Vom Ankommen, Gehen und Bleiben
Lotte Schwarz erzählt in „Die Brille des Nissim Nachtgeist“ vom Geflüchtetenalltag in einer Schweizer Pension
Von Sarah Elisabeth Ganss
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseLisette emigriert 1934 aus Hamburg in die Schweiz und findet in Zürich Arbeit als Hausmädchen in der Pension Comi. Die Gäste der Comi sind Immigranten und Immigrantinnen aus ganz Europa: Manche bleiben nur einige Tage, andere für Jahre, und für viele endet die Migration gezwungenermaßen in der Schweiz. Da ist zum Beispiel Nissim Nachtgeist, der diplomierter Jurist ist, aber illegal Mäntel zum Verdienen seines Lebensunterhalts nähen muss. Oder die schöne Signora Teresa, die illegal Romanübersetzungen schreibt und davon träumt, nach Italien zurückzukehren. Doktor Badarch pflegt seine seit der Internierung in Frankreich psychisch kranke Frau. Und die Karriere des Fahrradtrainers und Masseurs Paul Eppstein steht wegen seiner jüdischen Abstammung auf dem Spiel. In der Pension Comi, geführt vom russischen Ehepaar Paksmann mit ihren vier Kindern, finden viele solcher Vertriebenen und Heimatlosen eine neue Heimat auf Zeit. Doch zwischen den so verschiedenen Bewohnern und Bewohnerinnen herrscht nicht immer Frieden. Besonders die politischen Gesinnungen oder Ansichten zur schweizerischen Flüchtlingspolitik führen zu Streit und Racheaktionen. Die verschiedenen Mieter und Mieterinnen sind zwischen Hoffnung und Resignation hin- und hergerissen. Mit dem Eintritt der USA in den Krieg und den Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion verschlechtert sich die Lage der Flüchtlinge immer mehr. Doch sie probieren dem Alltag weiter mit Optimismus zu begegnen.
Der Roman beschreibt auf knapp 180 Seiten verschiedene Flüchtlingsschicksale. Einige Protagonisten, so Lisette, das Ehepaar Paksmann, Köchin Olga oder Inspektor Zweifel begleiten den Leser während der gesamten Handlung, doch insgesamt liegt der Fokus der Geschichte auf den Porträts der Pensionäre und Pensionärinnen. Sie werden mehr oder weniger ausführlich dargestellt und in die Handlung integriert, manche tauchen auch nur kurz auf. Insgesamt wirkt der Roman wie eine Abfolge von Bildern, eine Aneinanderreihung von Porträts, die als einzigen gemeinsamen Nenner die Pension Comi haben. Die Figuren werden, bis auf Lisette, aus deren Sicht die Geschichte erzählt wird, nur oberflächlich behandelt: Ein Hinter-die-Fassade-Schauen oder gar eine Identifikation werden so nicht möglich. Die Sprache zeichnet sich durch große Bildhaftigkeit und viele Metaphern aus, sie ist aber ansonsten eher sachlich. Nur an wenigen Stellen philosophiert Schwarz in pathetischer Art und Weise über das Flüchtlingsdasein. Das letzte Kapitel des Romans allerdings, eine Traumszene, in der auch die Landesmutter Helvetia als Person auftritt und nach der Rechtfertigung ihrer Asylpolitik gefragt wird, fällt aus dem Rahmen und unterstreicht so, wie persönlich wichtig dieses Thema der Autorin ist.
Das Besondere an diesem Buch ist die Mischung aus Fiktion und Realität. Lotte Schwarz arbeitete in der Schweiz als Hausmädchen und auch die Pension Comi existierte zwischen 1921 und 1942 in Zürich. Die Örtlichkeiten werden sehr detailliert beschrieben, sodass der Weg der Protagonistin Lisette oder des Bäckerboten Paul Eppstein in Zürich nachverfolgt werden kann. Viele der dargestellten Figuren tragen Pseudonyme, lassen sich aber eindeutig real existierenden Menschen zuordnen. Die Historikerin Christiane Uhlig hat einen umfassenden Anhang beigefügt, in dem sie die real existierenden Vorbilder und ihre Lebensgeschichten beschreibt. In einem kleinen Glossar werden Abkürzungen und weitere historische Personen und Ereignisse dargestellt. Auch einige Fotos sind beigefügt. Trotz der zahlreichen Verweise und des real existierenden geschichtlichen Hintergrunds bleibt der Roman ein fiktionales Werk. Er ist eine Hommage an die Migrantenpension Comi. Interessant ist auch, dass dieses Werk bereits Ende der 60er geschrieben, aber bis 2018 nicht verlegt worden ist. In ihrem Nachwort begründet Uhlig die Entscheidung der Publikation mit dem Aktualitätsbezug. Uhlig hat auch eine Biographie über die Autorin geschrieben („Jetzt kommen andere Zeiten. Lotte Schwarz. Dienstmädchen, Emigrantin, Schriftstellerin“, 2012, chronos-Verlag). Lotte Schwarz hat zu Lebzeiten ein Buch („Tagebuch mit einem Haus“, 1956) und zahlreiche Artikel veröffentlicht, weitere Texte von ihr sind noch nicht publiziert worden. Der Limmat-Verlag mit Sitz in Zürich hat sich auf historische Romane, politische Sachbücher und Literatur über schweizerische Geschichte spezialisiert.
Der Roman beschreibt sehr eindrücklich, wie schwierig das Leben in der Duldung ist, wie hin- und hergerissen Menschen zwischen Dankbarkeit und Wut in der Situation erzwungener Sesshaftigkeit sind. Durch die sachliche Sprache und die fehlende Handlung bleibt aber eine Distanz zwischen dem Lesepublikum und den Figuren, sodass der Leser oder die Leserin insgesamt unberührt von den menschlichen Tragödien bleibt. Dazu kommt, dass Interesse für die schweizerische Geschichte bestehen sollte, um die Gesamtzusammenhänge der Asylpolitik zu verstehen. Der Roman bemüht sich, die Immigranten und Immigrantinnen nicht nur auf ihre Rolle als Opfer zu beschränken, sondern Lebensgeschichten zu erzählen. Das Buch ist mit viel Liebe geschrieben, ediert und herausgegeben worden, hinterlässt aber keinen langanhaltenden Eindruck. Und auch der Aktualitätsbezug im Hinblick auf die Frage nach angemessener Flüchtlingspolitik ist nur zu Teilen gegeben. Insgesamt also ein Roman, der mit Freude ein erstes Mal gelesen wird, einem zweiten Blick aber nicht standhält.
Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz
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