Decrescendo der Distanz und knallender Kontrapunkt zur Lebensmelodie

Bernhard Schlink verlebendigt erneut ein Stück deutscher Geschichte

Von Anne Amend-SöchtingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Anne Amend-Söchting

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Bernhard Schlink brilliert in seinen Romanen darin, persönliche Geschicke in ihrer Abhängigkeit von den Zeitläuften darzustellen – mit dieser Technik erntete er seit 1995, als Der Vorleser erschien, weltweiten Ruhm. Ein junger Mann begegnet einer älteren Frau, die in ihrem Dasein eingeschränkt ist – so die Grundanlage des Plots im Vorleser. Während Hanna an ihrem Analphabetismus leidet und sich deshalb schämt, macht Olga, die Protagonistin in Schlinks gleichnamigen Roman, das Beste aus ihrer physischen Beeinträchtigung, ihrer Taubheit, die ihr im Alter von 53 Jahren widerfährt. Ihre Beziehung zu Ferdinand, in dessen Familie sie nach einer Karriere als Lehrerin regelmäßig zum Nähen kommt, bleibt auf einer intellektuellen, gleichwohl auch sehr emotionalen Ebene, denn der Junge erinnert sie an ihren verschollenen Geliebten und ihren Sohn. Diese dem Vorleser kontrastparallele Begegnung ist erst im zweiten der drei Teile des Romans angesiedelt. Und, soviel ist vorwegzunehmen, nicht zuletzt diese triadische Komposition, die mit einem Wechsel der Erzählperspektiven einhergeht, zeichnet Bernhard Schlinks neuen Roman aus.

Im ersten Teil stehen die beiden Außenseiter Olga und Herbert im Mittelpunkt. Olga lebt bis zum Tod ihrer Eltern in Breslau, kommt dann nach Pommern zu ihrer Großmutter, wo sie in einem wenig liebevollen Klima aufwächst. Sie trifft Herbert, Sohn des reichsten Gutsbesitzers der Gegend, der sich genauso einsam fühlt wie sie. Doch diese Gemeinsamkeit im Lebensgefühl verschleiert tief gründende Antithesen: einerseits der deutschtümelnde chauvinistische Herbert, der als Kind mit Zügen um die Wette rennt, der an Deutschlands Größe glaubt, sich in dem Kampf gegen die Herero und schließlich in der Expedition nach Nordostland verrennt, andererseits die ehrgeizige Olga, die gegen alle Widerstände für ihre Ausbildung im Posener Lehrerinnenseminar kämpft.

Bevor Herbert nach Afrika aufbricht, werden Olga und er ein Liebespaar. Sie tritt ihre erste Stelle als Lehrerin, Organistin und Chorleiterin an, bleibt dort zwei Jahre und wird während Herberts Zeit in Afrika auf das Betreiben von dessen Schwester hin in ein Dorf nördlich von Tilsit zwangsversetzt. Dort schließt Olga Freundschaft mit einer bäuerlichen Großfamilie, insbesondere mit Eik, dem jüngsten Sohn der Familie. Herbert besucht sie, bevor er nach Südamerika und schließlich in den Norden aufbricht. Einer Ehe mit Olga sind seine Eltern so feindlich gesinnt, dass sie ihm mit Enterbung drohen. Olga unterrichtet weiter in dem schlesischen Dorf, Herbert bleibt verschollen. Im Sommer 1936 ertaubt Olga sehr plötzlich. Da sie in ihrem Beruf nicht mehr arbeiten kann, verdingt sie sich als Näherin. Nach einer dramatischen Flucht im Jahre 1945 gelangt sie nach Heidelberg.

Dort trifft sie Ferdinand, dessen Kindheit und Jugend sie nachhaltig prägt, indem sie ihm wesentliche Teile ihrer Lebensgeschichte erzählt. Während Ferdinands Studium wird Olga unter rätselhaften Umständen bei einer nächtlichen Explosion, der Sprengung des Bismarckturms, verletzt. Sie stirbt wenige Tage später. Ferdinand tritt in den höheren Beamtendienst ein, heiratet und wird Vater zweier Töchter. Erst als er sich selbst im Ruhestand befindet, erreicht ihn der Brief von Adelheid Volkmann, Eiks Tochter. Zur selben Zeit reist er, ein begeisterter Postkartensammler, nach Tromsö, weil dort eine Postkarte aus den Jahren 1913/14 mit dem Vermerk „poste restante“ aufgefunden worden ist. Nach einigen Umwegen gelangt er an die Briefe, die Olga von 1913 bis kurz vor ihrem Tod an Herbert schrieb.

Mit diesen Texten schließen sich alle Lücken, die sich im Beziehungsgeflecht der ersten Teile aufgetan haben: In einem ihrer ersten Briefe erzählt Olga, dass Eik heftig an Diphterie erkrankt gewesen sei und Herbert mit an das Bett des Kindes gehört hätte. Dann spricht sie aus, was zu erahnen war: Eik ist das Kind von ihr und Herbert. In den folgenden Sendungen konzentriert sich Olga verstärkt auf die Darstellung der Entwicklung ihres Sohnes, die sie immer stärker belastet. In ihrem letzten Brief kündigt Olga ihren Entschluss an, Dynamit zu stehlen und „Bismarck zu sprengen“.

Zunächst dominiert ein auktorialer Erzähler, der seine Figuren zwar unterschiedlich fokalisiert, dabei aber immer auf Distanz bleibt, sich diese vom Leib und die Leser auf Entfernung hält – bis zu dem Punkt, als der Erzähler vom Hetero-  zum Homodiegetischen kippt und sich als Ich-Erzähler des zweiten Teils erweist. Im Nachhinein entpuppt sich der erste Teil kompositorisch als Experiment mit Leerstellen, mit vielerlei Sprungraffungen und vorsichtig eingestreuten Hinweisen auf die wahre Bedeutung, die Eik für Olga hat. Indem sich in der Begegnung Olgas mit dem Ich-Erzähler Ferdinand sowohl die Beziehung zu Herbert als auch die zu Eik spiegeln, zu Menschen, die ihre eigene innere Welt auch in absentia überlagern und determinieren, gewinnt Olga an Tiefe und vermindert damit die Distanz zu den Lesern. Diese schrumpft auf ein Minimum, als Olgas Ausführungen im dritten Teil, einem monologischen Briefroman, an Dynamik und Authentizität gewinnen. Sie spricht als Suchende, eng mit dem Geliebten Verstrickte, immer wieder von ihm Verzauberte, wenngleich sie ihm in ideologischer und moralischer Hinsicht diametral entgegensteht. Obwohl sie sehr schnell erkennt, dass ihr Mann nicht mehr zurückkehren wird, schreibt sie weiter – jedes Jahr weniger, lange Jahre überhaupt nicht, dann ein Brief im Jahre 1956 und ein letzter im Jahre 1971. Olgas Reflexionen zu ihrem Leben lesen sich wie der Originalbericht einer Zeitzeugin, die unheilvolle Entwicklungen sehr luzide vorhersieht und deren Desillusionierung ihren absoluten Tiefpunkt erreicht, als Eik, quasi in Vollendung und Erfüllung des väterlichen Erbes, bei NSDAP und SS Karriere macht. Sie erlebt ihren Sohn als derart enttäuschend, dass sie im Jahre 1936 buchstäblich ihre Ohren verschließt und 20 Jahre später, als Eik aus russischer Gefangenschaft zurückkehrt und nur von dem Unrecht redet, das ihm und Deutschland widerfahren sei, endgültig den Kontakt zu ihm abbricht.

Mit dem Decrescendo der Distanz vom ersten zum dritten Teil des Romans manifestiert sich immer deutlicher, wie stark Olga an den beiden Männern ihres Lebens verzweifelt. Als begeisterte Mitläufer in den Ideologemen eines hohlen Heroismus befangen, als verblendete Anhänger eines interkulturellen Wertegefälles beladen sich beide mit großer Schuld. In ihrer Hybris erkennen sie dieses nicht, mehr noch, Eik sieht sich lediglich als Opfer. Die Begeisterung des Vaters für den Kolonialismus und die angebliche Superiorität der Weißen, Bestrebungen deutscher Expansion legitimierend, verdichtet sich in Eiks Lebenswelt zu einem System, das nicht nur außen-, sondern auch innenpolitisch die Ausrottung alles Nicht-Deutschen vorsieht.

Herbert und Eik, Olga und in gewisser Weise auch Ferdinand sind als Symbolfiguren zu deuten, als solche vielleicht etwas überladen, ihre Botschaft wird dadurch aber umso deutlicher vermittelt. Herbert, berstend vor Tatendrang, repräsentiert die vita activa. Nach nur kursorischer Nietzsche-Lektüre beschließt er, ein Übermensch zu werden, „nicht zu rasten, nicht zu ruhen, Deutschland groß zu machen“. Bei Eik, dem Olga von Herbert als Helden erzählt hat und sich deshalb bittere Vorwürfe macht, steigert sich dies zu „Tiraden über Blut und Boden und Schicksal“ und konkretisiert sich in einer Tätigkeit im Reichssicherheitshauptamt, wo er, so wie Olga schreibt, „in der Beletage am Schreibtisch sitzt und im Keller gefoltert wird“. Dies ertrage sie nicht. Im Gegensatz zu Vater und Sohn repräsentiert Olga ein Dasein, das Tun und Reflexion vereint, eine an sich idealische Mixtur von vita activa und vita contemplativa, wäre da nicht die emotionale Überforderung in der Liebe zu Herbert. Ferdinand avanciert zur Symbolfigur für den Wohlstand der Nachkriegszeit, für ein behütetes Leben, das Olga zu langweilen scheint. Dem Beamten kommt am Ende des Romans, als er in einem kurzen Nachspann das Wort ergreift, die Deutungsmacht über Olgas Leben zu: „am Ende des stillen Lebens der laute Schlag – sie hatte den Kontrapunkt zur Melodie ihres Lebens gesetzt“.

So wie in seinen anderen Romanen, Der Vorleser oder Die Frau auf der Treppe, lässt Schlink auch hier die Handlung auf unterschiedlichen, miteinander verbundenen zeitlichen Ebenen spielen, die in ihrer Gesamtheit mehr als ein Jahrhundert umfassen. Die Reduktion dieser Fülle auf kaum mehr als 300 großzügig formatierte Seiten gelingt mit intensiver Raffung und den ebenfalls aus den anderen Romanen bekannten rhetorischen Kunstgriffen der akkumulativen Reihung, der Parallelismen und der antithetischen Gegenüberstellung. Die höchst intensive und klare Expressivität im Sprachstil dient als Vehikel für eine deutliche Aussage, deren Kern eine Vielzahl von deutschen Schicksalen repräsentieren dürfte.

Nur an den Stellen des Übergangs schwächelt, knarzt und klappert es ein bisschen: Der Wechsel vom ersten zum zweiten Teil kommt sehr abrupt, außerdem wirkt das Auffinden der Briefe sehr unwahrscheinlich. Auch Ferdinands Leben mit Frau und Kindern, sein Herumziehen auf Flohmärkten und seine Begeisterung für alte Postkarten liest sich ein bisschen wie funktionale Füllmasse – irgendwie muss der Fund der Briefe ja vorbereitet werden. Den hervorragenden Gesamteindruck schmälert dies jedoch nicht: Schlink hat einen gut komponierten und auf angemessenem ästhetischen Niveau gut lesbaren Roman vorgelegt, dessen Protagonisten überzeugend Einblick in die deutsche Geschichte gewähren, wobei ein besonderer Akzent auf den Jahren vor dem 1. Weltkrieg liegt.

Titelbild

Bernhard Schlink: Olga. Roman.
Diogenes Verlag, Zürich 2018.
311 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783257070156

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch