Schreiben ist Nebensache – Literatur nicht

Peter Stamm war der 65. Poet in Residence der Universität Duisburg-Essen

Von Daniel KostRSS-Newsfeed neuer Artikel von Daniel Kost

Am Anfang war ein Friseur, der sich vor allem um seinen Salon kümmert. Auch im hohen Alter von fast 100 Jahren noch berufstätig. Medienpräsenz lehnt er strikt ab. Für diesen Menschen ist der Salon alles, er selber nichts und er könnte es nicht ertragen, für etwas Ruhm sein Lebenswerk in eine bloße Kuriosität zu verwandeln; seinen kleinen, unscheinbaren und kargen, aber gehüteten, sauberen und geordneten Raum, den Peter Stamm mit A clean, well-lighted place (1933) von Ernest Hemingway in Verbindung setzt.

Mit dieser Anekdote beginnt Stamm seine Vorlesungen und seinen Vortrag von der Ästhetik des Verschwindens; ein Konzept, in dem meist der Protagonist einer Geschichte das Geschehen spurlos verlässt. Nur wird es erweitert auf den Künstler selbst, den Schöpfer des Erzählten. Denn in der Ästhetik des Verschwindens und allem, was sie umfasst, liegt die Poetik Stamms mitbegründet: Seine Auffassung von Kunst, von Künstlern und nicht zuletzt von Literatur.

Wenn der Protagonist in seiner Funktion als Bezugsperson entfällt, bleiben das Nichts und der Leser übrig. Was das bedeutet, erklärt Peter Stamm mit John Cages Aufführung von 4:33 (1952). In diesem Stück, für das die Länge von 4 Minuten und 33 Sekunden ausgewürfelt wurde, geht das Orchester auf die Bühne und spielt nicht. Für das Publikum gibt es lediglich die Musiker und ansonsten nichts, was es reflektieren, nichts, dem es seine Aufmerksamkeit schenken könnte, als sich selbst.

Aufmerksamkeit ist das Schlüsselwort für Stamm: Literatur kann, weil sie immer weniger als die Realität ist, nur den Blick schärfen und auf einen kleinen Bereich fokussieren. Denn Worte können das Wesentliche nicht erfassen. Indem der Bezugspunkt des Lesers, der Protagonist, verschwindet und das Nichts übrigbleibt, wird Letzteres betont. Die Aufmerksamkeit wird auf die entstehende Abwesenheit gelenkt, dann auf den Rezipienten, aber auch auf den Autor im Schreibprozess. Wer über die weißen Wüsten des Nordens schreibt, schreibe vor allem von sich selbst. Der, der sich mit der Literatur auseinandersetzt, fülle die Leere und werde zu ihrem Gegenstand.

Das geschieht nach Stamms Poetik, indem dem Nichts eine Form gegeben wird und so eine Bedeutung, ein Sinn. Die Literatur ist die Form, die Erkenntnis liefert. Aus ihr ergibt sich der Sinn. Daher suchen Menschen seit Urzeiten überall nach Strukturen, seien es Wolken, Sterne oder Kaffeesatz. Sinnfragen, führt Stamm in seiner zweiten Vorlesung an, sind Fragen nach der Form, nach der Gestalt und der Gestaltung von Dingen.

Literatur ist jedoch nicht nur Form, sondern auch Kunst, und diese wiederum beruht auf Asymmetrie. Bereits das Leben existiert nur aufgrund der ungleichen Verteilung von Materie zu Antimaterie. Imperfektion bedeutet Lebendigkeit, bedeutet Individualität. „Einhunderttausend Tote sind eine Statistik,“ zitiert Peter Stamm passend Tucholsky, „einer eine Katastrophe.“ Oder wahlweise: eine Geschichte. Geschichten enthalten Perspektive, Ansätze und Interessen, die sie gestalten und denen sie eine Form geben sowie Bedeutung. Die besten haben eine unterschwellige Komplexität, so Stamm, wie es bei Menschen der Fall ist: Schnell erfasst, schwer verstanden. Denn sie sind individuell.

Wie Geschichten sei auch die Kunst selbst genügsam und in sich abgeschlossen. Sie habe zwar eine äußere Absicht (z.B. Geld fürs Mittagessen verdienen), aber darin liege nicht ihre Qualität. Die Qualität sei die quasi zeitlose Lebendigkeit, die Individualität. Literatur von vor 100 Jahren lasse sich immer noch mühelos verstehen und verarbeiten. Sie altere nur langsam.

Aber Totes wird nicht einfach so lebendig, und Leben kann nicht neu erschaffen, sondern nur weitergegeben werden; so verhält es sich nach Peter Stamm auch mit Geschichten: Der Autor gibt ihnen etwas von sich selbst. Er verleiht ihnen eine Form. Damit der Autor jedoch etwas von sich geben kann, muss er etwas haben, das er geben kann. Deswegen ist Schreiben Nebensache. Deswegen ist Lesen Nebensache. Hauptsache ist, man lebt und erlebt. Hauptsache ist, man schenkt der Realität Aufmerksamkeit.

Und der beste Weg, dies zu tun, verläuft über Hindernisse und Scheitern, wie Stamm mit seiner dritten und letzten Vorlesung herausstellt. In solchen Momenten, wo Probleme ein geradliniges Vorankommen, in welcher Situation auch immer, erschweren und behindern, ist man gezwungen, die Herausforderungen zu erkennen und nach Lösungen zu suchen. Aufmerksamkeit wird zur Direktive und das Erleben zu einem Abenteuer mit ungewissem Ausgang.

Erfahrungen, die Stamm und seiner Ansicht nach Autoren generell in der direkten Auseinandersetzung mit der Realität erwerben, werden in eine Geschichte gebündelt. Aber um abgerundet und abgeschlossen sein zu können, müsse sie unabhängig werden. Wie ein Kind, das geboren wird, dürfe sie nicht länger mit ihm zusammenhängen, die Kunst nicht mehr in Verbindung mit dem Künstler stehen. Sie müsse für sich selbst einstehen können, denn so werde sie in ihrer Gänze lebendig, individuell. Zum Zweck der Geschlossenheit der Geschichte könne am Ende der Protagonist als ihr Dreh- und Angelpunkt zum Verschwinden gebracht werden, wie es auch mit dem Autor geschehen müsse, sodass Realität zurückbleibt. So werde Literatur geboren, die den Blick schärft und die Wirklichkeit enthüllt.

Das ist Literatur für Peter Stamm: Ein Instrument der Aufmerksamkeit, der (Selbst-)Reflektion und der Erkenntnis. Sie schafft Bilder, die vollkommen vom Rezipienten abhängig sind und für ihn Bedeutung haben. Sie ist der Raum. Je geordneter und leerer er ist, desto mehr kann man in ihm aufgehen. Und er wird noch bestehen, lange nachdem der Friseur nicht mehr ist. Deswegen kann Literatur keine Nebensache sein. Sie ist das einzige, was zählt.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen