Orte und Menschen
Ingo Schulzes Beobachtungen als „Gast im Westen“
Von Hannes Krauss
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseSeit 2017 lädt die Essener Brost-Stiftung Autorinnen und Autoren als „Metropolenschreiber“ ins Ruhrgebiet ein. Sie erhalten ein großzügiges Stipendium, dürfen einige Monate lang in einer luxuriösen Doppelhaushälfte in Mülheim an der Ruhr wohnen und sollen sich von dort aus in der Region „auf menschliche, kulturelle und historische Schatzsuche“ begeben. Ihre „Erfahrungen und Einblicke werden am Ende der Amtszeit in einem literarischen Werk festgehalten und veröffentlicht.“ Soweit das Konzept, nachzulesen auf der Homepage der Stiftung. Die Liste der bisherigen Stipendiat*innen ist bunt (Schriftsteller*innen, Journalisten, Historiker, Philosoph*innen), die Qualität der literarischen Ergebnisse unterschiedlich.
Vor zwei Jahren war Ingo Schulze an der Reihe. Der in Dresden geborene, in Berlin lebende Autor – bekannt durch Romane über den deutsch-deutschen Alltag wie Simple Storys (1989) oder Neue Leben (2005) – hat zwar nicht den ultimativen Ruhrgebietsroman des 21. Jahrhunderts vorgelegt, dafür aber eine überaus lesenswerte Sammlung origineller Beobachtungen und ungewöhnlicher Porträts. Der Metropolen-Begriff kommt zum Glück nur als Zitat vor. Schulze ignoriert dieses großmäulige Schlagwort genauso wie gängige Klischees von der Malocher-Region. Stattdessen trifft er sich mit Menschen, einheimischen und zugewanderten, lässt sich deren Geschichten erzählen und begleitet sie an ganz unterschiedliche Orte der Region.
Die Industriegeschichte wird nicht ausgespart (es gibt Streifzüge durch Rheinhausen, Duisburg-Ruhrort oder die Essener Villa Hügel), den Kern von Schulzes Aufzeichnungen aber bilden Gespräche und Begegnungen. Wir begleiten den Autor zu Besuchen in zwei ungewöhnlichen Schulen, wir sind dabei, wenn er mit einem ehemaligen DDR-Flüchtling Fußballspiele in Dortmund und Schalke besucht oder mit einem gerade pensionierten Polizeipräsidenten das Essener Rot-Weiß-Stadion. Er nimmt uns mit zu einer Orchesterprobe der Essener Philharmoniker und zur Besichtigung des Emscher-Klärwerks. Wir hören uns die Lebensgeschichte eines Gelsenkirchener Klempner-Meisters an, fahren mit einem widerspenstigen (ehemaligen) Sozialdemokraten durch Dortmund, lernen untypische Buchhändler kennen und einen Kettwiger Kleinverleger.
Ob die im Buch porträtierten Menschen repräsentativ sind für das Ruhrgebiet, sei dahingestellt. Auf jeden Fall lassen Schulzes Antworten auf die Wünsche der Preisstifter nie die Gefahr jener Musealisierung der Region aufkommen, die der Regionalverband Ruhr gerne pflegt. Er erkundet das Revier von seinen Rändern her und spart auch brisante Probleme (wie die Clan-Kriminalität oder die prekären Lebensbedingungen südosteuropäischer Zuwanderer) nicht aus. Ganz wichtig ist für ihn das Unterwegs-Sein, auch wenn das durch die reviertypischen Strukturen des öffentlichen Nahverkehrs mitunter mühselig ist. Bei ausgedehnten S-Bahn-Fahrten begreift Schulze, „dass im Ruhrgebiet die Integration von Zugewanderten eine lange Tradition hat“ – und empfindet „Freude bei dem Gedanken, kein Tourist zu sein, sondern für einige Zeit dazuzugehören“.
Das Buch ist stellenweise ziemlich privat. Es erhebt keinen literarischen Anspruch, Kunst entdeckt der Autor anderswo – beispielsweise in den Gedichten der verstorbenen Wahl-Duisburgerin Barbara Köhler (die aus Chemnitz stammte) oder in den Duisburger und Gelsenkirchener Skulpturen des im Sudetenland geborenen Markus Lüpertz. Ingo Schulze begnügt sich mit subjektiven Berichten, die er mit Erfahrungen aus seiner ostdeutschen Heimat konfrontiert und die in ihrer Diffusität die widersprüchliche Vielfalt der Region treffender abbilden, als die Hochglanzbroschüren der Tourismuswerbung. Nach der Lektüre verstehen auch Zugereiste noch ein bisschen besser, warum sie gerne hier leben.
Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen
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