Schicksale aus Mariupol

Wie schreibe ich über das, wofür ich keine Worte finde? Wie schreibe ich über den Krieg, den Russland gegen meine Mutter, meinen Bruder, meine Freunde und Bekannte sowie Millionen von friedlichen Menschen in der Ukraine führt?

Von Natalia Blum-BarthRSS-Newsfeed neuer Artikel von Natalia Blum-Barth

Was schreibe ich über den Krieg: Dass ich Angst habe, auch wenn der Luftalarm nur im Telefonhörer erklingt, während ich mit meiner Mutter telefoniere, dass mein fünfjähriger Sohn sich zum Geburtstag wünscht, dass der Krieg vorbei ist, dass ich den Mut und die Aufopferungsbereitschaft meiner Landsleute bewundere, dass ich die Tränen nicht zurückhalten kann, als Veronika erzählt, dass im Evakuierungszug drei Menschen auf jedem Sitz saßen und alle leise gebetet haben, als der Zug wegen Luftalarm anhalten musste und alle Lichter ausgingen? Dass ihre zweieinhalbjährige Tochter, die mit Mama und Oma bei uns Zuflucht gefunden hat, zu ihrem Vater am Telefon „Papi, nicht weinen“ sagt? Dass ihre Oma, Halbrussin, die früh verwitwet ist und ihre drei Söhne alleine großgezogen hat, diesen Krieg verflucht?

Mir fehlen Worte. Mir fehlen Worte dafür, dass in Europa im 21. Jahrhundert ein erbarmungsloser Vernichtungskrieg seit einem Monat dauert! In nur zwei Stunden Flugzeit, die Deutschland von der Ukraine und den Frieden vom Krieg trennen.

Mir fehlen eigene Worte, deshalb tue ich das, was ich seit zwei Wochen immer wieder tue: Ich übersetze. Es sind Notizen, die ein Sohn von seinen Eltern im belagerten Mariupol aus dem Keller bekam und veröffentlichte:

Mein lieber Sohn, ich schreibe dir für den Fall, dass wir bald Internetempfang haben und diese Mitteilung rausgeschickt wird. Wir sind in Ordnung. Wir haben nur Gas. Man munkelt, dass auch Gas bald weg sein wird. Wir werden pausenlos bombardiert. Strom und Wasser gibt es schon seit zwei Tagen nicht mehr. Aber wir halten durch. Heute kam XY vorbei, wir teilten das Essen. Am schlimmsten ist es, dass wir nicht wissen, was passiert. Wir lieben dich sehr und hoffen, dass es dir gut geht.

***

Guten Morgen, mein lieber Sohn! Jetzt ist es 8.20, 4. März. Wir haben noch eine Nacht überlebt. Heute Nacht haben wir kaum geschlafen, es wurde pausenlos bombardiert. Mir kommt es vor, als ob die Bomben ganz nah fallen würden. Es macht uns Angst, zu sterben und dich alleine zu lassen. Aber der Morgen ist da, wir leben. Gott sei Dank gibt es Gas. Sonst gibt es nichts. Wir lieben dich unermesslich. Pass auf Dich auf, unser Liebster!

***

Mein Sohn, jetzt ist 9.33. Wir sind in Ordnung. In der Wohnung sind 15 Grad. Aber wir haben aufgeräumt und uns dadurch aufgewärmt. Dabei dürfen wir uns über unsere Hamsterei freuen. Wir haben ein Karton mit Weihnachtsbeleuchtung, Batterien und einer Taschenlampe gefunden! Jetzt haben wir Licht. Lass uns ausmachen, dass wenn unsere Handys keinen Saft haben, du versuchen wirst, um 12.00 und 21.00 an Opas Telefon anzurufen. Wir werden es zu diesen Zeiten einschalten. Papa und ich küssen dich, bis morgen, mein Liebster!

***

Mein Sohn, mein Liebster! Wir leben und unsere Hölle geht weiter. Heute ist der 10. März. Wir haben die Nacht im Keller bei XY verbracht. Wir sind sehr dankbar, dass sie uns bei sich aufgenommen haben. Gestern war eine sehr starke Explosion, man hat etwas vom Flugzeug auf die Geburtsklinik des dritten Krankenhauses abgeworfen. Bei uns sind das Fenster in der Küche und die Balkontür rausgeflogen. Wir lagen gerade auf dem Sofa im Schlafzimmer. Wie wir später erfuhren, es war eine Bombe, deren Einschlag ein Radius von 10 Meter hatte. Wir sind in Socken in den Gemeinschaftsflur gerannt. Dann wurde uns bewusst, dass wenn es bei uns so schlimm ist, wie verheerend es dann bei Oma sein musste. Papa ist auf die Straße gerannt und schaute zu ihren Fenstern. Es gab keine Fenster mehr, die Fensterrahmen sind rausgeflogen. Wir haben in absoluter Panik Verbandsmaterial geschnappt und sind zu ihr gerannt. Zum Glück waren Oma und XY am Leben, mit irgendwelchen Tüten standen sie am Ausgang ihres Hauses, genauer seiner Ruine. Die Explosion war so heftig, dass alle Fenster, Loggien, Balkone und Türen rausgeflogen waren. Das alles fiel runter auf die Menschen. Zum Glück lebten Oma und XY. Wir schnappten ihre Tüten und begleiteten sie zu uns. Wir alle zitterten vor Angst. Unsere Häuser haben schwarze Löcher, früher waren es Fenster. Bei Mamas Nachbar, der in der Einzimmerwohnung lebte, sind auch Türen rausgeflogen.

***

Wir gingen später einige Sachen holen. Schnell schnappten wir das Wichtigste, setzten uns ins Auto und fuhren unter Beschuss und über Haufen von Glasscherben hierher. Hier übernachteten wir im Keller. Es ist sehr kalt. Alle zittern. Wir schliefen in unseren Jacken auf dem Kellerboden, auf der dünnen Decke. Wir haben irgendwelche Decken dabei, aber sie reichen für vier Personen nicht aus. Auch etwas Essen haben wir mitgenommen, das, was gekocht war. Unsere Loggia ist mit Glasscherben übersät. Heute wollen wir Lebensmittel und Anziehsachen holen gehen, aber wir konnten nicht: wieder fliegen Flugzeuge und bombardieren. Wir können nicht mal kochen, wir alle sitzen die ganze Zeit im Keller. Es ist schrecklich. Heute schlug eine Rakete im benachbarten 9-stöckigen Hochhaus ein, im 8. Stockwerk. Es ist sehr kalt, im Keller zu schlafen. Papa hat Angst um seine Nieren. Ich weiß nicht, ob wir das überleben. Wir hoffen, dir geht es gut? Pass auf dich auf, unser Liebster.

***

Wir haben genug Kartoffeln, aber können nicht kochen. Und es gibt sehr wenig Wasser. Wir hören Nachrichten und hoffen, dass man uns helfen wird. Es ist um nichts mehr schade, Hauptsache wir überleben das. Es ist sehr kalt. Aus der Wohnung haben wir Decken und meinen Pelzmantel geholt. Wir sitzen hier alle eingemummt. Alle haben sich seit über zwei Wochen nicht gewaschen. Wir sind wie Zwiebel angezogen; wir schlafen mit Mützen und Wintermäntel, jeder trägt fünf Pullis und mehrere Socken übereinander. Wir sprechen wenig miteinander, hören Nachrichten, manche spielen Karten. Gestern haben wir ein bisschen gelesen, dank Weihnachtsgirlande. Die Zeit vergeht langsam, es ist wie im Halbschlaf. Gestern half Papa XY, Fenster und Türen im dritten Stockwerk zu stabilisieren. Ich wurde verrückt, bis er zurückkam. Ich will so sehr überleben und dich in Arme schließen, mein Lieber! Gestern umarmte XY ihren XX, ich weinte währenddessen still. Aber ich bin froh, dass du jetzt nicht hier mit uns bist. Ich will, dass du lebst und glücklich wirst. Wir beten, dass nicht bombardiert wird und dass wir alle unsere Familienmitglieder umarmen können. Wir lieben dich unermesslich. Pass auf dich auf, mein Liebster. Du bist das Wertvollste, was wir haben.

***

Guten Morgen, mein liebster Sohn. Wie geht es dir? Bist du in Ordnung? Wir machen uns Sorgen um dich. In deiner Region gibt es auch Luftangriffe, wir haben in Nachrichten davon gehört. Wir hoffen sehr, dass du in Sicherheit bist. Wir leben noch. Heute ist Montag. Wir alle sitzen im Keller. Mit jedem Tag wird es schlimmer und schlimmer. Gestern riskierten wir noch, kurz in die Wohnung rein zu gehen, aber heute haben wir Angst, sogar auf die Toilette im Erdgeschoss zu gehen. Irgendwo nicht weit von XX haben unsere [Truppen] ihre Geschütze stationiert, es sind unheimliche Geräusche die ganze Zeit. Auch von der feindlichen Seite kommt immer wieder die Antwort. Am Himmel kreisen die Flieger der Faschisten. Wir haben Angst. Wir haben keine Möglichkeit zu kochen. Wir müssen das draußen, neben der Garage machen und das ist sehr gefährlich. Die Wasservorräte gehen zu Ende. Alle haben Angst, Wasser besorgen zu gehen. Wir alle essen sehr wenig. Die Portionen sind sehr klein. Papa hat immer Hunger.

***

Ich war gerade in der Wohnung, um Anziehsachen zu holen. Gestern wurde die ganze Zeit geschossen. Wir rannten und mussten Kartoffeln auf der Straße liegen lassen. Wir haben uns in einem Hinterhof versteckt. Ich hatte solche Angst. Dann lief ich in unseren Keller, meine Hände zitterten noch sehr lange, ich konnte mit Weinen nicht aufhören. Vor Angst, vor Ausweglosigkeit, um unsere Wohnung. Sie ist im schrecklichen Zustand. Wir haben kein Dach mehr über dem Kopf. Alle Scheiben sind kaputt, Fensterrahmen sind verdreht. Die Glasscherben in der Küche haben die Mikrowelle zusammengedrückt. Alle Küchenmöbel sind mit Glasscherben zerschnitten. Auf dem Balkon und in der Küche sind Fenster rausgeflogen, die Balkontür fehlt. Andere Rahmen sind noch da, aber verdreht und lassen sich nicht schließen. Plünderer können jede Zeit reinkommen. Es macht keinen Sinn, etwas dagegen zu unternehmen, es ist sehr gefährlich. Wir haben uns einige Lebensmittel geschnappt und sind schnell weg. Es ist wie es ist. Ich kann mir nicht vorstellen, was wir ohne XX machen würden. In unserer Wohnung ist jetzt 0 Grad. Seit zwei Tagen kommt das Auto mit Wasser nicht mehr. Es ist auch sehr gefährlich, in der Schlange zu stehen. Wir haben kein Holz mehr, um Lagefeuer zu machen und Essen zu kochen. Kaum jemand kocht noch, es ist zu gefährlich.

***

Mein lieber Sohn, ich schreibe Dir von Papas Telefon. Der Akku in meinem Telefon ist längst leer. Heute ist der 13. März. Wir leben noch. Ich habe länger nicht geschrieben. Wir gehen sparsam mit dem Akku um. Ich weiß nicht, womit ich anfangen soll. In welchem Inferno wir stecken, weißt du ja. Die Stadt ist, glaube ich, völlig zerstört. Neben Grady [Mehrfachstartraketensystem] und anderem Kriegsgerät bombardieren uns noch Flugzeuge. Gestern schlug eine Bombe in das Gebäude des Postamtes ein. Dort saßen im Keller viele Menschen, keine Ahnung, ob jemand überlebte. Wer soll sie rausholen? Trotz großer Lebensgefahr waren wir zweimal in der Wohnung, um Lebensmittel und Decken zu holen. Wir haben auch zwei Säcke Kartoffeln, Kekse, Süßigkeiten und Tee mitgebracht, ums uns bei XX für den Unterschlupf in ihrem Keller zu bedanken.

***

Mein Sohn, mein Liebster. Heute ist der 17. Mein Akku hat noch ein bisschen Saft. Wir sind noch am Leben, obwohl wir uns schon mehrmals vom Leben verabschiedeten. Wir sind im Inferno. Wir werden mit Grady beschossen, mit Bomben und Minen zugeworfen. Es gibt kein einziges unzerstörtes Gebäude mehr. Die ganze Stadt brennt. Wir haben sogar Angst, nur kurz den Keller zu verlassen. In der Nacht finden hier alle Nachbarn mit Kindern Zuflucht. Fast niemand schläft. Wir knien alle in unserem Keller und beten zusammen. Wir haben Angst. In unserem Auto ist durch die Druckwelle die Heckscheibe rausgeflogen. Hinter dem Auto ist ein Krater entstanden, so dass man nicht rausfahren kann. Wir wissen nicht, was morgen kommt. Werden wir überleben? Lieber Gott, warum müssen wir das alles ertragen? […]

Am 18. März konnten diese Menschen aus Mariupol evakuiert werden.

*** ***

Vor zwei Tagen schickte mir eine Schulfreundin, die in unserer Heimatstadt im Westen der Ukraine sich in der Hilfe für die Binnenflüchtlinge engagiert, folgenden Facebook-Antrag ihrer Freundin:

Ich kann nicht, darüber nicht schreiben… Es tut so weh…

Heute war ich bei den Umgesiedelten, um unsere Veranstaltung im Park der Neugeborenen zu besprechen. Vorher kommt zu mir im Erdgeschoss des Studentenwohnheimes ein Junge mit einer großen Tüte voll mit Keksen und Süßigkeiten. Er holt daraus ein kleines Tütchen mit Keksen heraus und streckt es mir entgegen. Ich sage ihm: „Danke, ich möchte nicht.“ Er hält es mir trotzdem entgegen und sagt entschieden: „Nehmen Sie es!“ Ich: „Schatz, ich bin von hier, ich bin nicht umgesiedelt.“ Der Junge: „Nehmen Sie, gedenken Sie meiner Mutter“.

Ich bin schockiert. Ich habe damit nicht gerechnet. Ich versuche, mich vor ihrem Schmerz und ihrer Traumatisierung zu schützen, aus Angst, dass meine Psyche das nicht aushält.

Aber in diesem Fall habe ich mich gezwungen, ein leises „mein herzliches Beileid“ über die Lippen zu bringen. „Ruhe sie in Frieden! Wie hieß deine Mama? Wie heißt du?“

Ich hatte den Wunsch, ihn mütterlich in den Arm zu nehmen, so wie ihn seine Mutter umarmt hätte. Der Junge war nicht dagegen, das hat mich überrascht und zu Tränen gerührt.

Mein Gott, ich schreibe das nieder und kann den Bildschirm vor Tränen nicht sehen. Tausend Fragen WARUM und WOFÜR. Oh Gott!

Ich war verwundert, dass er bereit war, zu reden, zu erzählen, jede Einzelheit der erlebten Tragödie in Worte zu fassen. Ich hörte zu, wie vom Blitz getroffen. Es war das, was es schon im Internet so schmerzvoll ist, zu sehen und zu hören.

Ich schaute in seine hellen, mit Tränen gefüllten Augen und mir kam vor, als ob ich sehen würde, wie er den Körper seiner Mutter nach der Geschossexplosion umdreht, alles versucht, um sie zu retten, den Territorialschutz um Hilfe bittet, dem Krankenwagen hinterher läuft. Er erreichte den Krankenwagen, flehte um Hilfe, aber er bekam nur Verbandsmaterial, rannte zurück. Es war zu spät, keine Chancen…

Seine zwei Brüder und zwei Schwestern im Keller haben alles ohne Worte verstanden, als sie ihren älteren, mit Blut beschmierten Bruder sahen. Eine sehr komplizierte und teure Evakuierung mit dem Taxi, mit dem Zug nach Lviv, Drohobych… Ein neues, unbekanntes und erwachsenes Leben … ohne Mama.

Ruhe in Frieden Marina.