Wo der „rote Mensch“ lebte

Karl Schlögel besichtigt in einem monumentalen Werk die sowjetische Zivilisation

Von Daniel HenselerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Henseler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die weißrussische Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch erkundet in ihrem literarisch-dokumentarischen Werk den „roten Menschen“. Die Nobelpreisträgerin von 2015 sieht diesen als Produkt des sowjetischen Imperiums an. Er habe an Ideale und ein neues Leben geglaubt, diese Zuversicht mit dem Ende des Kommunismus jedoch auf einen Schlag verloren. In ihrem Buch Secondhand-Zeit zeigt die Autorin eindrücklich auf, dass der  „rote Mensch“ gleichwohl nicht verschwunden ist, sondern im postsowjetischen Raum weiterlebt – mit seinen ihm eigenen, typischen Denk- und Verhaltensweisen.

Wenn nun der renommierte Historiker Karl Schlögel unter dem Titel Das sowjetische Jahrhundert. Archäologie einer untergangenen Welt eine weit ausgreifende Beschreibung der sowjetischen Zivilisation vorlegt, so scheint es beinahe, als ob er die passende zweite Hälfte zu Swetlana Alexijewitschs Projekt beigetragen habe. Während sich die Weißrussin nämlich zuallererst auf den sowjetischen Menschen und dessen Prägungen konzentriert, richtet Schlögel seinen Blick auf die Lebenswirklichkeit, in der dieser Mensch sein Leben verbrachte – und mitunter verbringen musste. Schlögels Zugang ist im weitesten Sinn ein räumlicher: Er besichtigt Orte wie die Datscha als einen Raum der Freiheit oder das Sanatorium, den klassischen Erholungsort für die Werktätigen. Er interessiert sich für Gegenstände wie Packpapier, Nippesfiguren, Orden und Medaillen. Nicht von ungefähr beginnt sein Buch mit den „Splittern des Imperiums“: Schlögel streift durch einen Trödelmarkt und beobachtet, wie das materielle Erbe der Sowjetunion nach und nach verscherbelt wird. Der Historiker untersucht auch sowjetische „Rituale“, nämlich Paraden und Festakte, sowie die Zeremonien so wichtiger privater Ereignisse wie Geburt, Heirat und Tod. Dabei vernachlässigt er auch die unsichtbare und die immaterielle Seite der sowjetischen Zivilisation nicht: Er geht den Düften jener Epoche nach – den beliebtesten Parfüms sowie der allgegenwärtigen Kohlsuppe.

Das oben Genannte kann hier nur beispielhaft stehen: Schlögels insgesamt etwa 60 Studien sind eine wahre Fundgrube, eine gewaltige Ansammlung von Material samt klug formulierten Erkenntnissen dazu. Der Autor betreibt hier fürwahr Archäologie: Er gräbt aus und holt ans Licht; er schaut, hört, riecht, schmeckt und fühlt. Damit gerät im Grunde genommen fast alles in sein Blickfeld. Hingegen geht es ihm nicht um die großen (oder auch kleineren) Figuren der Geschichte beziehungsweise die bedeutenden (oder auch weniger folgenreichen) historischen Ereignisse. Über die wichtigen Gestalten und Meilensteine der sowjetischen Geschichte kann man sich an anderer Stelle zur Genüge informieren. Schlögel wendet sich dem Alltag zu, den Örtlichkeiten, der Umgebung, dem Gefüge, in dem sich das Leben von Millionen meist ganz durchschnittlicher Menschen abspielte.

Das führt den Autor nicht etwa zu einer idyllischen, idealisierten Darstellung. Die Schrecken des sowjetischen Jahrhunderts fehlen keineswegs. Schlögel verschweigt nicht, dass zahlreiche Großprojekte wie etwa der Bjelomor-Kanal im russischen Norden nur aufgrund von Zwangsarbeit verwirklicht werden konnten. Auch die Gefängnisse und Lager vergisst er nicht: Im Kapitel „Kältepol Kolyma“ nimmt er beispielsweise die eisigen Temperaturen im äußersten Nordosten der Sowjetunion zum Anlass, um über Leben und Sterben im Gulag zu reflektieren.

Schlögel war nie ein Osteuropaexperte, der nur aus dem Elfenbeinturm heraus gewirkt hat. Er hat die Sowjetunion seit den 1960er Jahren kreuz und quer bereist und dabei auch die tiefe Provinz nicht gemieden. Er hat mit zahlreichen Menschen gesprochen und sich gewissermaßen Bilder von der sowjetischen Realität verschafft. Die gesammelten „Lokaltermine“ kommen seinem gewaltigen Projekt nun zugute. Schlögels Werk zeichnet immer auch aus, dass er nicht nur als Historiker reflektiert: Er vermag es, auch andere wissenschaftliche Disziplinen fruchtbringend einzubeziehen. Darüber hinaus sind seine Sinne auch für die Kunst und die Literatur geschärft.

Das sowjetische Jahrhundert ist zugleich Nachschlagewerk wie Lesebuch. Selbst wer mit der Sowjetunion und ihrer Geschichte bereits gut vertraut ist, dürfte hier noch Neues finden. Die Sprache des Buchs ist auch bei der riesigen Fülle an Material stets elegant, gediegen und gut zu lesen. Einige der Studien sind bereits früher entstanden, was man allerdings erst aus dem Vorwort erfährt. Trotzdem wirkt das Buch dank des klaren Aufbaus und den glatten Übergängen wie aus einem Guss. Einer Gefahr ist sich der Autor durchaus bewusst – und es scheint, dass er ihr letztlich doch nicht immer ganz entgehen konnte: Die getroffene Auswahl der Themen kann bisweilen ein wenig beliebig wirken. Auch wird sich mancher Leser wohl an einigen Stellen etwas erschlagen fühlen von all den unterschiedlichen Dingen, die Schlögels Archäologie an die Oberfläche befördert. Man tut daher gut daran, diese Enzyklopädie nicht in einem einzigen Zug durchzulesen, sondern am besten kapitelweise und je nach eigenem Interesse vorzugehen. Dank des transparenten, detaillierten Inhaltsverzeichnises wird einem das leicht gemacht.

In einem der kürzeren Kapitel mit dem Titel „Das Diorama: Ausblick auf eine Landschaft mit Helden“ analysiert Schlögel die groß angelegten Panoramen, die seit dem 19. Jahrhundert in Europa eine Blüte erlebten. Von leicht erhöhter Warte konnten die Betrachter ein historisches Ereignis betrachten, das man nachgestellt hatte – zumeist irgendeine Schlacht. Wie Schlögel in der Folge aufzeigt, blieben solche Panoramen auch während der Sowjetzeit beliebt. Man könnte sein Buch ebenfalls als ein Art Diorama bezeichnen: Es ist eben jene weite, vielgestaltige Landschaft, in der der „rote Mensch“ gelebt hat.

Titelbild

Karl Schlögel: Das sowjetische Jahrhundert. Archäologie einer untergegangenen Welt.
Verlag C.H.Beck, München 2018.
912 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-13: 9783406715112

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