Und was ist mit der literarischen Dekadenz?
Hartmut Scheible legt seine Studie„Literarischer Jugendstil“ vor
Von Stefan Tuczek
Schon im Deutschunterricht der Schule und auch im literaturwissenschaftlichen Studium bekommt man immer wieder gesagt, wie wichtig doch Epochen in der Literatur sind. Als Schüler und später als Student lernt man fein die zeitliche Einordnung, die Merkmale und die Vertreter auswendig. So gehört in einer schön geordneten Literaturwelt Johann Wolfgang Goethe zum Sturm und Drang und zur Klassik, Ludwig Tieck zur Romantik, Alfred Döblin zur Neuen Sachlichkeit… Franz Kafka zum Expressionismus? Oder vielleicht doch nicht? Ist Kafka nicht doch ein Grenzgänger? Die blinde Wut der Literaturwissenschaft, jeden Autor und jede Autorin, jedes Phänomen in der Literatur ordentlich zu etikettieren und sauber in eine gedankliche Schublade zu legen, kennt keine Grenzen. Über den Sinn und Zweck kann man lang und energiereich streiten, das eigentliche Problem ist jedoch, dass man mit dieser Art von Einordnung eine Starrheit erschafft, die vielen Künstlern und Phänomenen nicht ansatzweise gerecht werden.
Dabei ist nicht die selbstgetroffene Wahl der Künstler zu einer Zuordnung in eine Epoche und ihr ästhetisches Selbstverständnis das Problem – und dies soll auch unangetastet bleiben –, sondern eine nachträgliche Etikettierung. Besonders deutlich wird dies in der Frühen Moderne, die aus Naturalismus, Expressionismus, Impressionismus, Symbolismus, Dadaismus, Futurismus, Neuer Sachlichkeit, Neoromantik, Dekadenz, Fin de Siècle und so weiter besteht. Der knappe Zeitraum von ca. 1890 bis 1933 besteht aus so vielen „Epochen“ – oder auch Strömungen –, dass eine genaue Abgrenzung und Einordnung extrem schwer fällt. Eine weitere Aufspaltung erscheint noch weniger ratsam, denn es fällt schon so schwer genug, die Epochen beziehungsweise Strömungen genau abzugrenzen und mit Merkmalen auszustatten, dass sie voneinander auch unterscheidbar werden. Genau dieses Problem stellt sich auch bei Hartmut Scheibles Studie Literarischer Jugendstil.
Scheible interpretiert diverse Schriften von Leopold Andrian, Arthur Schnitzler, Hugo von Hofmannsthal und Richard Beer-Hofmann unter dem Verdikt, dass es eine Epoche/Strömung des Literarischen Jugendstils gebe. Eigentlich kann man nichts an der Analyse aussetzen, denn die Interpretationen sind genaue und gute Beobachtungen. Aber es stört dieses Verdikt, das streng behauptet, dass es einen Jugendstil in der Literatur gibt und die besprochenen Autoren auch explizit Vertreter desselben sind. Man könnte darüber diskutieren und nachdenken, wenn es Scheible nicht versäumt hätte, genau zu beschreiben, was den Jugendstil ausmacht – vielmehr gibt es hier eine Art Negativbeweis, die Analyse und die herausgearbeiteten Merkmale sollen genau für den Jugendstil stehen. Es fällt aber auf, dass diese Merkmale, wie „Narzissmus“, „antibürgerliche Tendenzen“, „psychologische Vexierspiele“ oder auch „Ich-Ausweitung und -Eingrenzung“ auch für die literarische Dekadenz stehen, so wie es auch schon Shuangzhi Li in Die Narziss-Jugend (2013), Wolfdietrich Rasch in Die literarische Décadence um 1900 (1986!) oder Caroline Pross in Dekadenz (2013) herausgearbeitet haben. Der Unterschied von Jugendstil und Dekadenz ist kaum gegeben, sodass der Epochenbezeichnung die Existenzberechtigung abgesprochen werden kann. Ist es nötig, die Frühe Moderne in klein- und kleinstteilige Strömungen aufzuspalten, die kaum noch Unterscheidungsmöglichkeiten bieten, nur damit man unter anderem näher an der bildlichen Kunst – gemeint ist also der Jugendstil in der gemalten Kunst – dran ist und so einen Brückenschlag machen kann, genau wie Scheible es macht? Das erscheint löblich, aber nicht unbedingt sinnvoll.
Die Kritik gilt also weniger dem Inhalt, sondern wirft vielmehr die Frage auf, ob es für die Studie notwendig ist, zu versuchen, einen Literarischen Jugendstil zu etablieren. Auch wenn der Titel vorrangig angibt, sich genau mit diesem zu beschäftigen, fällt auch hier auf, dass der nur zu einem Drittel zutrifft, da es zwei weitere größere Abschnitte gibt, die sich eben nicht primär mit diesem propagierten Jugendstil, sondern mit politisch-ästhetisch-poetischen Fragen im Werk von Schnitzler und Carlo Goldoni – hier vermehrt nach der Commedia dell’Arte – beschäftigen. Auch diese Abschnitte bieten gute Beobachtungen, bringen den Leser aber nur marginal weiter in der Frage, ob es einen Jugendstil gibt oder nicht.
Scheibles Studie funktioniert in seinen Einzelanalysen recht gut, wenn man die Epochen-/Strömungsfrage ausblendet. Dennoch gemahnt die Studie daran, dass die Literaturwissenschaft ihren Epochen-/Strömungsordnung komplett überdenken sollte. Möglich wäre erstens, das Schubladendenken radikal abzuschaffen und sich nur individuell mit den Künstlern zu beschäftigen, ohne nach zeitgestaltenden Merkmalen zu fragen. Alternativ könnte man zweitens Begriff „Epoche“ abschaffen und an seiner Stelle uneingeschränkt „Strömung“ setzen, der fließendere Übergänge und Überschneidungen zulässt. Drittens könnte man beim starren Kastenbegriff der Epoche bleiben, der zwar eine Orientierung erlaubt, aber individuellen Spielarten kaum Platz einräumt und den Pluralismus von literarischen Versuchen und Spielen zugunsten einer Überschaubarkeit reduziert, aber bei Überscheidungen ins Straucheln gerät. Diese Ideen sind überhaupt nicht neu, sollten aber unbedingt neu überdacht werden. Scheibles Arbeit gibt hierfür den Anstoß.
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