Heimat, deine Sterne?
Susanne Scharnowski will Missverständnisse um die Heimat aus dem Weg räumen, endet aber auf der eigenen Scholle: „Heimat. Geschichte eines Missverständnisses“
Von Walter Delabar
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseWas hat es nur mit der Heimat auf sich, dass sich jeder daran vergreift? Der Begriff wird politisch instrumentalisiert, um gegen die Migrationspolitik der Bundesregierung zu polemisieren oder denen da oben zu zeigen, wer hier eigentlich wirklich das Sagen hat. Heimat wird als energiepolitische Phrase verwendet, um wahlweise gegen Windparks, Stromtrassen oder Braunkohleabbaugebiete zu protestieren. Wie spätestens die kürzlich erschienene Abhandlung Heimat. Geschichte eines Missverständnisses der FU Berlin-Mitarbeiterin Susanne Scharnowski zeigt, hat er gar eine prominente Rolle bei den neuerdings wieder entflammenden Stadt-Land-Debatten. In diesen verwehren sich die Peripherien bekanntermaßen dagegen, von den Zentren wahlweise abgehängt, unterversorgt, vernachlässigt oder nicht ernst genommen zu werden respektive ausbaden zu müssen, was sich die in der Stadt mal wieder ausgedacht haben (Wölfe, Windparks, ja selbst Fahrverbote in den urbanen Zentren, aber das ist ein anderes Thema).
Nun ist Heimat ein prominenter, vielleicht sogar sehr deutscher Begriff, der in der wohl nie endenden Auseinandersetzung um Modernisierung von Gesellschaft seit dem Ende des 18. Jahrhunderts eine außerordentliche Rolle spielt. Um Scharnowskis historische Skizze Heimat. Geschichte eines Missverständnisses zusammenzufassen, markiert er seit dem beginnenden 19. Jahrhundert die Verlusterfahrungen und -ängste, die durch den Umbau von Gesellschaft zwangsläufig auftreten – was ihn nur wenig extraordinär macht, denn das hat es in allen Industrieländern gegeben, wie ja dort auch irgendeine Variante des Heimatbegriffs zu finden ist. Tauglicher wird er dadurch nicht.
Dass es Reaktionen auf die Modernisierung von Gesellschaft gibt, ist aber auch nachvollziehbar, denn binnen 100 Jahren wurden aus vorwiegend ländlich und agrarisch geprägten Gesellschaften Industrie-, Massen- und Konsumgesellschaften, ein Prozess, in dem umständehalber wenig unberührt gelassen wurde, was sich innerhalb der jeweiligen Landesgrenzen befand. Was dann auch bei Scharnowski eine Reihe von Defiziten provoziert, die im Großen und Ganzen nach Zustimmung heischen: die Entlassung aus traditionellen Bindungen, die Entfremdung von der eigenen Arbeit, das Zerreißen zwischenmenschlicher Beziehungen, die Vernichtung des natürlichen Lebensraums des Menschen, die Zerstörung von Kulturen und Traditionen bis hin zur Vernichtung von Umwelt, Natur und Gemeinschaft. Als „transzendentale Obdachlosigkeit“ hat seinerzeit Georg Lukács den Generalnenner dazu angezeigt, der freilich für Scharnowski keine Rolle spielt.
Was also als Befreiungsversprechen – von wahlweise Sklaverei, Knechtschaft, Ausbeutung, Zwangsherrschaft, Hunger und Not – begonnen haben mag, ist also, wenn man der Darstellung Scharnowskis folgen will, in größerer Not und tieferem Elend geendet, die das Bedürfnis nach Schutz, Geborgenheit und Wärme, nach Gemeinschaft, mithin ‚Heimat‘ geweckt und verstärkt haben soll. Die Bilanz des unbedingten Glaubens an den Fortschritt, der die Modernisierung und damit den radikalen Umbau der Gesellschaft gnadenlos vorangetrieben habe, sei grundsätzlich negativ, im Übrigen bis heute. Denn die zerstörerische Wirkung der gesellschaftlichen Modernisierung hat für Schwarnowski mit der Etablierung der Industriegesellschaften nicht haltgemacht, sondern ist auch über die folgenden 100 Jahre weiter vorangetrieben worden, bis hin zu jenen Digitalnomaden, die vorgeblich in unserer Gegenwart den Ton angeben und die die totale Befreiung von allen Bindungen propagierten. Zurückgelassen würden nur jene provinziellen, an den ländlichen Randgebieten verbliebenen Modernisierungsverlierer, die nicht nur von allen gesellschaftlichen Gratifikationen abgehängt sind, sondern sich auch noch aufgrund ihrer demonstrativen Sesshaftigkeit faschistoide Tendenzen vorwerfen lassen müssten. Wie sich alles, was Ländlichkeit, Sesshaftigkeit, Bindung, Verlässlichkeit, mithin Heimatverbundenheit bevorzuge, nach Scharnowski anscheinend dem NS-Vorwurf ausgesetzt sehe. Die Liste wäre im Übrigen beinahe beliebig zu ergänzen.
An der Legitimität des Heimatgefühls aber lässt Scharnowski keinen Zweifel, wobei Heimat für sie an den grundsätzlich ländlichen Ort gebunden bleibt und bleiben soll, an dem der autochthone Mensch angesiedelt ist und verbleiben will. Heimat, dekretiert sie demonstrativ, sei kein Gefühl, sondern ein Ort, der spezifische Gefühle wie Geborgenheit auslöse, aber zugleich nur bedingt der Gestaltungsfähigkeit der Subjekte überlassen. Heimat muss also nicht zwingend der Ort der Geburt oder der Kindheit sein, kann aber auch nicht beliebig verlegt werden, will sie sich nicht den urbanen Nomaden ausliefern. Heimat, in Scharnowskis Augen, ist ans Land gebunden, an den Boden, an die Peripherie. „Erde, Boden, materielle Realität, kurz: Heimat“ ist die Formel, auf die Scharnowski sich im Lauf ihrer Abhandlung mehr und mehr fokussiert, garniert mit ein wenig Spiritualität, wie die Exkurse in die neueren Heimatkonzepte aus den USA demonstrieren. Am Ende hockt der heimatverbundene Mensch auf seiner Scholle, baut sein Kraut an und meditiert. Wenigstens aber geht er ganz auf im Hier und Jetzt, unbelästigt von unnötigem Tand wie Supermarkt, Internet oder dem Cappuccino von der Kaffeebar nebenan.
Heimat polemisch verzerrt und Scharnowski missverstanden? Mag sein, aber das nur zur besseren Kenntlichkeit, denn Scharnowski spitzt mit den fortschreitenden Seiten nicht nur die vorgebliche Diskreditierung von Heimat und Heimatverbundenen mehr und mehr zu, sie wechselt auch den Gestus, weg von einer historisierenden Beschreibung der Verwendung des Heimatbegriffs hin zu einem Plädoyer für einen Ausstieg aus Fortschrittsgläubigkeit, Technikoptimismus und der Idee, die Probleme der Modernisierung durch noch bessere Modernisierung lösen zu können.
Fangen wir bei der Fortschrittsbilanz an: Keine Frage, dass die Modernisierung der Gesellschaften seit dem 18. Jahrhundert angesichts von Kriegen und der Unterdrückung, Entrechtung und Ausbeutung ganzer Bevölkerungsschichten keineswegs als strahlender Erfolg daherkommt. Allerdings stehen dem zumindest für die Industriegesellschaften Erträge gegenüber wie die weitgehende persönliche und politische Selbstbestimmung, unabhängig von Geschlecht, Alter, Nationalität oder Hautfarbe, die Überwindung der wirtschaftlichen Notversorgung, die noch das frühe 20. Jahrhundert bestimmte, die deutlich verbesserte Lebenserwartung jedes einzelnen, eine für Europa immerhin unerhörte Friedensphase von 75 Jahren (was leider nur bedingt stimmt), und dergleichen mehr. Wer die zwangsweise Unterwerfung unter traditionelle Herrschaftsstrukturen grundsätzlich den Risiken von Selbstbestimmung vorzieht – und das scheint Scharnowskis Schrift auszusagen–, für den hat die Moderne nichts vorzuweisen. Für den sind zudem alle Versuche, die Defizite und teils katastrophalen Mängel der heutigen Gesellschaften zu beheben, vergeblich und zielen ins Leere.
Die Umweltprobleme, die die Industrialisierung geschaffen habe, seien durch eine Ökoindustrialisierung nicht zu lösen, dekretiert Scharnowski – dabei hat sie die Grünen auf dem Kieker, weil deren Klientel besonders gerne mit dem Flieger unterwegs sei. Nur durch eine Rückbesinnung auf die Basics menschlicher Existenz, auf Tradition, auf Kultur (das ist besonders hübsch deutsch) könne es so etwas wie Rettung geben, wobei dann alles herhalten muss, was seit Schumachers Small is beautiful (1973) durch den Bücherwald gerauscht ist. Zurück also zu sich selbst, zur Natur und zu eigenem Grund? Und das für ein Land von Mietern? Viel Spaß.
Für jemanden, der die „Missverständnisse über die Heimat“, die ja zumeist auf „Verengungen oder Verzerrungen der Perspektive, der Vereinfachung oder Ausblendung von Sachverhalten und Begriffsvermischungen“ beruhen sollen, hat ausräumen wollen, ein erstaunliches Ergebnis. Denn Scharnowskis Skizze der Modernisierung und ihrer Folgen beruht gerade auf einer Reihe von narrativen Operationen, die sich durch Verengungen, Zuspitzungen und unzulässigen Verallgemeinerungen auszeichnen.
Das fängt eigentlich ganz unverfänglich an, denn sicherlich ist ihr zuzustimmen, dass Heimat immer dann Thema wird, wenn ihr Verlust ansteht respektive wenn ein Gegengewicht zur Fremde vonnöten ist. Auswanderer, die sich ihrer Heimat vergewissern wollen? Kein Thema.
Selbst in der Heimatkunstbewegung der 1890er Jahre lassen sich solche Momente finden, die zwar ihre politisch desaströse Bilanz nicht aufheben, aber immerhin die Ankerpunkte erkennen lassen, an denen die Protagonisten der Heimatkunst ihre Kritik der Moderne ansetzen. Aber dass es der Heimatbewegung (nicht der Heimatkunstbewegung!) nicht um die „Verteidigung der Heimatidee“ gegangen sei, „sondern vor allem um konkrete, lokalisierbare Phänomene“, darf bestritten werden. Ein Blick in den Basistext der Heimatkunstbewegung, Julius Langbehns Rembrandt als Erzieher (1900) hätte das gezeigt. Dass auf der anderen Seite Romane wie Gustav Frenssens Jörn Uhl (1901) oder Wilhelm von Polenz’ Der Büttnerbauer (1895) keine heile Fortschrittswelt oder naive Bauernszenarien zeigen, sondern die Bedrohungen, die von einem sich globalisierenden Markt ausgehen, suspendiert nicht den Generalbass der Heimatkunstbewegung. Und Frenssens Peter Moors Fahrt nach Südwest (1906) mag zwar für das Heimatverständnis in Deutschland aufschlussreich sein, bleibt aber dennoch ein Roman über einen der großen Massenmorde der Kolonialmacht Deutschland (was Scharnowski irgendwie unter den Tisch fallen lässt).
Spätestens aber, wenn es in die Nachkriegszeit geht, bekommt ihre Darstellung einen Haken: Sie beklagt die Durchsetzung des Konzepts der autogerechten Stadt und die damit verbundenen Bausünden etwa in Hannover (betrieben von einem vormaligen Albert Speer-Mitarbeiter, pfui). Sie begrüßt, dass in der Frankfurter Innenstadt das „brutalistische Technische Rathaus“ (1974 erbaut) einer Rekonstruktion der historischen Bebauung weichen musste, um der Stadt „einen Teil ihrer durch Krieg und Stadtplanung der Nachkriegszeit zerstörten Identität zurückzugeben“ (wenn denn Identität vorrangig durch Krieg und Städtebau Schaden genommen hätte). Dass es in der Nachkriegszeit immerhin diskussionswürdige Neuansätze gab, die den Ballast einer künstlich angedickten, ideologisch verworfenen und in Vielem auch belasteten Tradition abwerfen wollte, bleibt außen vor. Man wird Le Corbusier aus heutiger Sicht nicht vorbehaltlos akklamieren, aber die Gründe, aus denen seine Konzepte lange Jahre aufgenommen und diskutiert wurden, lassen sich mit einem – ja – kruden Identitätsargument nicht vertreiben.
Schließlich arbeitet Scharnowski die Legitimität der Traditionspflege der Heimatvertriebenenverbände heraus und verwahrt sie entschieden gegen ihre Kritiker, die ihnen politische Rechtslastigkeit nachsagten. Ja, immer wieder lässt Scharnowski auch Hinweise darauf zu, dass es im Kontext der Traditionspflege auch schon einmal politisch inakzeptable Positionen gegeben hat, aber der Schwerpunkt liegt zweifelsohne darauf, die Heimatverbundenheit als demonstrativ legitim bestehen zu lassen. Von dort zu den Heimatverbundenen, die sich dem Schutz der Natur, der Landschaft und der Umwelt verschreiben, ist es nicht weit. Und dagegen kann keine Energiewende und kein Ökotechnizismus etwas ausrichten, ganz im Gegenteil. Heimat schlägt für die Autorin einfach alles, was es an Schaden und Ungeheurem, das in seinem Namen verübt worden ist, aufzuzählen gibt.
Vielleicht ist das auch der Grund, weshalb Scharnowski zur Weimarer Republik wenig mehr einfällt als der Hinweis, dass Berlin seinerzeit wohl die unbeliebteste Stadt Deutschlands gewesen sei (was gleichfalls bezweifelt werden kann), und eine Exegese von Hans Grimms verhängnisvollem Kolonialroman Volk ohne Raum (1926), dessen Titel zum Schlagwort der NS-Propaganda wurde, obwohl er doch einen durchaus kritischen Blick auf die deutsche Heimat zu werfen verstanden habe. Von dort bis zur Heimat im Dritten Reich, die den exponierten Repräsentanten zwar keine größere Verwendung wert gewesen, aber in der Propaganda hilfreich gewesen sei, ist es kein großer Schritt. Ein Korrektiv wie Kurt Tucholskys Verteidigung des von ihm heftig kritisierten Deutschlands eben doch als Heimat, wie sie sich in Deutschland, Deutschland über alles (1929, gemeinsam mit John Heartfield) findet, passt da wohl nicht hin.
Aber eine einigermaßen ausgewogene Diskussion der Kompensationsbemühungen, die die Modernisierung seit ihren Anfängen begleiten (und die in Heimat – man muss das leider wiederholen – eben nicht aufgehen), ist wohl von jemanden nicht zu erwarten, für den die Bauernbefreiung zu Beginn des 19. Jahrhunderts „gewissermaßen aufgezwungene […] Freiheiten“ sind „mit keineswegs nur günstigen Auswirkungen“. Für jemanden, der Bindungen grundsätzlich über die eben auch riskante Selbstgestaltung der Individuen stellt, kann jeder „Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“ nur in Verlustanzeigen münden. Und diese aufzulisten, ist sich Scharnowski nicht zu schade.
Auch ihre weiter reichenden Belege sind nicht einmal geschickt gefiltert. Der Umstand, dass der größere Teil der bundesdeutschen Bevölkerung wohl nur selten umzieht und dann auch stets in der näheren Umgebung bleibt, sagt erst einmal wenig über die generelle Heimatverbundenheit von Bevölkerung aus oder auch ihrer Orientierung auf eine ländliche Heimat.Denn solche Zahlen lassen sich auf urbane wie rurale Bevölkerungen beziehen.
Sie können zudem nicht verdecken, dass es im Rahmen der Industrialisierung, aber eben auch der Kriege seit dem 19. Jahrhundert zu zahlreichen Migrationsschüben gekommen ist (Scharnowskis Heimatvertriebene gehören dazu, sind aber lang nicht die einzigen). Die Bevölkerung Deutschlands ist seit dem frühen 19. Jahrhundert eben nicht nur gewachsen, sie ist auch gewandert. Schimanski ist nicht ohne Grund ein ‚guter alter deutscher Name‘. Dass die Arbeitsmigration unter Deutschen in der jetzigen Generation gegebenenfalls gesunken ist, mag sogar stimmen, aber was heißt das genau in Bezug auf Heimat?
Am Ende bleibt ein unscharfes Gebilde, in dem jeder genau das erkennen mag, was er darin zu sehen wünscht. Der Blick auf die vermeintlich größeren Zusammenhänge (die dann einen spezifischen Ausschnitt bilden) hat bei Scharnowski nicht zu mehr Klarheit, sondern nur zu dem Attest geführt, dass mit der ganzen Moderne etwas nicht in Ordnung ist, wenn nicht alle in ihr glücklich und zufrieden sind. Was sie nicht sein können, weil sowieso alles dem bösen Buben ‚Markt‘ anheimgefallen ist, der sogar Heimat zu Geld machen will. Zu Wurst, Kochbüchern und… zu wissenschaftlichen Abhandlungen. Schade, dass das alles nicht mehr rückgängig gemacht werden kann – oder, angesichts dieser Lektüre: Gott sei Dank.
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