Die Antike ist noch lange nicht vorbei
Anne Jelena Schulte geht in ihrem Theaterstück „Antiope“ gewissermaßen nach vorne zurück, um mit feministischem Blick das Drama von gestern als das Drama von heute zu erzählen
Von Nora Eckert
Wer Antiope war, lässt sich weniger klar beantworten, als die Frage, wer sie jetzt ist. Die griechische Mythologie nennt sie mal das Kind eines Flussgottes, ein andermal die Tochter des Herrschers von Kadmeia, dem späteren Theben. Die Theaterschriftstellerin Anne Jelena Schulte verwendet zwar die aus der Mythologie überlieferten Namen rund um Antiopes Geschichte und ebenso Elemente der mythologischen Erzählung, aber am Ende sind es doch eher Menschen aus dem 21. Jahrhundert geworden, die die Autorin auf die Bühne schickt. Ist Antike also mehr Zitat – so auch in der Verwendung eines Chores?
Was auf den ersten Blick wie bloße literarische Deko erscheinen mag, erweist sich als dramaturgischer Clou und lässt die Antike ganz postdramatisch-modern erscheinen. Besonders deutlich wird dies in der Titelfigur selbst, die aus dem Hier und Heute stammt, ohne ihre mythische Aura abgelegt zu haben.
Wir haben es mit einer selbstbewussten jungen Frau zu tun, die zum Run-away wird und ein Problem mit Autoritäten hat. Es sind die patriarchalen Verhältnisse, die sie in Frage stellt und die sie fliehen lässt. Ihre Nonkonformität macht aus ihr eine queere Person, der man vorwirft: „Sie behauptet einen Kampf der Geschlechter, sogar das Geschlecht selbst stellt sie infrage.“ Die herrschenden Gesetze wissen nichts von Selbstbestimmung, aber genau die verlangt Antiope.
„Sie gefährdet Kadmeias inneren Frieden“, heißt es dazu. Denn wenn schon die eigene Tochter des Königs die Gesetze bricht, wer wagt es dann als Nächstes? „Wenn die es schafft, was ist dann alles zu schaffen“, fragt sich ihr Vater nicht ganz zu Unrecht und erkennt: „Weil sie die Schwächste ist, ist sie unter unseren Feinden die Stärkste.“ Den mächtigen Männern dieser Welt ging es damals wie heute um den Machterhalt. Ihr patriarchales Denken scheint mühelos über die Epochen hinweg austauschbar zu sein. Zum Beweis fügt die Autorin Zitate angefangen von Trump, Putin über Milei, Bolsanaro bis hin zu Mussolini ein, die sich – wenig überraschend – als ideologisch passgenau erweisen.
Antiope flieht in den Wald, begegnet dort Epopeus, mit dem sie eine „moonlight love affair“ hat, und kehrt schließlich schwanger zurück in die Stadt, um dort Zwillinge auf die Welt zu bringen – Zetheus und Amphion. „Zwillinge habe ich geboren, der eine zart, der andere stark. Umarmt sind sie zur Welt gekommen. Ungleich, aber fest umarmt.“ Die beiden sind zugleich ihre Investition in eine bessere Zukunft: „Zwei ungleiche Brüder schaffen ein gemeinsames Werk, und dieses Werk ist nicht Krieg. Das ist neu in Kadmeia […].“ Sie lassen eine Mauer um die Stadt ziehen, die das Zarte und die Ungleichen darin schützt.
Doch bevor es dahin kommt, erlebt Antiope immer wieder Feindschaft, sei es durch ihren Onkel Lykos oder ihre Tante Dirke. „Deine Quecksilbrigkeit macht mich krank“ ist noch der harmloseste Vorwurf. Als sie schwanger zurückkehrt, kommentiert der Chor: „Statt sich dünn zu machen, macht sie sich fett. Als hätte sie nichts zu fürchten.“ Aber Antiope ist wie der Mond, kommt und geht und ist stets wandelbar. Und wieder der Chor: „So schnell sie sich verflüchtigt, so schnell sickert sie überall ein.“ Man könnte dies subversiv nennen, denn Antiope will schließlich die gesellschaftliche Veränderung. Gerade deshalb besteht sie darauf, sie wollte nie weg, um fortzulaufen, sondern sie wollte vielmehr zurückkommen mit den Zwillingen im Bauch als Versprechen für eine bessere Zukunft.
Uraufgeführt wurde das Stück am 18. April 2024 im Schauspielhaus Hamburg. In der Ankündigung des Theaters hieß es, die Autorin habe sich auf die Suche nach der verlorenen Geschichte Antiopes gemacht. Denn es heißt, Euripides habe ihr ein Drama gewidmet, das jedoch verloren ging. Schulte hat, nun 2500 Jahre später, ein literarisches Puzzlestück aus der antiken Geschichte der Stadt Theben nachgeliefert. Dass daraus ein Stück über die Emanzipation wurde, bekommt der Figur Antiope ausgesprochen gut. Ob das auch im Sinne Euripides‘ gewesen wäre, lässt sich nicht beantworten. Bei Schulte erhält Antiope jedenfalls das passende Schlusswort: „Doch meine Geschichte fließt. Sie hat keinen Anfang und kein Ende.“
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