Das dokumentierte Gewissen Russlands

Die warnenden Stimmen des Bandes „De profundis“ hatten im 20. Jahrhundert ihren prophetischen Charakter schmerzhaft unter Beweis gestellt

Von Volker StrebelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Strebel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der von Ulrich Schmid neu herausgegebene Band De profundis erreichte nicht nur das deutsche, sondern auch das russische Publikum mit jahrzehntelanger Verspätung, die ungewöhnlichen Umständen geschuldet ist. Die russische Oktoberrevolution bildete den Anlaß für das Zustandekommen dieser Sammlung von elf Aufsätzen und hatte zugleich die Auslieferung der bereits gedruckten Ausgabe im Jahr 1918 verhindert. Es folgten Bürgerkrieg und jahrzehntelange Sowjetherrschaft, bis dieser aufregende und unverändert aktuelle Beleg eines freien russischen Denkens 1991 in Russland erscheinen konnte.

Die meisten der Autoren des Bandes hatten sich bereits in jenem legendären Sammelband Vechi (Wegzeichen) zu Wort gemeldet, der 1909 in Russland für großes Aufsehen gesorgt hatte. Als gemeinsamen Nenner hatten sie sich gegen eine damals in Russland vor allem in Kreisen der Intellektuellen, der sogenannten Intelligenzja, verbreiteten „Mystik der Revolution“ (Simon Frank) stark gemacht. Dabei spielt die Tatsache, dass es sich bei vielen dieser Autoren um frühere Parteigänger des Marxismus und des russischen Sozialismus gehandelt hatte, eine entscheidende Rolle. Sie wussten, worüber sie sprachen und wovor sie eindringlich warnten!

Einig sind sich die versammelten Autoren, trotz durchaus unterschiedlicher politischer wie auch philosophischer Standpunkte in ihrer klaren Ablehnung der russischen Oktoberrevolution, die sie als dramatischen Auftakt einer Entwicklung ansahen, die zur „moralischen und politischen Katastrophe“ (Pjotr Struve) für das ganze Land, seiner Kultur und Werte sowie nicht zuletzt auch der russischen Sprache führen würde. Die Autoren wiesen nicht nur auf die sichtbaren Zerstörungen im Land hin, die im Zuge der Revolution angerichtet wurden, sondern prognostizierten zudem eine Devastierung der menschlichen Seelen.

Sergej Askoldow bilanziert eine Reihe von Vorgängen der Lüge und des Betruges: „Überhaupt lag nicht in den rasenden animalischen Instinkten das Hauptübel des sogenannten ‚bolschewistischen‘ Umsturzes und der Inbesitznahme Russlands, sondern in der Lüge und in dem Betrug, in dem Strom falscher Losungen und Sätze, mit denen das Bewußtsein des Volkes überschwemmt wurde“. Die Lüge zeigte sich nicht zuletzt in der frechen Umbenennung historischer Tatsachen. Die sich Bolschewiki, also „die Mehrheit“ nennenden Revolutionäre hatten niemals freie Wahlen gewonnen und bildeten lediglich eine politische Minderheit ab. Auch bei der „Großen sozialistischen Oktoberrevolution“ handelt es sich um ein ideologisches Konstrukt, zumal es sich lediglich um den Putsch einer entschlossenen leninistischen Kaderpartei handelte. Ahnungslos war auch hier die politische Öffentlichkeit in Europa den offiziösen Verlautbarungen gefolgt.

Die unheilvollen Ahnungen der vorliegenden Wortmeldungen sollten sich auf bestürzende Weise bestätigen. In den Jahrzehnten sowjetischer Herrschaft hat sich eine selbstzerstörerische Mentalität herangebildet, die das russische Land bis in die heutige Zeit im Würgegriff hält. Auch im aktuellen Ukraine-Konflikt hat sich diese bolschewistische Tradition des verlogenen Reflexes ein weiteres Mal bemerkbar gemacht. Unbestreitbare Fakten wie etwa von Minen bestückte Landstriche werden nicht etwa gerechtfertigt, sondern anderen in die Schuhe geschoben oder schlichtweg bestritten. Der zynische Tschekist weiß, dass es genug einfache Geister gibt, die das Vorgegebene glauben, weil sie es nicht anders wissen können, und er kennt Mechanismen, die kritischen Stimmen zum Schweigen zu bringen.

Einer der Vorzüge des Sammelbandes liegt auch in der Herangehensweise seiner Autoren begründet, die nicht nur unerbittlich die fatale Katastrophe der Revolution in Russland zur Kenntnis nehmen, sondern zugleich versuchen, die verantwortlichen geistigen und politischen Strömungen in der Geschichte des Landes kenntlich zu machen. So werden in den Beiträgen Sozialismus, Kultur und Bolschewismus von Alexander Isgojew oder Das Tosen des Volkes von Walerian Murawjew Anläufe unternommen, die Rolle der sogenannten Intelligenzija in der spezifischen historischen Entwicklung Russlands zu analysieren. Neben einer unspezifischen Verklärung des „Volkes“, mit dem die polemisierende Intelligenzija praktisch aber nichts gemein hatte, wurden Ideen eines russischen Sozialismus propagiert, deren moralischer Rigorismus in der weltanschaulichen Unbarmherzigkeit der Bolschewiki gipfelten. Wer den Schlüssel zur Lösung aller sozialen und politischen Fragen besitzt, dem scheint demnach erlaubt zu sein, sämtliche Mittel anzuwenden.

Naturgemäß philosophischer fällt Nikolaj Berdjajews Beitrag Die Geister der russischen Revolution aus. Besondere Aufschlüsse über die Gegenwart findet Berdjajew in der spezifisch russischen Tradition, die weit auseinander liegenden Kulturmodelle der Apokalypse und des Nihilismus zuweilen in komplizierter Weise zu vermischen. Auf der Strecke bleibt ein pragmatisch veranlagter lebensweltlicher Diskurs jenseits aller angestrengten Erlösungsvisionen.

Simon Frank, einer der bedeutendsten russischen Philosophen des 20. Jahrhunderts, macht in seinem Beitrag De profundis eine nachgerade biblisch-apokalyptische Dimension der russischen Revolution aus. Beim Zuordnen historischer, philosophischer, politischer und soziologischer Stränge sah er sich schließlich mit der Frage konfrontiert, warum gerade Russland in diese existentielle Krise geraten war. Angesichts der Komplexität dieser monströsen Vorgänge findet sich keine einfache Antwort, aber Frank ahnt in der „Spaltung zwischen Glauben und Leben“ eine unheilvolle Entwicklung, mit der sich erklären lässt, wie diese Katastrophe geschehen konnte: „Das russische religiöse Bewusstsein ist allmählich vom Leben und aus dem Leben verschwunden, es hat gelernt und gelehrt, zu dulden und zu leiden, aber nicht zu kämpfen und das Leben zu gestalten“. In der Folge wurden gesunde Empfindungen nicht ernst genommen und konnten umso einfacher von Fanatikern aller Couleur, von russischen Rechtsextremisten wie auch von den Bolschewiki instrumentalisiert werden.

Ausdrücklich wendet sich Frank gegen jene Stimmen, die im ungebildeten und zurückgebliebenen Volk die Erklärung für die exzessive Entwicklung im Land ausmachen. Er sieht im Gegenteil ebenfalls die Verantwortung der Intelligenzija, die bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts in umstürzlerischen Visionen die Lösung aller gesellschaftlichen und politischen Herausforderungen sah. Ihre moralische Unerbittlichkeit hatte letztlich zur Aufwiegelung geführt. Statt analytischer Differenziertheit und politischen Kompromissen wurde einem verantwortungslosen Utopismus gehuldigt. Der gesamteuropäische Zivilisationsbruch des Bolschewismus zeitigte hingegen bislang nie geahnte Folgen, die sich in Russland letztendlich in der Verwüstung des eigenen Landes niederschlugen.

Auf originelle Weise entfaltet Sergej Bulgakow in seinem Artikel Beim Gastmahl der Götter. Pro und contra anhand fiktiver Gesprächspartner einen aufregenden Austausch über Hintergründe der russischen Ideengeschichte. Das Ausleuchten verschiedenster Traditionsstränge und politischer Entwicklungen führt unter anderem zur Feststellung, dass die russische Revolution nicht das Werk einiger von fremden Mächten bezahlter Finsterlinge oder irgendwelcher Verschwörer war. Ihr Zustandekommen lässt sich durchaus unter Einbeziehung aller Facetten rekonstruieren. In besonderer Weise aufschlussreich ist in Bulgakows Gesprächen der „Fünfte Dialog“, der die Ambivalenz der orthodoxen russischen Kirche ausleuchtet. Dem Versagen der institutionalisierten Amtskirche steht eine tief empfundene Religiosität gegenüber, die nicht zertreten werden kann.

Der Grad der geistigen wie patriotischen Verwahrlosung, den die Autoren von De profundis in eindrucksvollen Szenarien beschrieben hatten, hält indes bis heute an. Nicht zuletzt als gläubige orthodoxe Christen hätten sie sich kaum vorstellen können, dass der Patriarch der Russischen Orthodoxen Kirche dem Vorsitzenden der Kommunistischen Partei der Russischen Föderation, wie im Jahr 2014 geschehen, mit einem hohen Orden auszeichnen würde.

Mit der gebührenden Umsicht hat der Herausgeber Ulrich Schmid herausragende Übersetzer für diese wertvolle Ausgabe gewinnen können. Zudem gewährleisten biografische Angaben zu den Verfassern, kundige Anmerkungen, eine vorzügliche Einleitung von Karl Schlögel sowie der abschließende fundierte Überblick Von der politischen Verantwortung der Intellektuellen. Eine russische Debatte des Herausgebers eine würdige Präsentation dieses wichtigen Schlüsselwerkes der russischen Geistesgeschichte.

Titelbild

Ulrich Schmid (Hg.): De profundis. Vom Scheitern der russischen Revolution.
Mit einer Einleitung von Karl Schlögel.
Übersetzt aus dem Russischen von Anselm Bühling, Helmut Dahm, Dagmar Herrmann, Gabriele Leuold, Dorothea Trottenberg, Volker Weichsel und Regula Zwahlen.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2017.
568 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783518420096

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