Zeitalter des Internets.
Transcript Verlag, Bielefeld 2016.
245 Seiten, 32,99 EUR.
ISBN-13: 9783837629170

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