Mit 300 PS gegen die Wand
Nach „Sentimentale Reise“ ist Viktor Schklowskis zweiter Roman „Zoo. Briefe nicht über die Liebe oder Die dritte Héloise“ in einer Neuübersetzung von Olga Radetzkaja erschienen
Von Gabriele Wix
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseMein Handwerk als Schriftsteller, meinen ungebundenen Weg über die Dächer gebe ich für keinen europäischen Anzug, kein geputztes Paar Stiefel, keine harte Währung her, nicht einmal für Alja.
Viktor Schklowski ist 1893 in Sankt Petersburg geboren und 1984 in Moskau verstorben. Als er diese eindringlichen Zeilen schrieb, war er keine dreißig Jahre alt, hatte Einsätze an stetig wechselnden Kriegs- und Revolutionsschauplätzen, Hunger, Kälte, schwere Verwundungen, Verfolgungen überlebt und einen Roman aus Beobachter- und Teilnehmerperspektive über die Schreckensjahre von 1917 bis 1922 abgeschlossen. Die Metapher des ungebundenen Wegs über die Dächer erinnert an einen anderen Künstler und Schriftsteller. Auch er hatte den Krieg – für ihn war es im Ersten Weltkrieg der Einsatz an der Ost- und Westfront –, sowie politische Verfolgungen überlebt, und auch er wusste sich seine Überzeugung von der Kraft der Kunst zu bewahren. Max Ernst, 1891, zwei Jahre vor Schklowski geboren:
Moral: haben wir keine angst, in die kindheit der kunst zurückzufallen. Stören wir nicht diese blinden, die nachts auf den dächern unserer städte und dörfer tanzen. Mehr in das leben verliebt als lebendig, suchen sie nichts als zu leben, sie suchen nicht zu sehen. Begrüßen wir die steigenden meere, die monde auch.
Selbst der Bezug zum Surrealismus, dessen offizielles Gründungsmanifest erst auf 1924, nach Schklowskis Statement, datiert, ist quasi antizipiert. Bei der im Zitat angesprochenen Figur Alja handelt es sich um Elsa Triolet, die spätere Ehefrau von Louis Aragon. 1896 in Moskau geboren, hielt sie sich nach dem ersten Weltkrieg weitgehend in London und Paris auf. 1922/23 verbrachte sie mehrere Monate in Berlin, wo sie Viktor Schklowski begegnete, dann aber wieder nach Paris zurückging. Eine weitere Linie kreuzt sich in der Figur Elsa Triolets. In Moskau hatte sie engen Kontakt zu dem Schriftsteller Wladimir Majakowski, Vertreter der von Schklowski geschätzten russischen futuristischen Bewegung, zu der auch der Autor Welimir Chlebnikow zählt, auf den noch zurückzukommen ist.
Schklowski schrieb sein Bekenntnis zum „Handwerk des Schriftstellers“ im Berliner Exil. Ihm war nach der Heimkehr aus den Kriegs- und Revolutionswirren eine abenteuerliche Flucht vor einer drohenden Verhaftung über die vereiste Ostsee nach Finnland gelungen. Seine Frau hatte er in Russland zurücklassen müssen. Ein Visum ermöglichte ihm schließlich die Ausreise nach Berlin, wo er im Juli 1922 ankam. Mit dieser Ankunft in Berlin endet sein erster Roman, Sentimentale Reise, und hier beginnt nahtlos sein zweiter, Zoo, dem das eingangs genannte Zitat entnommen ist.
Der Zoologische Garten ist zunächst einmal ein topografischer Bezugspunkt seines neuen Lebensumfelds: „Die Russen wohnen in Berlin bekanntlich rund um den Zoo.“ Schklowski ist einer von ihnen, bleibt jedoch ohne inneren Bezug zur Stadt und den Exilanten. Der kurze Satz bildet einen Absatz für sich, und der nächste Absatz besteht aus einem ebenso kurzen, lakonischen Kommentar: „Die Bekanntheit des Umstands ist kein Grund zur Freude.“ Die Aneinanderreihung kurzer Absätze, die verkürzte Sprache, der Verzicht auf alles Verbindende und Verbindliche sind hervorstechende Stilmerkmale auch des Vorgängerromans. Grundlegend unterscheidet sich aber die Schreibsituation. Sentimentale Reise entstand oft unter großem zeitlichem Druck und unter schwierigen, lebensbedrohlichen Bedingungen. So notierte er beispielsweise 1918, als Armeekommissar in Urmia mit den Vorbereitungen des russischen Truppenabzugs befasst:
Ich schreibe um 12 Uhr nachts am 9. August.
Ungarn ist gefallen. Der Croupier harkt unseren Einsatz vom Tisch.
Ich habe Kopfschmerzen, bin den ganzen Tag müde, leide an akuter Blutarmut, und wenn ich jetzt schnell aufstehe, wird mir schwindelig und ich kippe um.
Ich kann nur nachts schreiben. Mir ist klar, was das bedeutet. Mein Öl ist aufgebraucht, aber nachts, wenn die Hemmzentren ausgeschaltet sind, brennt der Docht …
Mit Zoo entsteht aufgrund der neuen Schreibsituation eine andere und eigene Art von Roman. Der Autor hängt fest in der ungeliebten Stadt. „In Berlin schmecken die Wiener Schnitzel bitter.“ Nach Russland zurück kann er nicht, im Exil ist er einsam, von Heimweh geplagt. Und so erfindet er einen Briefroman, der aus insgesamt 29 Briefen von zwei verschiedenen Absendern besteht, der weiblichen Figur Alja und dem schreibenden Ich. Beide schreiben sich nicht nur gegenseitig, sie wenden sich auch an andere Adressaten, Alja etwa an ihre Schwester im ersten Brief oder das schreibende Ich an die Freunde in Russland im vierzehnten Brief oder das Zentrale Exekutivkomitee im letzten, neunundzwanzigsten Brief.
Im Zentrum des Romans steht Elsa Triolet, die Frau, die Schklowski in Berlin kennengelernt hat und die ihn fasziniert. Das schreibende Ich scheint sie zu lieben und zu begehren, wäre da nicht eine Notiz, die jede erzählerische Illusion bricht und die Figur in eine Erzählfunktion verwandelt, sie mit Schklowskis Worten zur „Realisierung einer Metapher“ macht:
Die Frau – die Adressatin der Briefe – nahm Gestalt an, eine Gestalt aus einer fremden Kultur, denn jemandem aus der eigenen Kultur braucht man keine deskriptiven Briefe zu schicken.
Widerspruchsfrei ist diese Aussage nicht, wendet man sie auf die biografischen Fakten zurück: Elsa Triolet stammt aus Russland und ist wie Schklowski der Literatur, vor allem dem russischen Futurismus eng verbunden, steht also viel eher für das, was dem Autor vertraut ist und wonach er sich zurücksehnt. Doch die Geliebte will weder Liebesbriefe noch hat sie Zeit, und so kann sich der Erzähler der Deskription zuwenden: „Briefe nicht über die Liebe“ lautet der Untertitel, und damit nicht genug gibt es noch einen alternativen Untertitel: „Die dritte Heloise“, was sich vom Russischen her – „Elsa Triolet / Tretja Eliosa“ – als Anagramm des Namens der Schlüsselfigur lesen lässt. Nicht nur dieser Titel wird von Schklowski eigens in einem Widmungstext erläutert. Auch der Titel Zoo wird immer wieder hinsichtlich seiner Bedeutung für den Schreibprozess und hinsichtlich seiner literarischen Bezüge expliziert: „Den Zoo könnte ich gebrauchen, für Parallelismen.“ Und dem Roman vorangestellt ist ein längeres Zitat aus Chlebnikows 1909 veröffentlichtem Gedicht Menagerie, das sich im Fortlauf des Romans als poetologisches Konzept von Schklowskis Roman erweist: „Zwischen der Welt und uns bauen wir unsere eigenen kleinen Menageriewelten. Wir wollen Freiheit.“
Zugleich eröffnen die Titel literarische Bezugsfelder bis ins 18. Jahrhundert, A Sentimental Journey von Lawrence Sterne und Julie ou La Nouvelle Héloise von Jean-Jacques Rousseau (unterlegt mit dem Briefwechsel von Abaelard und Héloise aus dem 12. Jahrhundert als dessen historischer Referenz). Das verankert den Roman noch stärker in seiner literaturtheoretischen Motivation: Schklowski schreibt einen Roman über die Bedingungen der Möglichkeit von Literatur, über die Frage, was Literarizität, was Poetizität ist, also die Grundfragen des russischen Formalismus, zu deren Begründern Schklowski mit Boris Eichenbaum, Roman Jakobson und Juri Tynjanow zählt: „Das Lebendigste in der heutigen Kunst sind die Aufsatzsammlung und das Varitétheater, das auf dem Interesse an einzelnen Momenten basiert, nicht auf deren Verbindung.“, lautet die programmatische Ansage im 22. Brief. Die deutschen Theater stünden in dieser Hinsicht auf einer sehr niedrigen Entwicklungsstufe, erklärt der Briefschreiber, um selbstbewusst das eigene Projekt ins Spiel zu bringen:
Interessanter ist da schon das Buch, das ich derzeit schreibe. Es heißt „Zoo“, „Briefe nicht über die Liebe“ oder „Die dritte Héloise“ und besteht aus einzelnen Momenten, verbunden durch die Geschichte der Liebe eines Mannes zu einer Frau. Das Buch ist der Versuch, die übliche Romanform hinter sich zu lassen.
Dieser selbstgewisse wie selbstironische Ton und damit eine distanzierte Betrachtung des eigenen Tuns zeigen sich gleich zu Beginn des Romans. Wer sich etwa wundert, dass der erste Brief nicht in die für Schklowski charakteristischen kurzen Abschnitte aufgesplittert ist, wird einleitend behutsam darauf vorbereitet: „Hören Sie seinen ruhigen Ton.“ Denn über die unzähligen Referenzen, Erläuterungen, Einbettungen und Umkreisungen hinaus ist jedem Brief eine Vorschau über den jeweiligen Inhalt vorangestellt, womit eine zusätzliche Erzählfunktion, die eines fiktiven Herausgebers, ins Spiel kommt. Die Erwartungen, die mit den im Kursivsatz abgehobenen Einleitungen geweckt werden, müssen sich aber nicht erfüllen, sei es, dass der Plan sich im Schreibprozess ändert, sei es, dass in den kursiv abgesetzten Zeilen von vornherein eine eigene Erzählebene abläuft.
Alle Fragen der Literarizität aber scheinen vergessen, wenn es um Schklowskis Leidenschaft für das Automobil geht. Den Briefeschreiber lässt er im 26. Brief emphatisch ausrufen – die drei Worte beanspruchen einen Absatz für sich: „Ich liebe Autos.“ Es darf nur nicht das damals beliebte elektrisch betriebene Gefährt sein, das dem Fahrer das Ankurbeln ersparte (der Anlasser war damals in Europa noch nicht verbreitet), es muss der Verbrennungsmotor sein. Man erinnert sich, im 17. Brief war schon zu lesen: „Wir Männer sind Verbrennungsmotoren, wir müssen Lasten bewegen.“ Und natürlich weiß der Briefeschreiber seiner Adressatin Alja die Autothematik geschickt nahezubringen, indem er an ihrer Vorliebe für das Modell „Hispano-Suiza“ anknüpft. Dessen imposante lange Motorhaube entlarvt er jedoch als Maskerade: Dieser den Snobs zuliebe eingebaute halbe Meter Lüge, dieser knapp einen Meter lange Konstruktionsfehler mache ihn rasend. Er setze auf das ehrliche, noble, vertrauenswürdige Auto, den Mercedes Benz zum Beispiel, den Fiat, den Delaunay-Belleville, den Packard, den Renault, den Delage und den Rolls-Royce. Doch auch hier erweist sich am Ende die Autoleidenschaft als Teil, als Metapher einer größeren Liebe, der zur Literatur:
Ein Mensch, der an einem großen Text schreibt, sitzt sozusagen am Steuer eines 300-PS-Autos, das ihn wie von selbst gegen die Wand fährt. „Das haut dich kaputt“, sagen die Chauffeure eines solchen Autos.
Liest man den Roman ein zweites, ein drittes Mal und damit in einem höheren Lesetempo, gewinnt man immer mehr den Eindruck, das Schreiben drehe unaufhörlich Pirouetten und im Lesen wirbele man selbst mit. Möglicherweise ist dieser repetierende, umkreisende Schreibstil – dem die Kargheit der einzelnen Sätze entgegenläuft – darin begründet, dass Schklowski, wie er später in der Erzählung vom OPAJAS behauptet, den Briefroman innerhalb einer Woche diktiert, aber lange redigiert habe. OPAJAS ist die „Gesellschaft zum Studium der poetischen Sprache“, eine 1916 gegründete halbformelle Gruppe, nach Olga Radetzkaja der „theoretische inner circle“ von Schklowski, dem auch Juri Tynjanow, Boris Eichenbaum und Ossip Brik angehörten.
Wenn Viktor Schklowski im deutschsprachigen Raum wiederentdeckt und für eine jüngere Leserschaft überhaupt erst entdeckt wird, ist dies im Wesentlichen der Initiative zweier Verlage zu verdanken. Die große Sorgfalt, die sie in Übersetzung und Edition gelegt haben, kann nicht genug gelobt werden: 2017 erschien Sentimentale Reise im Aufbau Verlag in der von Christian Döring herausgegebenen Reihe „Die andere Bibliothek“ (siehe literaturkritik.de), 2022 ist nun Zoo. Briefe nicht über die Liebe oder Die dritte Héloise bei Guggolz erschienen. Beide Verlage präsentieren die Texte kommentiert und in einer Neuübersetzung von der für Sentimentale Reise mit dem Straelener Übersetzerpreis der Kunststiftung NRW ausgezeichneten Übersetzerin Olga Radetzkaja.
Dabei stand die Neuausgabe von Zoo vor besonderen editorischen Herausforderungen. Denn Schklowskis Schreibarbeit war mit den 29 Briefen, die der russische Verlag Gelikon 1923 in Berlin verlegt hatte, noch lange nicht abgeschlossen. Mit jeder neuen Auflage waren umfangreiche, meist politisch motivierte Überarbeitungen verbunden, immer wieder begleitet von neuen Vorworten und neuen Briefen. Im Gegensatz zu der zuletzt erschienenen deutschen Übersetzung aus dem Jahre 1965 präsentiert der Hardcoverband von Guggolz den ursprünglichen Text nach der ersten Ausgabe von 1923. Er umfasst rund 100 Seiten. Dazu kommen in vergleichbarem Umfang Begleitmaterialien wie die später hinzugefügten Vorworte und Briefe sowie detaillierte Anmerkungen und eine editorische Notiz von Olga Radetzkaja mit Erläuterungen zu den verschiedenen Ausgaben. Der Band schließt mit einem Essay des Büchner-Preisträgers Marcel Beyer: Der Schreiberfahrung, die Schklowski in Zoo reflektiert, antwortet er mit seiner Leseerfahrung von Schklowskis Texten im „Affencafé“, in der Kölner Innenstadt, „um die Ecke vom Westdeutschen Rundfunk“.
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