Schöngeistige Schöpfung und reales Erleben
Zum Tod der Literaturwissenschaftlerin und ehemaligen Sekretärin der Schwedischen Akademie Sara Danius
Von Holger Wolandt
Am 12. Oktober 2019 starb in Stockholm die schwedische Literaturwissenschaftlerin und ehemalige Sekretärin der Schwedischen Akademie Sara Danius. Sie machte sich als Literaturkritikerin der größten schwedischen Tageszeitung Dagens Nyheter und Professorin in Literaturwissenschaft an der Universität Stockholm einen Namen. Im Jahr 2013 wurde sie, 51 Jahre alt, in die Schwedische Akademie, Wahlspruch: „Snille och Smak“ (Genie und Geschmack), gewählt. Ihre Antrittsrede hielt sie auf ihren Vorgänger, den konservativen Literaturkritiker Knut Ahnlund, der im Alter von 89 Jahren gestorben war. Sie kommt auf Ahnlunds Desinteresse an der schwedischen Lyrik ab 1930 zu sprechen:
Ich selbst gebe zu, dass es mir unmöglich ist, an einem großen Teil der schwedischen Lyrik der letzten dreißig Jahre Gefallen zu finden. Für viele Gedichte gilt, dass ich sehr wohl eine Analyse beginnen und meine Kräfte und mein Wohlwollen zum Verständnis aufbieten kann, und doch bin ich mir schmerzlich bewusst, dass ich mich nie in der Nähe des Raumes befunden habe, in dem sich der Autor des Gedichts aufhält. Der Schöpfungsprozess, der des Dichters, steht in keiner Verbindung mit dem Erlebnisprozess, meinem eigenen. Das bedeutet nicht, dass ich das Gedicht schlecht finde. Ich finde einfach überhaupt nichts.
Im Nachhinein scheint der spätere Konflikt mit der Dichterin Katarina Frostenson vorgezeichnet. Der Konflikt der Schöngeister in der Akademie mit der praktischen, weltgewandten, bei der schwedischen Öffentlichkeit beliebten, lebenszugewandten Sara Danius.
Sara Danius kam als erste Tochter Anna Wahlgrens und Lars Danius’ zur Welt. Anna Wahlgren hatte ihren 35 Jahre älteren Schwedischlehrer geheiratet, einen ehemaligen Major. Es war die erste ihrer fünf Ehen. In diesen Ehen brachte sie neun Kinder zur Welt, was sie befähigte, einen Erziehungsratgeber zu schreiben, der sich in fast allen schwedischen Haushalten findet und bislang in einer Auflage von einer halben Million Exemplaren erschienen ist. Barnaboken liegt auch als Das Kinder-Buch (neuere Auflagen unter dem Titel Das KinderBuch) in deutscher Übersetzung vor. Anna Wahlgren geriet vor einigen Jahren in die Schlagzeilen, als Sara Danius’ Halbschwester Felicia Feldt unter dem Titel Felicia försvann (Felicia verschwand) ihre Memoiren veröffentlichte, in denen es unter anderem um den Umzug der Familie zu Hamid el Khalib, dem Mann Nummer drei, in ein Dorf in Ägypten geht. Sara Danius hatte Glück: Sie konnte nach gut vier Monaten nach Schweden zurückkehren und beim Vater im bürgerlichen Vorort Täby aufwachsen.
Nach dem Abitur, der Schwerpunkt lag auf den naturwissenschaftlichen Fächern, arbeitete Sara Danius als Croupière und studierte anschließend Literaturwissenschaft an der Universität Stockholm. Ab 1986 schrieb sie Literaturkritiken für Dagens Nyheter und das Bonniers Litterära Magasin (BLM).
Ab 1990 lebte Sara Danius überwiegend in den USA und legte 1997 an der Duke University in North Carolina eine Doktorarbeit mit dem Titel The Senses of Modernism: Technology, Perception and Modernist Aesthetics über Thomas Manns Zauberberg, Marcel Prousts Auf der Suche nach der verlorenen Zeit und James Joyce Ulysses vor, zwei Jahre später wurde sie mit dieser Arbeit an der Universität Uppsala promoviert, was in Schweden der Habilitation gleichkommt.
Ein Forschungsstipendium der Schwedischen Reichsbank ermöglichten ihr eine Rückkehr in die USA und nach Kalifornien. Von 2001 bis 2002 war sie Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin. Für deutschsprachige Literatur hatte sie ein großes Faible, was in Schweden eher selten ist, da Deutschkenntnisse zur Ausnahme gehören. Die englischsprachige Welt bestimmt den Diskurs. Danius schrieb Essays über Thomas Mann, u.a. über seine Zeit in Kalifornien (Goethe in Hollywood) und über die verdienstvolle Buddenbrooks-Neuübersetzung von Ulrika Wallenström, aber auch über den Fotografen August Sander. Sara Danius’ Interesse an bildender Kunst war kein Zufall: Ihr Großvater väterlicherseits war Direktor der Glashütte Orrefors in Småland. In Sara Danius’ Werkverzeichnis finden sich folglich auch Katalogtexte: Agnes Hellner’s Collection of Orrefors Glass (1998) und ein weiterer über zeitgenössische schwedische Keramik (Voices, 2006).
Ab 2008 war Sara Danius Professorin für Ästhetik an der Södertörns Högskola, ab 2013 Professorin für Literaturwissenschaft an der Universität Stockholm. Im Jahr 2013 erschien in Klappenbroschur im renommierten Albert Bonniers Verlag ihr umfangreiches Buch Den blå tvålen. Romanen och konsten att göra saker och ting synliga (Die blaue Seife. Der Roman und die Kunst, Sachen und Dinge sichtbar zu machen) über den Realismus bei Stendal, Balzac und Flaubert. Der Realismus ist kein Spiegel der Wirklichkeit, sondern stellt ein Fenster zur Wirklichkeit dar, so ihre These. Das Buch fand ein großes mediales Echo. Es war ihr Jahr, denn es war auch das Jahr, in dem sie auf den Stuhl Nummer 7 der 1786 gegründete Akademie gewählt wurde, den vor ihr Selma Lagerlöf als erste Frau überhaupt innegehabt hatte.
Ihr Aufsatzband Husmoderns död och andra texter (Der Tod der Hausfrau und andere Texte) von 2014 erreichte als Taschenbuch 2016 große Auflagen. Der Titelessay handelt von der Abbildung der schwedischen Wirklichkeit in den schwedischen Kochbüchern. In dem melancholischen Essay Pappas bibliotek, der ursprünglich 1998 unter dem Titel Litteraturens död (Der Tod der Literatur) erschien, gibt Sara Danius Auskunft über ihren Werdegang. Für das renommierte Stockholmer Antiquariat, gemeint ist Rönnells in der Birger Jarlsgatan, ist nur noch eine Handvoll Bücher von Interesse. In Lars Danius’ Regalen standen die Werke der Klassiker Tegnér, Geijer und Stagnelius, die heute in Schweden niemand mehr liest. Danius stellt Betrachtungen über ihre eigene Buchsammlung an: Adorno, Benjamin, Barthes.
Im Juni 2015 wurde Sara Danius als erste Frau überhaupt Ständige Sekretärin der Akademie. Den Namen der ersten Nobelpreisträgerin, den sie im großen Saal der Börse am Stockholmer Stortorget bekannt gab, war der Swetlana Alexijewitschs. Im Jahr darauf erhielt Bob Dylan den Preis, über den sie später auch ein kleines Buch veröffentlichte: Om Bob Dylan (Über Bob Dylan, 2018).
Im Jahr 2018 fiel die Preisvergabe aus: Ein Skandal holte Sara Danius ein, der von ihren Vorgängern ignoriert und teilweise wohl auch vertuscht worden war: In Dagens Nyheter warfen 18 Frauen dem Ehemann der Dichterin Katarina Frostenson (Stuhl Nummer 18, Mitglied seit 1992), Autorin einer Lyrik, die Sara Danius vermutlich nichts sagte, übergriffiges Verhalten vor. Der hässliche Konflikt wurde teilweise in aller Öffentlichkeit ausgetragen. Sara Danius bewahrte jedoch die Countenance. Sie legte ihr Amt nieder und trat 2019 aus der Akademie aus. Ihre Bestrebungen, die Akademie zu erneuern, scheiterten. Welche fatalen Folgen das hatte, lässt sich im Augenblick beobachten.
Wer sich an den kurzen Frühling der Schwedischen Akademie erinnern will, dem bleiben ihre Bücher, in die man sich immer wieder mit Gewinn vertiefen kann und die eine Übersetzung ins Deutsche verdient hätten. Ihr einziges bislang auf Deutsch erschienenes Buch ist ein gemeinsam mit Hanns Zischler verfasster Essay über James Joyce, Nase für Neuigkeiten, Wien 2008.