Erfolgreiche Spurensuche

In ihrem Buch „‚Ich finde es unanständig, vorsichtig zu leben‘“ stellt Iris Schürmann-Mock 25 unbekannte Schriftstellerinnen aus 250 Jahren vor

Von Rolf LöchelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rolf Löchel

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vor einigen Jahren wurde die Kabarettistin Sarah Bosetti nicht zuletzt dadurch bekannt, dass sie auf Hassmails, die sie verletzen und mundtot machen sollten, mit Gedichten antwortete, die sie auf Bühnen vortrug und zu einem Buch zusammenstellte. Eine grandiose Idee, die allerdings nicht ganz so neu ist, wie viele meinen dürften. Friederike Kempner wehrte sich schon um 1900 gegen – in ihrem Fall zumeist antisemitische – Beleidigungen und Drohungen, indem sie in Versen auf sie antwortete:

Anonyme Flüche blitzen,
Zünden treffen und erhitzen
nur den Fluchenden allein.
Armer Flucher, urgemein.

Kempner und ihre Gedichte sind heute kaum noch bekannt. Das könnte sich nun allerdings ändern. Denn Iris Schürmann-Mock hat einen lesenswerten Band veröffentlich, in dem sie fünfundzwanzig deutschsprachige Schriftstellerinnen und ihr Schaffen dem Vergessen entreißt. Kempner ist eine von ihnen.

Schürmann-Mock hat die letzten zweieinhalb Jahrhunderte durchforstet und dabei durchaus die eine oder andere weithin unbekannte Autorin aufgespürt. Die meisten der Autorinnen sind allerdings zumindest „in Fachkreisen oder in der feministischen Literatur“ nicht ganz unbekannt, wie die Autorin einräumt. So wird etwa Gabriele Reuters Roman Aus guter Familie nach wie vor in literaturwissenschaftlichen Untersuchungen behandelt. Das Konterfei der von den Nazis ermordeten Lyrikerin Gertrud Kolmar ziert sogar den Einband eines weitverbreiteten Lexikons, das über Leben und Werk deutschsprachiger Schriftstellerinnen von 1800 bis 1945 informiert. So richtet sich Schürmann-Mocks reich bebildertes Buch denn auch eher an ein breiteres Publikum, das in ihm manche Entdeckung machen und manche Lektüreanregung erhalten kann. Zu den über literaturwissenschaftliche und -historische Kreise hinaus wenig bekannten, aber lesenswerten Autorinnen zählen etwa Margarete Beutler, Lena Christ, Lilli Recht und Caroline Muhr.

Schürmann-Mock hat den Schriftstellerinnen jeweils eigene Artikel gewidmet, die sie chronologisch nach dem Geburtsjahr der jeweiligen Autorin angeordnet hat. Den Anfang macht die 1722 geborene Dichterin Anna Louisa Karsch, „eine große Dichterin, die ihr Potential nicht völlig entfalten konnte“ und doch „die erste Frau [war], die von ihrem Schreiben lebte“. Wie aus dem vorliegenden Buch weiter zu erfahren ist, handelt es sich bei dem ihr gewidmeten Denkmal im Halberstädtischen Landschaftspark Spiegelsberge zudem um „das älteste Dichterstandbild Deutschlands“.

Auf Karsch folgt Sophie Mereau, der Schiller in einem Brief an Goethe ein ebenso herablassendes wie sexistisches und vergiftetes Lob zudachte, „wundert[e]“ er sich angesichts ihrer Romane doch darüber, „wie die Weiber jetzt, auf bloß dilettantischem Wege, eine gewisse Schreibgeschicklichkeit sich zu verschaffen wissen, die der Kunst nahe kommt“. Vermutlich dürfte Mereau nie von Schillers Erstaunen erfahren haben.

Die im 19. Jahrhundert nicht nur auf literarischem, sondern auch politischem Gebiet umtriebige Schriftstellerin Luise Aston wird wiederum als vehemente Kritikerin der Ehe vorgestellt und mit den Worten zitiert, sie

verwerfe die Ehe, weil sie zum Eigentum macht, was nimmer Eigentum sein kann: die freie Persönlichkeit; weil sie ein Recht gibt auf Liebe, auf die es kein Recht geben kann; bei der jedes Recht zu brutalem Unrecht wird.

Doch revoltierte die frühe Frauenrechtlerin nicht nur gegen die Institution der Ehe, sondern gegen jede Unterdrückung und Ungerechtigkeit überhaupt. Kein Wunder also, dass den preußischen Leihbibliotheken 1853 untersagt wurde, ihren Roman Revolution und Contrerevolution in ihren Bestand aufzunehmen. Aston selbst war schon 1846 als „staatsgefährliche Person“ aus Berlin ausgewiesen worden.

Keinerlei revolutionäre Ambitionen hegte hingegen die um 1900 sehr erfolgreiche Schriftstellerin Clara Viebig. Zwar zählt sie zu den Autorinnen, die nie völlig vergessen waren, doch galt sie ganz zu Unrecht lange als schlichte Heimatdichterin. Tatsächlich aber war sie eine „Königin des Gesellschaftsromans“, deren Bücher „heute noch lesenswert“ sind und darum nach wie vor aufgelegt werden, wie Schürmann-Mock zu Recht anmerkt. Mag sie auch keine Revolutionärin gewesen sein, so erwies sie sich in ihren Romanen Die Töchter der Hekuba (1917) und Das rote Meer (1920) doch als vehemente Kritikerin des Ersten Weltkriegs.

Auch die heute weit weniger bekannte Hedwig Lachmann trat als „unerschütterliche Kriegsgegnerin“ hervor und bezog nicht nur in ihren Gedichten immer wieder Stellung gegen den Ersten Weltkrieg und seine grauenvollen Schlachten. Eine Oper, für die sie das Libretto schrieb, wird noch heute auf den Bühnen der Welt aufgeführt: Salome von Richard Strauss.

Eine weitere pazifistische Schriftstellerin aus der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts war Adrienne Thomas, deren 1930 erschienener Roman Die Katrin wird Soldat zum „erfolgreichste Buch“ wurde, „das bis dahin je eine Autorin in Deutschland geschrieben hatte“. Wie Schürmann-Mock berichtet, wurde es in nicht weniger als fünfzehn Sprachen übersetzt und erlangte eine siebenstellige Zahl gedruckter Exemplare.

Anders als die 1897 geborene Thomas, die das biblische Alter von 83 Jahren erreichte, wurden etliche der von Schürmann-Mock vorgestellten Autorinnen des 20. Jahrhunderts im Nationalsozialismus verfolgt und getötet, andere landeten in DDR-Gefängnissen und fanden dort den Tod. Alma Johanna Koenig etwa zählt zu denjenigen, die von den Nazis ermordet wurden. Sie starb 1942 im Alter von 55 Jahren auf dem Transport ins KZ. Ein anderes Opfer des Nazi-Terrors war Selma Merbaum, die nur 18 Jahre alt wurde. Sie erkrankte in einem nationalsozialistischen Arbeitslager am für sie tödlichen Fleckfieber. Auch Edeltraud Eckert kam in einem Arbeitslager zu Tode. Sie allerdings in einem der DDR. Weil sie Flugblätter einer „Kampfgruppe gegen die Unmenschlichkeit“ verteilt hatte, wurde sie 1950 gerade einmal 20-jährig von einem sowjetischen Militärtribunal zu 25 Jahren Zwangsarbeit verurteilt und in den Strafanstalten Waldheim und Hoheneck mit Einzel- und Dunkelhaft sowie mit körperlichen Misshandlungen gefoltert. Nach einer unzureichend behandelten Kopfverletzung starb sie 1955 in der Haft an Wundstarrkrampf.

Zu den in dem Band vorgestellten Nachkriegsschriftstellerinnen zählen etwa die in der DDR lebende und 1977 im Alter von 44 Jahren allzu früh verstorben Autorin Maxie Wander und Hertha Kräftner, die Schürmann-Mock zufolge „neben Ingeborg Bachmann als wichtigste österreichische Dichterin nach 1945 genannt“ wird.

Schürmann-Mock hat die einzelnen Artikel nach einem durchgängigen Schema gegliedert. Zunächst wird der Lebenslauf der Frauen nachgezeichnet. Anschließend findet sich unter der Überschrift „Aus dem Werk“ ein Textauszug aus einem der Romane der betreffenden Autorin oder es wird ein Gedicht vollständig wiedergegeben. Denn bei etlichen der Frauen handelt es sich um Lyrikerinnen. Sodann teilt Schürmann-Mock unter dem Titel „Hintergrund“ den Lesenden informative „Details und Wissenswertes aus dem Umfeld der porträtierten Frauen sowie weitere Literaturhinweise“ mit.

Gelegentlich schleicht sich allerdings auch einmal ein Irrtum ein. So handelt es sich bei Thomas’ 1930 erschienenem Roman Die Katrin wird Soldat keineswegs um den ersten „Antikriegsroman aus der Hand einer Frau“. Zu denken wäre etwa an die beiden erwähnten Romane Clara Viebigs und natürlich vor allem an Bertha von Suttners weit bekannteren Roman Die Waffen nieder! von 1889.

Der Literatur- und Theaterkritiker Hans Weigel wiederum wird allzu positiv als „Förderer junger Talente“ geschildert, „die von seinen guten Verbindungen profitierten“. Junge Literatinnen pflegte der berüchtigte Wiener Womanizer vor allem in sein Bett zu befördern.

Besonders erfreulich ist hingegen, dass die Autorin jedes der Porträts mit einem Abschnitt beschließt, in dem sie sich auf die Suche nach bis in die Gegenwart reichenden Spuren der Schriftstellerinnen begibt. Sie wird auf überraschend vielfältige Weise fündig. So hat sie etliche den Autorinnen gewidmete Museen und Gedenkstätten ausgemacht, die jeweils unter Angabe ihrer Anschriften vorgestellt werden, sodass, wer möchte, sie besuchen kann. Auch wurde einigen der Schriftstellerinnen die Ehre zuteil, dass Straßen nach ihnen benannt wurden, und zwar nicht nur in ihren Heimatorten. Außerdem weist Schürmann-Mock auf Webseiten hin, die weitere Informationen zu den ihnen gewidmeten Autorinnen enthalten. Wichtiger aber sind vielleicht noch die ebenfalls angegebenen e-Mail-Adressen, bei denen sich weitere Auskünfte erfragen lassen. Ein Buch also, das nicht nur den Wunsch weckt, sich näher mit den Autorinnen und ihren Werken zu befassen, sondern sogleich darüber informiert, wie und wo man das tun kann.

Titelbild

Iris Schürmann-Mock: „Ich finde es unanständig, vorsichtig zu leben“. Auf den Spuren vergessener Schriftstellerinnen.
AvivA Verlag, Berlin 2022.
180 Seiten, 20,00 EUR.
ISBN-13: 9783949302084

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