Eine behütete Kindheit in unsicheren Zeiten
Sylvia Schlettweins Geschichten erzählen Erinnerungen aus dem Norden Namibias
Von Julia Augart
Nicht nur Sylvia Schlettwein zieht in ihrem Nachwort das Resümee, dass sie eine behütete Kindheit in unsicheren Zeiten erlebte. Auch bei dem*r Leser*in – den Verlauf der namibischen Geschichte im Kopf – kann diese Assoziation aufkommen. In 16 kurzen Geschichten erzählt die Autorin einzelne Episoden aus ihrer Kindheit in Katima Mulilo im Norden Namibias während der Zeit, in der Namibia noch Südwest-Afrika hieß, es noch die Apartheid gab und Namibia für seine Unabhängigkeit kämpfte.
Schlettweins Geschichten sind nicht nur sehr persönliche Erinnerungen an ihre dort verbrachten Jahre und das Leben der Familie, sondern geben auch Einblicke in Namibias Gesellschaft und Geschichte, die unprätentiös und leise in die Geschichten einfließen. So erzählt die Autorin einerseits von den Menschen, die sie makuwa – Weiße – nennen, von den Townships der Schwarzen und dem Bunker, der vor dem Haus ihrer Eltern steht und in den man rein muss, wenn geschossen wird. Sie erzählt von Salvinia Molesta – einem Unkraut, das auf dem Wasser wächst und vom Vater bekämpft wird, von einem Chamäleon, das auf die andere Straßenseite getragen wird, und von dem Elefantenbaby, das von ihrer Mutter mit selbstgebastelten riesigen Babyflaschen aufgezogen wird und in ihr Eifersucht – wie das bei neuen Geschwistern so ist – auslöst. Gleichermaßen lässt sie ihre Leser*innen teilhaben am Spiel „Opa und Wampe“ mit ihrer Schwester Carola oder der Überlegung, warum das Elefantenbaby nicht im Kinderzimmer schläft, ob es sich im Märchen Der Froschkönig um einen Ochsenfrosch, eine Plat-Anna, einen Baum- oder Glockenfrosch handelt. In allen Geschichten spürt man aber auch die Liebe und Fürsorge ihrer Eltern, mit denen die Kinder aufwachsen und erzogen werden.
Ihre Schilderungen spiegeln die kindliche und naive Sicht auf die Welt und ihre Umgebung als kleines, deutsches Mädchen im Norden von Namibia. Viele ihrer Geschichten schlagen aber auch einen Bogen zur Gegenwart, ihrem Leben als Lehrerin in Windhoek, in denen Begegnungen oder Bilder zu Assoziationen führen bzw. sie immer wieder zu ihrer Kindheit in Katima Mulilo zurückführen – ob durch den Kollegen Dr. Makuwa, eine Schuluniform, die nicht ganz den Vorgaben der Schule entspricht, oder auch durch den Baobab-Baum im Blumentopf auf dem Balkon.
Den Hintergrund der Geschichten bilden nicht nur der Caprivi – bzw. die heutige Sambesi Region –, sondern auch die unterschiedlichen Sprachen und Kulturen Namibias – Lozi, Afrikaans oder Englisch – und die eigene deutsche Sprache und Kultur, die so selbstverständlich für sie selbst, so exotisch für andere ist, zu Missverständnissen führt oder auch Zusammengehörigkeit signalisiert, aber auch Teil der namibischen Geschichte und Gegenwart ist.
Dieser schöne, gleichzeitig naiv wie poetisch anmutende Band ist nicht nur eine Liebeserklärung an das Land und seine Menschen sowie an Schlettweins eigene Familie, sondern regt zum Nachdenken an und entlockt immer wieder ein Schmunzeln. Die sehr persönlichen Geschichten werden am Ende noch mit zahlreichen privaten Fotos – insbesondere der beiden Schwestern Sylvia und Carola – illustriert. Lakonisch und gleichzeitig enigmatisch entlässt nicht nur die letzte Geschichte Baobab ihre Leser*innen, wenn es heißt: „Wo landet man, wenn man erkennt, dass man zum richtigen Zeitpunkt am falschen Ort ist, und dann versucht, zum richtigen Ort zu kommen? Ich glaube man landet irgendwo dazwischen, am Baobab, und geht von dort aus weiter.“
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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