Literarische Tradition trifft auf moderne Themen und Figuren

In „Liste der gebliebenen Dinge“ wählt Katrin Schumacher als Setting das Künstlermilieu

Von Bozena BaduraRSS-Newsfeed neuer Artikel von Bozena Badura

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Auch wenn es sich bei Liste der gebliebenen Dinge um ein Romandebüt handelt, ist Katrin Schumacher für viele Literaturaffine ob als Redakteurin der Sendung Unter Büchern oder als Jurymitglied des Preises der Leipziger Buchmesse wohl bekannt. Neben ihrer Dissertation zur Poetologie der weiblichen Wiedergänger veröffentlichte sie 2020 zusammen mit Judith Schalansky das naturkundliche Porträt Füchse. Nun versuchte sich die vielseitig erfahrene Literaturkritikerin an der langen literarischen Form.

Im Zentrum des Romans stehen Mirren und Kato, ein lesbisches Künstlerpaar, wobei die Geschichte retrospektiv aus Mirrens Perspektive erzählt wird und sich vordergründig um die Beziehung der beiden Figuren dreht. Die nacherzählten Erinnerungen verlaufen entlang der Zeit in der gemeinsamen ‚Bude‘, einer Hütte in freier Natur, die von Kato und Mirren für einige Monate bewohnt wird, und werden durch Erinnerungen aus der Zeit davor sowie durch kurze Märchen ergänzt, die Kato bei jeder Gelegenheit erzählt. In der gemeinsamen Bude hat Mirren einen großen Wunsch: einen Eiskeller in die Felsen zu hauen. Dieser wird gegen Ende der erzählten Geschichte anscheinend zugeschüttet, was zugleich den Beginn des Romans darstellt.

Eine Schlüsselfigur des Romans ist Karol Babinski, ein Künstlerkollege, der für ausgefallene Kunstprojekte berühmt ist. Er ist der Antagonist, der Widersacher und eine Teufelsfigur und hat sich dem Anschein nach Mirren als das Objekt seines aktuellen Projektes auserkoren. Babinski erinnert an die Mephisto-Figuren aus den Klassikern der Literatur wie Faust von Johann Wolfgang von Goethe, Tod in Venedig von Thomas Mann oder Der Meister und Margarita von Michail Bulgakow. Auch in Schumachers Roman lässt er Mirren mithilfe eines Hundes zu sich führen. Außerdem erinnert die Begegnung in Babinskis Atelier entfernt an das „Magische Theater“ aus Hermann Hesses Der Steppenwolf – denn auch hier hat die Protagonistin, durch narkotisierend wirkende Dämpfe betäubt, die Möglichkeit, ihr Selbst und ihr ganzes Leben zu erkennen. In diesem Moment verrät ihr Babinski:

Weißt du, Mirren, mit den Menschen ist es ja so, sie wollen immer alles wissen, sie wollen sich selbst kennenlernen, und dann wollen sie wissen, weshalb sie so sind, wie sie sind, sie wollen immer in die Tiefe, sie wollen sich lückenlos erzählt haben, lückenlos. Und ich mach das. Ich baue lückenlose Menschen, ich fülle jede Leere, ich erzähle dir alles über dich und deine Welt, wo du herkommst, ich weiß sogar, wo du hingehst, ich weiß alles. (S. 161)

Eines der wichtigsten Themen des Romans ist zudem der Zusammenhang zwischen der Kunst und ihrer Entlohnung, wobei hier das Bild des armen Künstlers bejaht und eine käufliche Kunst verteufelt wird. So werden im Text alle Kunstschaffenden, die ihre Kunstwerke teuer verkaufen, (darunter auch Babinski) als Betrüger konnotiert. Wenn auch nicht reich entlohnt, wird auch Kato als Fotografin für ihre Kunst geschätzt: Sie arrangiert niederländische barocke Kunst neu, indem sie die auf den Gemälden abgebildeten Lebensmittel zu ausgefallenen Abendessen gestaltet, dies abfotografiert und für die Verkostung zahlungsstarke Kunstliebhaber gewinnt. Dagegen fungiert für Mirren die Kunst als etwas Intimes, als ihr heiliges Eigentum, sodass sie nur so viele Bilder verkauft, wie sie zum Überleben braucht, und die verkauften Bilder sogar nachmalt. Dafür, dass die Kunst für Mirren mehr eine Freizeitleidenschaft als ein wirklicher Beruf ist, spricht auch die Tatsache, dass sie hauptberuflich als Schwimmretterin arbeitet und sich dagegen wehrt, sich von der Kunst zu ernähren. Umso enttäuschter ist sie aber auch, als sich herausstellt, dass ihr Bruder alle ihre Bilder, die sie bei ihm sicher aufbewahrt dachte, für eigene Schulden verpfändete. Anhand der Figuren des Romans wird eine paradoxale Situation thematisiert: Einerseits betont der Roman die prekäre Lebenssituation der Kunstschaffenden, andererseits werden aber KünstlerInnen, die ihre Kunstwerke erfolgreich verkaufen, dämonisiert. „Ich fragte mich oft, wie es kam, dass Menschen, die Kunst fabrizierten, untereinander so missgünstig waren.“ (S. 76)

Die Kritik am Reichtum bezieht sich jedoch nicht nur auf das Künstlermilieu, sondern erstreckt sich auf weitere Bereiche des Lebens und gehört somit zu den (nicht verbalisierten) Werten, die dem Roman zugrunde liegen. Denn auch bei Boris, Mirrens Bruder, wird der Reichtum negativ konnotiert:

Durch ein paar Jahre Recherche fand er heraus, dass die undurchsichtigsten Berufsbezeichnungen anscheinend den größten Wohlstand erzeugen, […] und wurde […] was er wohl sein wollte: sehr reich und sehr traurig. (S. 95)

Die Figur des Bruders wird ins Äußerste negativ konnotiert, indem sie schlussendlich nicht nur den Reichtum, sondern allem voran Mirrens Kunst verliert.

Auch wenn der Roman einige Motive und Symbole aus den Klassikern der Weltliteratur einsetzt, wirkt er keineswegs altmodisch, da insbesondere die Figuren modern angelegt sind. Abgesehen davon, dass es sich bei den Protagonistinnen um ein lesbisches Paar handelt, zeigen die Figuren ihre Modernität u. a. durch ihre Androgynität sowie durch eine fluide Identität. So angelegte Figuren verfügen über keine festen Zuschreibungen und somit über mehr Identifikationspotential bei den LeserInnen.

Eine besondere Erwähnung verdient außerdem die poetische Sprache des Romans, die sich ähnlich wie die Figuren starren Mustern entzieht, wie zum Beispiel an dieser Stelle: „Während sie von der Malerin erzählte, schwebte Vivaldi in der Luft […]“. Nicht zuletzt werden durch die eigenwillige Sprache und ihre gewisse Mehrdeutigkeit sowie durch die oft eingesetzten Umschreibungen Leerstellen geschaffen, die durch die Interpretation gefüllt werden können. Ein Beispiel hierfür liefert die folgende Textstelle:

Katos Hände rochen immer noch ein bisschen grün und süßsauer und leicht nach Erdbeeren, als sie nach unserem langen schönen Warten aufstand und mir zeigte, wie die gezuckerten Früchte Wasser gezogen hatten, den Saft, den sie zum Kochen brauchten. (S. 70)

Zudem zögert die manchmal ungewöhnliche Wortwahl das Eintauchen in die Lektüre hinaus, wie z. B. an dieser Textstelle sichtbar: „Und lange, Kato konnte eine Stunde durchkraulen, eine Stunde, ich war voller Staunen damals, als sie in meinem Hallenbad auftauchte und sich ins Wasser einfügte.“ (S. 102)

Es scheint, als würde die Autorin nach einem ähnlichen Kunstprinzip vorgehen wie eine ihrer Figuren. Denn „Katos Ehrgeiz bestand darin, den Irritationsmoment zu dehnen und die Auflösung immer effektvoller zu machen.“ (S. 42) 

Ein Aspekt des Romans kann allerdings hinterfragt werden: Wenn sich Mirren bereits zu Beginn des Romans kurz vor dem Tod glaubt und der Roman so ein Resümee ihres Lebens darstellen soll, dann bleibt er zu sehr auf der Oberfläche und enthält (nach dem subjektiven Literaturgeschmack der Rezensentin) zu wenige existentielle Fragen. Wäre sich die Figur allerdings ihrer Rettung sicher – denn sie kann nicht zuletzt Stimmen von außen wahrnehmen, sodass davon auszugehen ist, dass auch ihre Stimme nach außen dringen kann – wäre die erzählte Geschichte als eine Zwischenbilanz zu betrachten, in der es vielmehr um das Festhalten des Geschehenen, als um dessen abschließende Einschätzung geht.

Zusammenfassend legt Katrin Schumacher mit ihrem ersten Roman ein sowohl formal als auch inhaltlich spannendes Werk vor, das sich durch eine interessante Geschichte, gut aufgebaute Figuren, eine zwar gewöhnungsbedürftige, dennoch sehr poetische und angenehme Sprache auszeichnet. Das Buch ist im besten Sinne gut konstruiert und ausgereift. Es ist nichts dem Zufall überlassen. Die Besonderheit des Romans macht aber seine gelungene Mischung aus den literarischen Traditionen und aktuellen literarischen Trends aus.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Katrin Schumacher: Liste der gebliebenen Dinge. Roman.
leykam Verlag, Graz 2024.
224 Seiten, 24,50 EUR.
ISBN-13: 9783701183197

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