Impressionen aus dem beschädigten Leben

Über Ferdinand von Schirachs „Strafe“ und seine Gespräche mit Alexander Kluge

Von Manuel BauerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manuel Bauer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Lange Zeit gehörte die Einschätzung „Die beste Platte seit Scary monsters!“ zum Standardrepertoire jedes Pop-Kritikers – anzuwenden bei nahezu allen neuen Alben von David Bowie seit Anfang der 1990er Jahre. Scary Monsters and super creeps galt allgemein als letzte Veröffentlichung, die Bowie als großen Künstler zeigte, wenngleich sie schon nicht mehr ganz die Höhe seiner zuvor veröffentlichten Meilensteine erreichte. Im Falle Ferdinand von Schirachs könnte sich ein ähnlicher Reflex bei der Kritik etablieren, der hiermit initiiert sei: Strafe ist sein bestes Buch seit Schuld – besser als alles seither also, aber nicht ganz so zwingend wie sein fulminantes Debüt Verbrechen.

Von ‚scary monsters‘ freilich hat Schirach nie erzählt – oder doch allenfalls so, dass das Monströse als Spielart des Normalen begreifbar wird. Seine ‚super creeps‘, zunächst verstörend wirkende Figuren, schildert er nicht als Abschaum, sondern lässt ihre allzu menschlichen Fehlbarkeiten, Obsessionen, Kränkungen und Beschädigungen nachvollziehbar erscheinen. Dieses Ethos ist seit Verbrechen (2009) integraler Teil von Schirachs Autorschaftsinszenierung. Lange nicht hatte man in der deutschsprachigen Literatur einen solch lakonischen, nüchtern-präzisen Sound verbunden mit der Form der „Story“ und der Thematik des Kriminalistischen erlebt – kurze Erzählungen, die nicht etwa Ermittler bei der Detektion zeigen, sondern individuelle Schicksale in den Blick, die zu Verbrechen und Verstrickungen in Schuld führen. Als Erzählerfigur setzte Schirach einen Strafverteidiger ein, was zu zwei weiteren Faktoren seiner Erfolgsformel führt: Zum einen konnten auf diese Weise unaufdringlich kluge, in verständlicher Sprache dargebotene Wissensversatzstücke über Rechtsprechung und Gesetzeslagen vermittelt werden; zum anderen suggerierten die Texte ein nicht unerhebliches Maß an ‚Authentizität‘, da der Autor schließlich selbst ein erfahrener und berühmter Strafverteidiger ist. Dass er diverse Fiktionssignale in seine Texte einbaute, konnte übersehen, wer Literatur als Spiegel der echten Welt verstehen möchte und dem besonderen Kitzel der Wirklichkeitsnähe hinterherjagt.

Schuld (2010) war bereits ein etwas weniger aufregender Aufguss der Mischung, die Verbrechen so faszinierend gemacht hatte. Danach folgten mit Der Fall Collini (2011) und Tabu (2013) zwei Romane, die bei der Kritik wenig Gnade fanden, ein Band mit Schirachs gesammelten Spiegel-Essays und das vielbeachtete, auch von der ARD adaptierte und zur besten Sendezeit ausgestrahlte Gerichts-Drama Terror. Seinen Themen blieb der Autor dabei ausnahmslos treu. Stets ging es um Fragen des Rechts, um Schuld und Verbrechen, um juristische Auswirkungen moralischer Dilemmata. Obwohl also Schirach nie etwas wirklich anderes geschrieben hat (und trotz seines Verlagswechsels von Piper zu Luchterhand), ist sein neues Buch als eine Rückkehr zu den Wurzeln zu verstehen. Strafe knüpft – schon im Titel – unmissverständlich an die beiden frühen Bände mit „Stories“ an. Das ist nicht eben innovativ. Es muss aber konstatiert werden, dass der Erzähler Schirach mit dieser erneuten Hinwendung zur Form der knappen Fallgeschichte in der Pitaval-Tradition, jenen Sammlungen berühmter und merkwürdiger Rechtsgeschichten des 18. Jahrhunderts, die er wie kein anderer reanimiert hat, wieder ganz bei sich ist. Schirach macht in diesen Stories das, was er am besten kann – und besser als alle anderen.

Auch 2018 erzählt Schirach mit maximal verknappter Sprache und starken Raffungen. Doch die vielgerühmte juristische Präzision lässt Raum für Ambivalenzen – das scheinbar Präzise ist, näher betrachtet, das Doppelbödige. Der semantische Mehrwert entspringt gerade dem, was aufgrund der Verknappung nicht gesagt, sondern nur angedeutet wird. Schirachs wahre Meisterschaft liegt im Abgründigen der Sachlichkeit. Ganze Jahrzehnte werden mit wenigen Worten bedacht, während scheinbar unwichtige Details eingefangen werden, wodurch, wie auf einem gelungen Schnappschuss, Stimmungen evoziert und Befindlichkeiten nahegelegt werden, deren Ausleuchtung dem Leser obliegt. Zwischen den Ereignissen und den vermeintlichen Nebensächlichkeiten werden nur selten direkte Verknüpfungen hergestellt, immer aber transportiert die auf Zurückhaltung basierende Erzählökonomie die Suggestion von Kausalität.

Im analytischen Fokus des Erzählens, das kühl und nüchtern, aber doch mit erstaunlicher Empathie geschieht, stehen die menschlichen Tragödien, die vor den Verbrechen liegen – oder auf diese folgen. So ist auch der Titel nicht in der Weise zu verstehen, dass es nur um eine Sammlung von Erzählungen über juristisch verfügte Strafen geht. In einzelnen Texten gibt es kein Verbrechen, keine Verhandlung, keine Verteidigung. Die Strafen vollziehen sich dann als Unfall, invertiert, abseits von Urteilssprüchen, manchmal bleiben sie sogar ganz aus. Gemein ist allen Stories, dass menschliches Verhalten, so absonderlich oder gar abnorm es erscheinen mag, nachvollziehbar gemacht wird. Schirach hat dem 18. Jahrhundert nicht nur die Form der Fallgeschichte entlehnt, er ist auch in seiner Fokussierung des „ganzen Menschen“ (diese Bezeichnung wird wörtlich verwendet) zutiefst vom anthropologischen Projekt der Aufklärung geprägt. Seine Stories sind beste Unterhaltung für Krimi-Leser, die mehr als Whodunit-Muster suchen, und sie gewähren erhellende Einblicke in nicht immer einleuchtende Aspekte des Rechtssystems, dessen grundlegende Humanität Schirach nicht zum ersten Mal beschwört. Mehr als andere aber sind diese Stories moderne Beiträge zu einer literarischen Erfahrungsseelenkunde.

Obwohl er sich auf vertrautes Terrain zurückzieht, fügt Schirach seinem Œuvre doch neue Facetten hinzu, wenngleich man diese ähnlich detailversessen suchen muss wie ein Verteidiger mögliche Lücken in einer Fallakte. Die neuen Stories sind mithin nicht einfach eine Wiederholung des bekannten Schemas. Sie versehen es, wie es gute Genreliteratur immer tut, mit Variationen. Die gravierendste Änderung betrifft die Figur des Erzählers. Er gibt sich, anders als in früheren Stories, nicht als Anwalt zu erkennen und ist keine handelnde Figur. Die Authentizitätsstrategie tritt dadurch in den Hintergrund. Mit einer signifikanten Ausnahme: In der letzten Story Der Freund tritt ein erzählendes Ich hervor, das nicht nur Anwalt ist, sondern auch Schriftsteller. Erscheint Strafe über fast die volle Distanz gleichsam als anonymstes Buch Schirachs, erweist es sich im abschließenden Text als sein bei Weitem persönlichstes. Die traurigen Geschehnisse, von denen er in dieser Story berichtet, seien der Anlass gewesen, mit dem Schreiben zu beginnen, das als Ausweg erscheint, um mit den Schrecken, die mit der Tätigkeit als Strafverteidiger verbunden sind, umgehen zu können. Schreiben als Strafe für eigene Versäumnisse, aber auch als Rettungsversuch. Dennoch steht am Ende die Einsicht, es sei „ganz gleich, ob wir Apotheker oder Tischler oder Schriftsteller sind“. Was bleibt, seien Fremdheit und Einsamkeit. Der Antrieb, über Verbrechen, Schuld und Strafe zu schreiben, wird begreifbar als Therapie ohne Aussicht auf Genesung.

Weit hoffnungsvoller präsentiert sich Schirach in Die Herzlichkeit der Vernunft. Das Buch versammelt Gespräche, die Schirach mit Alexander Kluge führte, einem der großen Intellektuellen und Medienschaffenden der letzten Jahrzehnte. Lenkt Strafe am Ende den Blick auf Trauer, Fremdheit und Einsamkeit, signalisiert schon der Titel eine optimistischere Perspektive. Es ist ein eigentümliches Gespann, das da (leider fehlt jede Angabe, wann, wo oder bei welcher Gelegenheit) zusammenkam um sich, wie das Vorwort bekundet, auf die „Spur großer Geister wie Sokrates und Voltaire“ zu begeben. Diese Spur sei aus dem All in Form von „winzigen Leuchtfeuern“ zu sehen, „die durch Wolken und Wetter nicht verdunkelbar sind“. Für so viel Pathos muss man dem sonst eher kühlen Schirach einen Gesprächspartner zur Seite stellen, der weiß, wie man selbst zurücktritt, um dafür den anderen mittels klug platzierter Fragen und scheinbar freien Assoziationen in ein zu Licht rücken, das womöglich sonst eher im Verborgenen bleibende Facetten hervorhebt. Kaum jemand ist darin so geschult wie Alexander Kluge, der diese Kunst schon in unzähligen TV-Beiträgen unter Beweis gestellt hat. Dass Schirach sich dafür aber keineswegs verstellen muss, zeigt schon die Einordnung, die zuvor beschworenen großen Geister seien oft „als Anwälte des Menschengeschlechts praktisch tätig“ gewesen. Als ein solcher „Anwalt des Menschengeschlechts“ inszeniert sich Schirach, sei es in seiner Erzählprosa, seinen Essays oder seinen sonstigen öffentlichen Äußerungen, mit Nachdruck. Auch in diesen Gesprächen kann er die Rolle des Anwalts nicht abstreifen, obwohl er sich, was an der Seite Kluges sicherlich verführerisch ist, vor allem als Intellektueller und Polyhistor in Szene setzt.

Die beiden distinguierten Herren tauschen sich aus über Sokrates, Voltaire, Heinrich von Kleist, Terror und Politik – zumindest laut der jeweiligen Titel der Gespräche. Kaum je bleiben die beiden aber stringent bei einem Gegenstand. Die Gespräche springen bald hier-, bald dorthin, teils mit durchaus harten Übergängen. Es kann vorkommen, dass eben von Pazifismus gesprochen wird, dann über die Philosophie Friedrich Nietzsches, von dort aus kommt man auf Darmflora und daraufhin auf die Flüchtlingsfrage – Kluge und Schirach sind sich indes einig, „die ganze Zeit von der Flüchtlingsfrage“ geredet zu haben, „über nichts anderes“. Die kulturellen, philosophischen und historischen Bezüge stecken ein gewaltiges Feld ab – „von Troja bis Trump“, heißt es beiläufig an einer Stelle. Sie reichen unter anderem von antiker Politik über mittelalterliche und moderne Literatur bis zu Filmen von Michael Haneke. Zwischen Donald Trump und Verschwörungstheorien werden schon mal Kleinigkeiten wie Kekse zum Kaffee thematisiert, schließlich lässt sich allem, und erscheint es noch so unbedeutend, eine Einsicht in das (Un-)Wesen der Gesetze abgewinnen. Denn stets kreisen die Gespräche um Schirachs Standardthemen. Im Dialog über Sokrates etwa – eine gar feinsinnige Idee, ein Gesprächsbüchlein mit einem Dialog über just den Philosophen zu beginnen, dessen Denken sich immer dialogisch entwickelte – geht es weniger um philosophischen Austausch im Allgemeinen oder sokratische Lehren im Speziellen, sondern um den Prozess, der diesem aufrührerischen Denker gemacht wurde. Schirach kann als Erklärer der athenischen Rechtsprechung brillieren, wie er das sonst mit der deutschen tut. Doch während Strafe mit einer düsteren Perspektive schließt, beendet Schirach den Sokrates-Dialog ungleich freundlicher mit einem Plädoyer für die Liebe; an anderen Stellen bekennen sich die Gesprächspartner zu Herzenswärme und Toleranz.

Zumindest indirekt sind die Dialoge auch als Werkstattgespräche zu begreifen. Schirach sinniert über das Verhältnis von Rechtswissenschaft zu Kunst und Literatur, bevor er den Fall Callas aus dem 18. Jahrhundert so rekonstruiert, als handle es sich um eine seiner eigenen Stories, und schließlich sind auch seine Aussagen über Voltaire Reflexionen seiner eigenen Poetik. Kleist wird gar zum Vorläufer Schirachs konstruiert, unter anderem habe er „einen Grundriss für True Crime“ gelegt. In den Gesprächen finden sich kristallklare Sätze über das Recht, die einen vorzüglichen Kommentar zu Schirachs eigenen Texten liefern. Um nur eine Stelle zu zitieren: „Tatsächlich ist dem Strafverfahren der Begriff das Böse fremd. Dort werden Tat und Täter untersucht, nicht Gut und Böse.“ Das Terror-Gespräch beginnt dann unumwunden mit Fragen zu dem Hintergrund von Schirachs gleichnamigem Drama. Es muss gleichwohl konstatiert werden, dass der Erkenntnisgewinn überschaubar bleibt. Einige Aussagen sind Schirach-Lesern aus anderen publizistischen Zusammenhängen wohlbekannt. Sogar die zentrale Passage aus Strafe findet sich wörtlich in einer von Schirachs Antworten in Die Herzlichkeit der Vernunft. Ähnlich wie seine Stories sind auch seine Ausführungen in den Gesprächen gleichsam Variationen eines vertrauten Schemas.

Immer wieder kreisen die Assoziationen und Gedanken der Gesprächspartner um die Aufklärung, die so zum zentralen Scharnier der Menschheitsgeschichte erhoben wird. Das ist womöglich ein wenig plakativ, sollte aber in einer Zeit, in der die Errungenschaften des aufklärerischen Denkens in beträchtlicher Gefahr sind, nicht geringgeschätzt werden. Insofern ist es auch nicht trivial, wenn Schirach in einer Art Schlussmonolog postuliert, dass unsere Zukunft offen ist. Wir sollten mit der Autorschaft dieser Zukunft sorgsam und vernünftig umgehen. Dass Vernunft von Herzlichkeit geprägt sein kann, demonstrieren die Gespräche dieser beiden engagierten Aufklärer und Humanisten.

Titelbild

Ferdinand von Schirach: Strafe. Stories.
Luchterhand Literaturverlag, München 2018.
191 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783630875385

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Titelbild

Ferdinand von Schirach / Alexander Kluge: Die Herzlichkeit der Vernunft.
Luchterhand Literaturverlag, München 2017.
192 Seiten, 10,00 EUR.
ISBN-13: 9783630875910

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