Wenn Literaturwissenschaftler nach der großen Liebe suchen

Helmut Schmiedts Professorennovelle „Der schamlose Goethe“

Von Maximilian LippertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Maximilian Lippert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Scham gilt als uralter menschlicher Affekt, sie ist schon biblisch in der Geschichte von Adam und Eva bezeugt. Fast ebenso alt scheint die Klage über den individuellen wie kollektiven Schamverlust zu sein. Bereits im 5. Jahrhundert v. Chr. nennt Euripides Schamlosigkeit in seinem Drama Medea „die schlimmste aller menschlichen Krankheiten“ und der Psychoanalytiker Henry Löwenfeld stellt in den 1970er Jahren fest, er lebe im „Zeitalter der Schamlosigkeit“. Der schamlose Mensch sei nach Löwenfelds Kollege Léon Wurmser nicht selten eine tief gedemütigte, grausam beschämte Person, die durch die Herabsetzung seiner Umgebung der Verachtung seiner selbst Herr zu werden versucht. So arg ist es zwar um Klaus Theo Gärtner, den Protagonisten aus Helmut Schmiedts Der schamlose Goethe, nicht bestellt, doch auch er hat im Umgang mit seinen Mitmenschen, vornehmlich im Liebesleben, mit einigen Problemen zu kämpfen, welche er auf eine gänzlich schamlose Art und Weise zu beheben versucht.

Schmiedt ist nicht der erste Hochschulgermanist, der sich abseits seiner wissenschaftlichen Studien an eigener fiktionaler Literatur erprobt, aber vielleicht der bislang einzige, der einen W3-Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft zur Hauptfigur seiner Novelle macht. Klaus Theo Gärtner lehrt und forscht an einer mittelgroßen Universität in Niedersachsen und beschäftigt sich, wie auch Schmiedt selbst, mit der Literatur des 18. Jahrhunderts sowie mit Populärkulturellem wie etwa Edgar-Wallace-Filmen, welche er regelmäßig zu Illustrationszwecken in seine Lehrveranstaltungen einbindet. Diese sind nicht zuletzt aufgrund solcher Reminiszenzen anschaulich und unterhaltsam, aber deswegen nicht weniger anspruchsvoll, was dem Hochschullehrer in der Studentenschaft einen durchaus guten Ruf eingebracht hat. Auch unter Fachkollegen werden seine wissenschaftlichen Publikationen aufgrund ihrer analytischen Schärfe sowie ihres Witzes wohlwollend rezipiert. Beruflich befindet sich Gärtner in seinem vierzigsten Lebensjahr somit bereits auf dem Gipfel seiner universitären Laufbahn.

In seinen Beziehungen zu Frauen stellte er sich jedoch bisher weniger geschickt an, pflegte sie mit literarischen Anspielungen in intimen Momenten zu ruinieren, denn Gärtner besteht darauf, seine Affinität für ästhetische Gegenstände nicht nur in der beruflichen, sondern auch in der privaten Sphäre zur Geltung zu bringen. Aus diesem Grund fasst er den Entschluss zu einem „absonderlichen Bubenstück“, wie er sein Vorhaben in Anlehnung an Heinrich Spoerls Roman Der Maulkorb nennt: Er konzipiert eine Vorlesung mit dem Titel „Der schamlose Goethe“, in der es nicht nur um die Schamlosigkeit des größten deutschen Dichters geht, sondern auch um seine geradezu unverschämte Suche nach einer zukünftigen Partnerin, welche er unter den weiblichen Studierenden zu finden hofft. Diese öffentliche Verkündigung ruft im weiteren Verlauf des Semesters die vielfältigsten Reaktionen auf den Plan.

Die Kollegen reagieren zumeist gelassen, eine befreundete Kunsthistorikerin gibt jedoch deutlich ihre Zweifel zu erkennen und ein älterer Romanist klagt Gärtner, dass dieser nun in seinem Gehege wildere. Die Lokalpresse schlachtet das Thema aus, was zu deutlich erhöhten Besucherzahlen der Vorlesung führt. Prangern der AStA und die Gleichstellungsbeauftragte das Ausnutzen patriarchaler Machtverhältnisse an, versichern einzelne männliche Studierende dem Professor wiederum ihre Solidarität, einer sieht sich durch Gärtners Offerte sogar zu einem Gedicht im Stil der Konkreten Poesie inspiriert. Das Gros der Nachrichten, die der Professor erhält, ist jedoch obszönen oder pornographischen Inhalts, andere eher dümmlich oder gehässig, manche eine Kombination aus allem zusammen. Außerdem ereilen Gärtner skurrile Drohnachrichten und er wird gar Opfer einer schaurigen Inszenierung in seinem nächtlichen Garten. Schließlich reagiert aber auch die von ihm angesprochene Frauenwelt und es kommt im Laufe des Semesters zu Rendezvous mit Studentinnen, die mehr oder weniger erfolgreich verlaufen, Gärtner aber nicht zu seiner zukünftigen Partnerin führen. Vielmehr wird er in einem Fall regelrecht zum Narren gehalten und anschließend verhöhnt. Frustriert vom Ergebnis seiner Unternehmung nimmt sich Gärtner vor, ein weiteres Mal die Schamlosigkeit zum Gegenstand seiner Wissenschaft zu machen und gleichzeitig performativ zu inszenieren, um sich so für all den Spott, die Unannehmlichkeiten und Belästigungen an seiner Umgebung zu rächen. So kommt es während seines Vortrags bei der hiesigen Goethe-Gesellschaft zu einem handfesten Skandal und schließlich trifft er auch auf eine Person aus seiner Vergangenheit, der seine schamlose Suche nicht verborgen geblieben ist.

Die Novelle erzählt nicht nur die Geschichte eines Literaturprofessors, dessen Charakter irgendwo zwischen Narzissmus und Liebenswürdigkeit changiert, sondern bietet gleichzeitig auch eine verknappte Goethe-Vorlesung. Es geht um derbe Körperlichkeit in der Lyrik des Dichters wie die sadomasochistischen Sexualpraktiken in Der Gott und die Bajadere oder eine Erektionsstörung im Tagebuch, um die Anziehungskraft jüngerer Frauen auf die gesetztere Männerwelt in den Wahlverwandtschaften oder einen masturbierenden Werther. Auch die vulgären Namen der Figuren aus Hanswursts Hochzeit und die obszönen Schilderungen in den unterdrückten Walpurgisnachtszenen aus Faust I werden behandelt, sowie schließlich das berühmte „im Arsche lecken“ aus Götz von Berlichingen. Und ganz nebenbei erfährt der Leser etwas über die Sozialgeschichte der Aufklärung, poetische Neuorientierungen im Sturm und Drang oder den Inszenierungscharakter von Literatur.

Durch die Figur Gärtners werden zudem mehr oder weniger explizit immer wieder einzelne bekannte literaturwissenschaftliche Publikationen oder Forschungsrichtungen kommentiert. So wird die Herkunft Gärtners aus einem protestantischen Pfarrhaus zu einem Hinweis auf Albrecht Schönes Habilitationsschrift genutzt und die kulturwissenschaftliche Aktualität des Themas Schamlosigkeit mit einem Verweis auf das jüngst erschienene Buch aus der Feder des Literaturkritikers Ulrich Greiner betont. In seiner Vorlesung nimmt der Professor Bezug auf Kurt R. Eisslers umfangreiche psychoanalytische Goethe-Studie, ferner auf Ettore Ghibellinos umstrittene These vom Verhältnis Goethes zu Anna Amalia. Neben dem Wahlverwandtschaften-Kommentar des Medienwissenschaftlers Norbert Bolz sowie den Gedichtinterpretationen zu Wilkomm und Abschied von Eckhardt Meyer-Krentler oder zum Heidenröslein von Peter von Matt geht Gärtner schließlich auch auf Schmiedts eigene literaturpsychologische Deutung der Werther-Figur ein. Die „intellektuelle Steif- und Knickebeinigkeit vieler Goetheaner“ wird bemängelt und die dekonstruktivistische Textinterpretation als „zur Schablone geronnene[r] Begriff aus einer der jüngsten germanistischen Moden“ kritisiert. Auch generell sei das „Gerede vom Tod des Autors“ laut Gärtner, der „den persönlichen menschlichen Faktor“ in Kunst und Literatur betont, „zum Glück wieder weitgehend verstummt“.

Schmiedt schreibt nicht nur, aber doch insbesondere für Literatur- und Goethe-Interessierte oder Germanistikstudenten. Sein Wortwitz entsteht oft durch bildungssprachliche Formulierungen, die im formalen Gegensatz zu den von ihnen beschriebenen Dingen stehen. So ist etwa von „dionysische[n] Erfahrungen“ oder „ejakulative[m] Ertrag“ die Rede. Dazu gesellen sich kleine politische Unkorrektheiten wie belustigende Anspielungen auf die neuerdings eingeführten Bezeichnungen der Gleichstellungsbeauftragten sowie des Studierendenausschusses oder die Schilderung des enormen Lautstärkepegels eines „interkulturelle[n] Miteinander[s]“ an einem Cafétisch. Nicht weniger humorvoll sind die seltenen Stellen, in welchen sich die Erzählinstanz direkt an die Leser wendet, um etwa zu verbürgen, dass die Handlung der Novelle auf keiner wahren Begebenheit beruhe. Die Fachtermini, die universitätsspezifischen Gegenstände sowie die literaturhistorischen Anleihen sprechen also eine bestimmte Leserschaft an. Denn wer kennt schließlich Goethes Vorstellungen über Polarität und Steigerung? Und gerade die sind es, welche am Schluss der Novelle als eine Art Schlüssel fungieren könnten, um das offen gehaltene und durchaus überraschende Ende weiterzudenken.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Helmut Schmiedt: Der schamlose Goethe. Eine Professorennovelle.
Königshausen & Neumann, Würzburg 2019.
119 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783826067105

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch