Eine kleine Phänomenologie der Geister von ’68

Christoph Schmidts Dechiffrierung großer Komposita wie Überidentifikation, Schuldverschiebung und Schuldverweigerung

Von Lukas PallitschRSS-Newsfeed neuer Artikel von Lukas Pallitsch

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein etwas anderes Buch über die Zahlenikone ’68 hat Christoph Schmidt geschrieben. Weil Ikonen als Abbilder immer auf ihre Urbilder verwiesen sind, spannt sich ein breiteres Feld an Begriffspaaren auf: Väter und Söhne, 1945 und 1968, Deutsche und Juden, Schuld und Sühne usw. In diesem groß angelegten Essay geht der Autor der Wiederkehr und Verschiebung der Schuld von Auschwitz nach und unternimmt einen sprachlich wie gedanklich luziden Versuch einer politisch-theologischen Entmythologisierung des Ikonenjahres.

Wer um 1800 eine Gespenster- oder Geisterstunde schrieb, versuchte entweder, an die Romantik anzuschließen, oder sucht eine Anlehnung an Kants „Kritik des Geistersehens“. Seit Theodor W. Adornos Dialektik der Aufklärung weiß man, dass sich mit der Zerstörung der Geister auch deren Wiederkehr verbindet. Im Anschluss an Adornos Sensorium für die politischen und messianischen Mentalitäten der 68er-Bewegung entwickelt Schmidt eine Art „Phänomenologie der Geister“. Ausgangspunkt von Schmidts Überlegungen ist, dass die imaginierte Identität der Bewegung messianisch war und bis hin zur radikal jüdischen Identifikation ging. Die Studenten erkannten in den jüdischen Intellektuellen Theodor W. Adorno, Walter Benjamin, Ernst Bloch und Herbert Marcuse ihre geistigen Väter, die ihre biologischen Väter für die Shoah inkriminiert hatten. Nur wer dieser messianischen Logik zu folgen bereit ist, so Schmidts Weiterführung der These, könne die Bedeutung von Auschwitz ermessen. Doch an diesem Punkt haftete auch theologisches Sprengpotential, weil eine solche messianische Logik einen Konflikt zwischen real existierenden Überlebenden und der politisch messianischen Bewegung heraufbeschwor: Die messianischen Revolutionäre meinten die Bedeutung von Auschwitz begriffen zu haben und damit weiter gekommen zu sein als die Überlebenden. Damit wurde das topographisch existierende „Israel im Fleische“ von einem messianischen „Israel im Geiste“ überboten, aber – zumindest sprachlich („Alter Bund“ und „Neuer Bund“) – auch substituiert. In dieser „Geisterdämmerung“ kam es nicht nur zur Verklärung der geistigen Väter, zur rhetorischen Überidentifikation mit den Opfern, sondern auch zu studentischen Phantasien von einer expressionistisch gefärbten Art „neuer Mensch“.

Ausgangspunkt des Essays ist Theodor W. Adorno, der in seinem Großprojekt, der Erneuerung der kantischen Aufklärung, diese von den messianischen Tendenzen der politischen Theologie zu befreien suchte. Adornos Motiv dafür war nach Schmidts Einschätzung, den messianischen Geistern im Voraus den aktivistischen Stachel sprachlicher Gewalt zu entziehen. Im weiteren Verlauf des Essays folgt Schmidt den sprachlichen, politischen und theologischen Spuren von Herbert Marcuse und Ernst Bloch. Mit großer Akribie und einem sorgfältigen Sprachsensorium gelingt es dem Autor zu zeigen, wie stark deren Vokabular theologisch gefärbt ist („Erbsünde“) und wie sehr Marcuse dezisionistischen Begriffen anhaftet. Dies lässt sich bei Rudi Dutschke als „Urmodell des messianischen Revolutionärs“ ebenso beobachten. In Blochs Münzer-Schrift konnte Dutschke jene messianisch-politische Theologie entdecken, die sein revolutionär messianisches Selbstbewusstsein ausbildete. In Blochs „Thomas Münzer als Theologe der Revolution“ sind bereits 1921 die gnostischen Begrifflichkeiten angelegt, die analytische Argumentationslinien und damit den kantischen Vernunftbegriff vehement hinter den messianischen Enthusiasmus zurückdrängen. Problematisch wird nach Schmidt diese messianische Logik dort, wo sie radikal antizionistisch argumentiert und eine universal messianische Position gegen den zionistischen Staat in Anschlag bringt.

Es gehört zu den großen Leistungen dieses Essays, auf diese „messianische Differenz“ zwischen der imaginierten jüdisch-messianischen Identität der geistigen Söhne und den real existierenden Juden aufmerksam zu machen. Problematisch wurde eine solche Kryptotheologie vor allem dann, wenn sich mit der imaginierten Identität ein jüdisch revolutionärer Gestus verband, der gegen die nicht-messianischen, im Grunde dann nichtjüdischen Juden ausgespielt wurde. Schmidt schärft den Blick für die theopolitisch großen blinden Flecken der Bewegung, doch sind seine argumentativen Linien nicht immer einfach nachzuvollziehen. Dafür mag es zwei Gründe geben: Zum einen handelt es sich weniger um eine historisch stringente Rekonstruktion der Ereignisse als vielmehr um eine „Phänomenologie der Geister“ von ’68. Für diese sollte man zum anderen nicht nur mit dem Vokabular der kritischen Theorie, sondern auch mit jenem des politischen Messianismus und der Psychologie Freuds vertraut sein sollte. Denn stellenweise schwingt sich Schmidt in seiner deutschen Geistergeschichte in durchwegs gekonnter Weise auf die Höhe derer, die er dechiffriert.

Titelbild

Christoph Schmidt: Israel und die Geister von ’68. Eine Phänomenologie.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2018.
201 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783525351192

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