Interdisziplinäre Perspektiven auf die Literaturvermittlung im DaF-Unterricht

Ein von Simone Schiedermair herausgegebener Sammelband stellt internationale und interdisziplinäre Perspektiven für das universitäre und schulische Lernen vor

Von Torsten MergenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Torsten Mergen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Welche Rolle soll die deutschsprachige Literatur im Rahmen von schulischen und universitären Lehrveranstaltungen im Bereich Deutsch als Fremdsprache (DaF) spielen? Welche Bedeutung kommt ihr momentan dabei zu? Welche literarischen Texte sind besonders geeignet für den DaF-Unterricht? Wie kann der DaF-Unterricht von der Auslandsgermanistik und den Sprachdidaktiken anderer Fächer profitieren? Diese Fragen sind nur auf den ersten Blick leicht zu beantworten. Natürlich wird man aus der Perspektive von Bildungs- und Kulturorientierung antworten, dass das Lesen im Allgemeinen und die deutschsprachige Literatur im Besonderen ganz eindeutig für Spracherwerbsprozesse von Nicht-Muttersprachlern relevant sind. Jedoch wirft der von Simone Schiedermair herausgegebene Sammelband Literaturvermittlung. Texte, Konzepte, Praxen in Deutsch als Fremdsprache und den Fachdidaktiken Deutsch, Englisch, Französisch einen differenzierten Blick auf diese Frage. Ausgehend von einer Musterung der aktuellen Vermittlungspraxis in verschiedenen Kontexten widmen sich die dreizehn Beiträge des Sammelbandes multiplen Antwortmöglichkeiten. Der Band basiert auf einer internationalen Tagung zur Literaturvermittlung mit Beitragenden aus den Bereichen Deutsch als Fremdsprache, den Fachdidaktiken Deutsch, Englisch und Französisch und aus der Germanistik in skandinavischen Ländern, die im Herbst 2015 am Alfried Krupp Wissenschaftskolleg in Greifswald stattfand.

Einführend stellt die Herausgeberin knapp die gemeinsame Basis der Publikation und des Forschungsfeldes vor: Es gehe darum, „die Spezifik literarischer Texte, ihre Literarizität, ins Zentrum der Überlegungen zu rücken.“ In Abgrenzung zu klassischen, eher funktionalen Nutzungskonzepten von Literatur durch die Nutzung für Grammatik- und Landeskundevermittlung, Sprech- und Schreibimpuls oder Material für interkulturellen Kompetenzerwerb stehen für Schiedermair daher Leitbegriffe und -konzepte wie „Verfremdung und Fremde, Deautomatisierung und Ambivalenz, Heterogenität und Multiperspektivität, Diskursivität und Narrativität“ im Vordergrund. Die Literatur soll, so könnte man die ambitionierte Intention knapp resümieren, ihren Eigenwert zurückgewinnen und zum gleichberechtigten Lernmedium sowie zum gleichwertigen Lerngegenstand avancieren.

Auf der Basis aktueller Theoriediskussionen der Literatur- und Kulturwissenschaften sowie der Mediendidaktik liefert der Sammelband Konzepte und beschreibt deren Umsetzungen, die Impulse für die universitäre und schulische Fremdsprachenausbildung geben sollen. Die folgenden zwölf Aufsätze des Bandes sind drei Themenbereichen zugeordnet: „Deutsch als Fremdsprache“, „Germanistik in Skandinavien“ und  „Fachdidaktik Deutsch, Englisch, Französisch“. Als zentrale Kategorie des ersten Themenbereiches arbeiten mehrere Beiträge den Begriff des Erzählens auf. In einem programmatisch zu lesenden Beitrag untersucht die Herausgeberin die Rolle der Literatur im DaF-Unterricht, indem sie verschiedenen Verwendungszusammenhängen nachspürt. Dazu analysiert und exemplifiziert sie forschungsgestützt und aktuelle Forschungsansätze referierend die Zusammenhänge von Literatur und Grammatik beziehungsweise Sprache, ferner von Literatur und Kultur respektive Gesellschaft, des Weiteren zwischen Literatur und Interkulturalität beziehungsweise Fremdheit. Im Ergebnis plädiert sie plausibel nach einer Musterung bisheriger Konzeptionen gegen Ansätze, die „dazu tendieren, literarische Texte im Unterricht […] als didaktischen Kniff zu nutzen, als methodisches Mittel gegen die potenzielle Langeweile im Sprachunterricht“.

Dass Literatur einen (ästhetischen) Eigenwert hat, illustrieren zahlreiche Folgebeiträge: Beispielsweise stellt der Beitrag des Münchner Forschers Michael Ewert mehr- und transkulturelle Literatur vor, die um Migration und Flucht kreist. In thesenartiger Form beleuchtet er unter anderem, wie in zeitgenössischen Romanen durch ein Zusammenspiel von Außen- und Binnenperspektiven „migrantische Baukastenbiographien“ entstehen, wodurch nicht zuletzt ein „Bewusstsein für kulturelle Vielfalt und die Chancen eines humanen Zusammenlebens“ gesteigert würden. Die in Südafrika lehrende und forschende Germanistin Renate Riedner beschäftigt sich komplementär dazu mit Kategorien von Narrativität. Ferner gibt sie einen überblicksartigen Einblick in die Formen und Aspekte literarästhetischen Erzählens mit der Folge, dass das „Lernen einer Fremdsprache eine ästhetische Erfahrung“ bedeutet, deren Erfahrungs- und Motivationspotenzial Riedner hervorhebt. Der Beitrag von Almut Hille stellt die Erfahrungen mit Studierenden im Masterstudiengang „Deutsch als Fremdsprache: Kulturvermittlung“ an der FU Berlin vor und erläutert am Beispiel dieser Fallstudie, wie kulturelles und symbolisches Lernen anhand des autobiografischen Textes Als ich ein kleiner Junge war von Erich Kästner in Ausbildungskontexten vermittelt und von den Studierenden reflektiert wurden.

Bemerkenswert an dem Sammelband ist die Erweiterung der Perspektive auf die Auslandsgermanistik in Skandinavien. Mehrere Beiträge untersuchen unter anderem Formen mehrsprachiger Erinnerungsarbeit: Eine Einzelfallstudie zeigt dies am Beispiel von Georges-Arthur Goldschmidts Erzählung Die Absonderung. Die Rolle des digitalen Geschichtenerzählens „bei der Weitergabe von Erlebtem an die nächste Generation“ fokussiert ein anderer Beitrag, der zugleich Einblicke in die schulische Projektarbeit in Norwegen gewährt. Darüber hinaus hebt der Beitrag von Linda Karlsson Hammarfelt die Bedeutung der Nachhaltigkeit hervor, indem sie auf die „Implementierung von Nachhaltigkeitsfragen an der Universität Göteborg und im Fach Tyska“ eingeht. Dazu stellt sie verschiedene Seminarkonzeptionen und -erfahrungen zu Texten von Ingeborg Bachmann (Undine geht, 1961) und Yoko Tawada (Schwager in Bordeaux, 2008) vor. Ihr nachvollziehbares Fazit lautet: „So bergen literarische Wasserdarstellungen ein großes Potential für das Aufgreifen von Nachhaltigkeitsfragen im Unterricht.“ Weniger euphorisch und eher besorgniserregend liest sich der Beitrag von Moritz Schramm, der die Situation der dänischen Germanistikinstitute schildert. Aus ökonomischen Gründen wurden verschiedene Institute an dänischen Universitäten geschlossen, die verbliebenen vier stehen nach Meinung des Autors unter einem hohen Legitimationsdruck, der zur Reflexion über Relevanz und Selbstverständnis der Germanistik in Dänemark geführt habe, mit der Überlegung, der deutschsprachigen Literatur eine wichtigere Rolle zuzuschreiben, etwa durch einen erweiterten Textbegriff und die Berücksichtigung intermedialer Angebote.

Die abschließenden vier Beiträge stellen explizit fachdidaktische Konzeptionen vor. Dazu werden verschiedene Perspektiven dargestellt, wobei man sich jedoch als Leser fragt, warum nur drei fachdidaktische Bezugsdisziplinen berücksichtigt worden sind. Ricarda Freudenberg referiert und reflektiert Erfahrungen mit der Literaturvermittlung im Hochschulbereich, genauer mit Studierenden der Friedrich-Schiller-Universität Jena im Rahmen der Seminare „Umbrüche, Aufbrüche. Lyrik des 20. Jahrhunderts im Deutschunterricht“ sowie „Lyrik der Klassik und Romantik im Deutschunterricht“. Am Beispiel des Sonetts Materialien zu einer Kritik der bekanntesten Gedichtform italienischen Ursprungs von Robert Gernhardt und des Gedichts Hälfte des Lebens von Friedrich Hölderlin analysiert sie den Texterschließungsprozess und zeigt die Chancen sowie den Mehrwert einer gemeinsamen methodischen und interpretatorischen Seminargestaltung durch Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik: Während erstere intendiere, „die Studierenden für die literarästhetische Qualität der Texte zu sensibilisieren“, lege letztere den Akzent darauf, „die Studierenden zur theoriebasierten Beurteilung der Schwierigkeit, Attraktivität und Relevanz eines literarischen Gegenstands zu befähigen“. Das Zusammenspiel beider Intentionen ermögliche eine reflektierte Literaturvermittlung und erweiterte Interpretationskompetenzen. Der Jenaer Anglist Laurenz Volkmann beschreibt in seinem Beitrag den Legitimationsdruck beim Einsatz von Literatur als eigenständigem Lerngegenstand in einem kommunikativ ausgerichteten Fremdsprachenunterricht. Er führt dies auf verschiedene Gründe, etwas das lange Zeit vorherrschende hermeneutische Paradigma oder die Fokussierung auf einige Höhenkammwerke zurück. Durch den Ansatz einer „symbolischen Kompetenz“ sieht er jedoch positive Signale für einen verstärkten Einsatz von literarischen Texten. Aus Perspektive der Didaktik des Französischen erklärt sich der zurückgehende Einsatz von Literatur mit Verweis auf die Kompetenzorientierung, die Daniela Caspari mit dem Begriff „Sündenfall“ assoziiert, den sie kritisch hinterfragt. Für verschiedene Schulstufen, Lehrpläne und Lehrwerke analysiert sie die Folgen der Bildungsstandards der KMK. Sie gelangt zu dem Postulat: „Anstatt die Bildungsstandards bzw. die Kompetenzorientierung im Allgemeinen als ‚Sündenfall‘ zu betrachten […], wünsche ich mir eine offene, nicht-ideologische Diskussion über die Potenziale, die literarischen Texte sowohl als ‚Medium‘ für andere Zielsetzungen […] als auch als eigenständigem ‚Gegenstand‘ des Unterrichts innewohnen“. Wie literarisches, sprachliches und medienästhetisches Lernen im Lyrikunterricht gelingen kann, zeigt abrundend der Beitrag von Markus Raith, dessen plakatives Motto lautet: „Es wird Zeit, die Metapher aus der Umklammerung durch den Lyrikunterricht herauszuholen.“

Der vorliegende Band enthält zahlreiche interessante und lesenswerte Aufsätze, die neue Perspektiven auf und Erfahrungsberichte für das Feld der Literaturvermittlung im DaF-Unterricht eröffnen. Er hat das Anliegen, einen weiten Fokus zu bieten, dabei nicht nur theoretische Konzepte vorzustellen, sondern auch deren Umsetzungen in der universitären und schulischen Fremdsprachenausbildung vorzustellen sowie Best-Practice-Beispiele zu dokumentieren. Somit wendet er sich auch an DaF-Praktiker, die forschungsbasierte Impulse für die eigene Lehrtätigkeit suchen. Die Beiträge sind auf der Höhe der aktuellen Forschung, durchweg systematisch angelegt und belegen ein hohes Problem- und Fachbewusstsein der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Es gelingt, trotz der Heterogenität der Forschungsdisziplinen, der verschiedenen Herkunftsländer und der verschiedenen Bezugsrahmen interessante und anregende Konzepte vorzustellen, die sicherlich in Zukunft dazu beitragen werden, dass sich neben der Kompetenzorientierung „ein emphatischer Literaturbegriff“ im Bereich des Deutschen als Fremdsprache vermehrt finden lassen wird.

Titelbild

Simone Schiedermair (Hg.): Literaturvermittlung. Texte, Konzepte, Praxen in Deutsch als Fremdsprache und den Fachdidaktiken Deutsch, Englisch, Französisch.
Iudicium Verlag, München 2017.
273 Seiten, 42,00 EUR.
ISBN-13: 9783862054978

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch