Von Anton, Zylinder, Utopie und MOSAIK.
Über ein Kompendium zur Kinder- und Jugendsachbuchliteratur in der DDR
Von Martin Meier
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDie Kinderliteratur der DDR schöpft ihren besonderen Reiz nicht zuletzt aus ihrem gewaltfreien Gehalt und aus dem grundsätzlich mit ihr verbundenen pädagogischem Anspruch. Dieser Anspruch, Menschen zu formen, kann im Hinblick auf das Ziel jenes Bemühens kritisch hinterfragt und die ideologische Basis aufdeckend veranschaulicht werden. Oder die künstlerische Gestaltung der überlieferten Bücher wird unvoreingenommen untersucht und ihre inhaltliche Vielfalt verdeutlicht. Ihr oft bleibender Wert würde so sichtbar. Dies und mehr leistet der vorliegende Sammelband Sebastian Schmidelers. Er vereint unter dem Titel Wissensvermittlung in der Kinder- und Jugendliteratur der DDR Beiträge einer 2016 in Chemnitz tagenden Konferenz und zahlreiche zum damaligen Zeitpunkt nicht vorgetragene Aufsätze.
Der mit anschaulichen Illustrationen versehene Band gliedert sich in fünf Abschnitte, in denen Themen, Strukturen, Formen und Illustrationen der DDR-Kindersachbuchliteratur nachgegangen wird.Der Herausgeber eröffnet den Beitragsreigen mit einem Überblick über das Thema und dem gegenwärtigen Stand der Forschung. Die klare Genreabgrenzung problematisierend, verdeutlicht Schmideler die enge Verwobenheit fiktionaler und faktualer Elemente, die im Kinder- und Jugendsachbuch in besonderem Maße zugegen erscheint. Schmideler widmet der DDR-Sachbuchforschung einen eigenen Abschnitt innerhalb seines Beitrages und verdeutlicht so das zumindest implizierte Ineinandergreifen von theoretischer Basis und praktischer Umsetzung. Er hebt hervor, dass Sachliteratur „stets auch Weltanschauungsliteratur“ gewesen sei. So wird deutlich, in welchem weltanschaulichen Rahmen sich die gegenwärtige Forschung selbst bewegt. Schmideler hebt die Bedeutung einzelner Werke der DDR Kinderliteratur hervor, etwa die des Sprachspielbuches Die dampfenden Hälse der Pferde im Turm von Babel von Franz Fühmann. Diesem Werk widmet der in Mainz lehrende Professor Jörg Meibauer einen eigenen Beitrag.
Dem ersten Abschnitt des Buches (Grundlagen) ist neben Schmidelers einleitendem Beitrag ein Aufsatz Reiner Neuberts zugeordnet. Der bereits vor 1990 über viele Jahre in Chemnitz lehrende Literaturwissenschaftler darf als intimer Kenner der Kinder- und Jugendliteratur der DDR gelten. Er, dessen Positionierung zum DDR-Kindersachbuch unverkennbar positive Züge trägt, schildert wichtige Etappen der Entwicklung des Genres in der DDR und legt den Fokus auf einige hervorstechende Publikationen. Neben Fühmanns schon erwähnten Sprachspielbuch werden das beliebte Lexikon Von Anton bis Zylinder, Hannes Hüttners Saure Gurken für Kaminke, Reisebücher und Naturbildbände vorgestellt. Zudem öffnet Neuberts Aufsatz den Blick für Darstellung ökologischer Sachverhalte im ostdeutschen Kinder- und Jugendbuch.
Gina Weinkauff beginnt den zweiten Abschnitt (Themen) mit ihrem Aufsatz „Erzähl nur weiter Herr Urian“. Sie wendet sich der Kinderreiseliteratur im weitesten Sinne zu. Selbstverständlich dürfen in diesem Zusammenhang Erich Wustmanns Berichte nicht fehlen, Darstellungen der Reisen eines Mannes, der einst vor den Nationalsozialisten nach Skandinavien floh, später dann jedoch im „Dritten Reich“ Kinderbücher sowie Reiseberichte publizierte und nach 1945 wohl zum bekanntesten Reiseschriftsteller der DDR wurde. Darüber hinaus bezieht Weinkauff auch Werke der Abenteuerliteratur Ludwig Renns, beziehungsweise der noch heute von vielen Sammlern begehrten Reihe Spannend erzählt mit in ihre Betrachtungen ein. Auch Liselotte Welskopf-Henrich, deren kulturhistorisch akribisch recherchierte Romanreihe um den Dakotajungen Harka auch heute noch lesenswert ist, wird Raum gegeben. Dies zeigt die Weite des Blickfeldes einer Autorin, die wie schon der Herausgeber die Grenzen zwischen fiktionalen und faktualen Bestandteilen im Kindersachbuch auslotet. Resümierend verweist sie auf den Fakt, dass „der Mythos des Reisens [in der DDR] durch die Einschränkung der Freizügigkeit nachhaltig konserviert“ worden sei, eine Tatsache, die das Interesse an Reisebüchern unter Kindern und Jugendlichen mit bedingte.
Die jüngst mit einer akribischen Arbeit über Johann Gottfried Schnabels Wunderlichen Fata einiger Seefahrer hervorgetretene Heidi Nenoff wendet sich in ihrem Beitrag Zwischen Traum und Wirklichkeit der Darstellung literarischer Utopien in der Kinder- und Jugendliteraur zu und rückt hierbei vor allem Reimar Gilsenbachs Der ewige Sindbad und Joachim Walters Der Traum aller Träume ins Zentrum ihrer Untersuchung. Das auf Basis eingehender Betrachtungen gefällte Urteil gegenüber beiden Autoren und Werken könnte unterschiedlicher kaum geraten. Gilsenbachs Werk erscheint in Nenoffs Darstellung als vulgärmarxistische Agitatitionsschrift, Walters Buch hingegen als subtile Kritik am System. Gilsenbach tritt uns bei Nenoff als „Urkommunist“ entgegen, eine Formulierung, die nachhaltig Nenoffs Unkenntnis marxistischer Theorie bezeugt. Noch eindeutiger wird diese schwache theoretische Basis durch folgende Formulierungen: „Die Jugend der DDR darf und soll im Sinne sozialistischen vom Marxismus-Leninismus geprägten Wertesystems hoffen auf eine Zukunft, in der die Klassenwidersprüche aufgehoben, das Privateigentum ein für alle mal verbannt ist.“ Die Aneinanderreihung plakativer Behauptungen zeigt sich vor allem im ersten Abschnitt des Aufsatzes, in dem, bezugnehmend auf innerparteiliche Debatten Ende der 1970er Jahre, tatsächlich von „Todesurteilen gegenüber Klassenfeinden und oder Konterrevolutionären“ zu lesen ist. Es habe sich durch die Auseinandersetzung mit literarischen Utopien in der DDR die Möglichkeit geboten, „die Kernidee des Kommunismus, die von den Bonzen verraten worden war aus den Mottenkisten der Literaturgeschichtsschreibung hervorzuholen“. Eine wissenschaftliche Darstellung in einem derartigen Duktus zu verfassen, hält der Rezensent für unangebracht.
Zeugt Nenoffs Beitrag schon von geringem Bemühen, die behandelte Materie auf Basis historischer Kenntnisse zu durchdringen, erreicht der Sammelband einen Tiefpunkt mit dem anschließenden Aufsatz von Geralde Schmidt-Dumont. Neben einem mangelhaften Verständnis und kaum ernsthaften Interesse an der Materie gesellt sich Unkenntnis, etwa wenn Sie über das Buch von Heidemarie Näther Hinter den Mauern und Türmen ein Kulturbild aus der Zeit der Gotik schreibt: „Die Autorin übernimmt die Sicht des mittelalterlichen Menschen. Sie schildert emotionslos den Frondienst der Unfreien und preist den Reichtum der Bürger also der Kapitalisten der Ihnen die Möglichkeit gibt, bewunderungswürdige Kirchen bauen zu lassen […]. Es gibt nicht die Spur von Kritik an den Klassenverhältnissen.“ Nun steht aber außer Frage, dass nach marxistischem Verständnis das Bürgertum als fortschrittliche Kraft galt und sich so auch in Näthers Werk widerspiegelt. Bereits der Titel ihres Beitrages „Fortschritt versus Bewahrung“ deutet die schwache theoretische Basis an, da für Karl Marx und Friedrich Engels das bürgerliche Erbe als aneignungswürdig galt. Anderen von ihr ausgewählten Büchern wird sie durchaus gerecht, etwa wenn sie das in der Freizeitreihe erschienene Buch Überall Geschichte von Florian Osburg und Manfred Tunn als pädagogisch vorbildlich beurteilt, da die Wissensvermittlung mit zahlreichen Aktivierungsvorschlägen verbunden seien.
Schmidt-Dumont nähert sich den Büchern nicht nur auf ihrer textlichen Grundlage, sondern widmet sich auch deren Illustrationen. So konstatiert sie für das schon erwähnte Buch von Näther eine mangelhafte Text-Bild-Interdependenz. Sich dann Günter Domeys und Kurt Friedrich Nebels Tatra, Prag und Böhmerwald zuwendend, glaubt sie dort eine grundsätzlich andere Geschichtsbetrachtung zu finden als im Werke Näthers. Dieser Vergleich ist wenig zielführend. Schmidt-Dumont vergleicht ein sich dem Mittelalter widmendes Werk mit einer Landeskunde der Tschechoslowakei. Auch darüber hinaus wirft dieser Aufsatz einige unreflektierte Aussagen und sachliche Fehler auf.
Glücklicherweise bilden die beiden kritisierten Aufsätze Ausnahmen. Der anschließende Beitrag von Jana Mikotas wendet sich Natur- und Umweltfragen in Sachbüchern der Kinder- und Jugendliteratur der DDR zu. Mikotas urteilt differenziert, bietet Erkenntnisse zum Jugendsachbuch und zur Debatte über den Umweltschutz in beiden deutschen Staaten sowie den aktuellen Forschungsstand zur Umwelt und Naturschutz in der DDR. Sie zeigt hierbei auf, dass die Entwicklung in der DDR keineswegs mit Verzögerung, sondern in einigen Bereichen sogar der der Bundesrepublik voraus war. Kritisch setzt sich die Autorin mit Aussagen auseinander, die von westdeutschen Politikern nach der Wende über den Umweltschutz in der DDR getroffen wurden und verdeutlicht gerade anhand des Kinder- und Jugendsachbuches, dass diese Fragen in der DDR ebenso wie der Bundesrepublik seit den 1970er Jahren in verstärktem Maße diskutiert wurden. Auch verweist sie, wenn auch nur am Rande, auf die Reihe Der junge Naturforscher, in der bereits in den 1950er Jahren Umwelterziehung im sozialistischen Sinne betrieben wurde. Sachbücher in der DDR zum Thema Ökologie orientierten sich an dem Ideal der Aufklärung und der Wissensvermittlung.
Spannend liest sich ein mit Maren Ahrens, einer Lektorin der MOSAIKs, geführtes Interview. Die 1955 erstmals publizierte Bilderzeitschrift ist das älteste und nach wie vor auflagenstärkste in Deutschland produzierte Comic, obgleich der Rezensent diesen Ausdruck hier für unangemessen hält. Erzählt wurde bis 1975 die Geschichte der drei Kobolde Dig, Dag und Digedag, die durch die Weltgeschichte reisen und zahlreiche Abenteuer erleben. Ab 1976 übernahmen die neuen Figuren Abrax, Brabax und Califax. Historische Wissensvermittlung für Kinder- und Jugendliche, die mitreißend erzählt wird und dabei gänzlich gewaltfrei bleibt, dürfte ein Alleinstellungsmerkmal des MOSAIK gewesen sein.
Wiebke Helm leitet ihren Aufsatz mit der nach Gründung der DDR im Oktober 1949 erhobenen Forderung nach einer sozialistischen Kinder- und Jugendliteratur ein. Titel bürgerlichen Ursprungs sollten, so Helm, aus ideologischen Gründen nicht übernommen werden. Schon diese einleitenden Sätze sind insofern bemerkenswert, als dass es durchaus die Übernahme bürgerlicher Literatur gab, wie die Reihe Aus guten Büchern beweist, die im Volk und Wissen Verlag bereits ab 1947 erschien. In kleinen für Kinder und Jugendlichen herausgegebenen Heften wurde in 12 verschiedenen Kategorien zu einzelnen Sachthemen Stellung bezogen und auch bürgerliche Literatur veröffentlicht. Helm widmet sich vor allem zwei wesentlichen Publikationsformen. Zum einen gibt sie der Reihe Mein kleines Lexikon breiten Raum, zum anderen finden weitere lexikalische Werke zumindest am Rande Beachtung (Meyers Jugendlexikon, Von Anton bis Zylinder).
Helms Beitrag ist der erste des dritten Abschnittes, der sich den Formen der DDR-Kinder- und Jugendsachbuchliteratur widmet. Unter den weiteren Aufsätzen dieses Abschnittes ist für Leser, die mit dem Gegenstand wenig vertraut sind, Maria Beckers Darstellung besonders interessant, könnte er doch zur Wiederentdeckung der Reihe Ein Tag im Leben… beitragen. In ihr wurde das Leben einer bestimmten Tierart, wie Biene, Storch oder Fuchs aus Sicht eines einzelnen Individuums der jeweiligen Art beschrieben. Bedeutsam hierbei ist, dass die Autoren weitestgehend die Vermenschlichung des Tieres zu vermeiden wussten und den Gegenstand sachlich, aber dennoch spannend darboten.
Thomas Arnold wendet sich mit seinem Beitrag mit Herbert Mühlstädt dem „Meister und der zentralen Figur“ des Genres in der Geschichtserzählung der DDR zu. Ausgehend von einem beliebten Stilmittel Mühlstädts, dem des spannungsgeladenen Einstieges durch eine Nachtszene, zeigt Arnold die Bedeutung der Geschichtserzählung im geteilten Deutschland. Er widmet sich zunächst der Entwicklung in der Bundesrepublik, um dann auf die in der DDR einzugehen und sich schließlich Mühlstädt im Besonderen zuzuwenden. Auffällig ist die hervorragende Durchdringung des Themas und die Weitung des Blickfeldes auf andere Geschichtserzählungen innerhalb der DDR, etwa auf den für die Handlungsstränge des MOSAIK verantwortlichen Autoren Lothar Dräger. Eine stärkere Unterstützung erfuhr die Geschichtserzählung in den 1960er Jahren, durch die Arbeiten des ostdeutschen Geschichtsdidaktiker Bernhard Stohr, der die Bedeutung der Geschichtserzählung für den Unterricht in den unteren Jahrgängen betonte. Hieraus resultierte die Erarbeitung von Unterrichtsmaterial in Form des Geschichtslesebuch. Arnolds Darstellung ist dem vierten Abschnitt (Strukturen) zugeordnet, zu dem der Herausgeber wiederum einen eigenen Aufsatz zur Anschauungsbildung beisteuert.
Die Vermittlung von Wissen in Texten, die an Kinder und Jugendliche gerichtet waren, ist spätestens seit der Frühen Neuzeit immer auch mit dem Bemühen um Anschaulichkeit verbunden. Besondere Impulse erhielt die „anschauungsgeleitete Wissenschaftsvermittlung“ durch Johann-Heinrich Pestalozzi. Diese Traditionen vertieften sich im Zuge des 19. Jahrhunderts und wurden auch im nachfolgenden Säkulum fortgesetzt. So erhielt das Prinzip der Anschaulichkeit in der Sachbuchproduktion der DDR ein hohes Maß an Aufmerksamkeit. Besondere Bedeutung kam der Anschaulichkeitsbildung im Rahmen des Schulunterrichtes zu. Als Tendenzwende bezeichnet Schmideler den VIII. pädagogischen Kongress, auf dem Margot Honecker im Jahr 1978 eine „starke Betonung der emotionalen Komponente des Lernens“ forderte. Emotionalisierung und Ästhetisierung wurden wesentliche Ziele der Anschauungsbildung in der Kinder- und Jugendliteratur. Bildlichkeit diente vordergründig der Emotionalisierung der jungen Leserschaft und einer höheren Kontextualisierung, des durch das Lesen erfahrenen Stoffes. Schmiedeler wendet sich der theoretischen Durchdringung von Sachbuchillustrationen durch Illustratoren der DDR zu, beispielsweise verweist er auf das „beachtliche Reflexionsniveau“. Der Zeichner Harry Günther etwa unterschied drei Kategorien der Illustrationsfunktionen: dokumentarische Bilder, fotografische Abbilder und Wissensbilder. In Publikationen wie Reimar Gilsenbachs Rund um die Erde, Bernd Wolfs Von Klöstern und Burgen oder Heidemarie Nöthers Hinter Mauern und Türmen wird die Vielfalt der verwendeten Illustrationstechniken auch innerhalb eines einzelnen Buches verdeutlicht.
Der vorliegende Sammelband kann in seiner Vielschichtigkeit hier nur angedeutet werden. André Barz Beitrag über die Geschichtserzählungen Gerda Rottschalks verdiente ebenso Aufmerksamkeit wie Bettina Kümmerling-Meibauers und Jörg Meibauers interessanter Beitrag zur Propaganda in deskriptiven DDR-Bilderbüchern.
Der Schwerpunkt des Buches liegt eindeutig auf der Kinderliteratur. Etwas unterrepräsentiert erscheint die Jugendliteratur. Zwar verdeutlichen einige Beiträge anhand von Beispielen wie Der junge Naturforscher den Bereich des Jugendsachbuches, jedoch bleiben bemerkenswerte Publikationen außer Acht oder werden nur am Rande behandelt, wie beispielsweise die Buchreihe Akzente, die reich illustriert, in populärwissenschaftlicher Form jungen Erwachsenen einen bestimmten Gegenstandsbereich erschloss. Der Ansatz, auch das MOSAIK in die Darstellung einzubeziehen, ist sinnvoll gewählt. Wünschenswert wäre es gewesen, weitere Zeitschriften für Kinder- und Jugendliche mit in die Sammlung aufzunehmen. Hier wären allen voran sicherlich Fröhlich sein und singen (Frösi), Atze oder Jugend und Technik in Betracht zu ziehen. Auch sie enthielten, so wie nahezu alle Kinder- und Jugendzeitschriften in der DDR, Sachthemenbezug.
Trotz einiger Schwächen ist der vorliegende Band ein unverzichtbares Kompendium für jeden, der sich künftig mit dem Kinder- und Jugendsachbuch der DDR befasst. Durch die Breite der Themen, durch Tabellen und Bildmaterial und vor allem durch die jedem Beitrag beigefügten Literaturlisten erhält der Band handbuchartigen Charakter.
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