Kapitalozän oder Anthropozän?
In „Systemsturz“ rehabilitiert Kohei Saito Marx als Kritiker des Wirtschaftswachstums
Von Thomas Schwarz
Der an der Berliner Humboldt Universität promovierte Philosoph Kohei Saito, der inzwischen an der University of Tokyo lehrt, hat 2020 auf Japanisch einen Bestseller lanciert, mit dem er in die Debatte über die Auswirkung der kapitalistischen Produktionsweise auf die katastrophalen Tendenzen des Anthropozäns eingreift. Nach Übersetzungen ins Koreanische und Englische liegt inzwischen auch eine deutsche Übertragung vor. Ausgangspunkt der Reflexionen Saitos ist die ‚große Beschleunigung‘ (Great Acceleration) nach dem Zweiten Weltkrieg, die Vielzahl exponentiell steigender Wachstumskurven, angeführt vom Anwachsen der Konzentration des Treibhausgases Kohlendioxid in der Erdatmosphäre. Saitos Buch macht für die Umweltkrise im Gefolge dieser Trends die „imperiale Lebensweise“ verantwortlich, die Massenproduktion und -konsumtion des globalen Nordens, die auf einer Ausbeutung der Menschen und der Natur des globalen Südens basiert: Es ist die Klasse der „obersten 10 Prozent der reichsten Menschen der Erde“, die für 50 Prozent aller CO2-Emissionen verantwortlich sind. Ihnen steht die Klasse der „unteren 50 Prozent“ gegenüber, die für „kaum 10 Prozent der Emissionen“ zeichnen. Sollten „die reichsten 10 Prozent ihre Emissionsmenge an die eines durchschnittlichen Europäers anpassen“, ließe sich der CO2-Ausstoß „um rund ein Drittel reduzieren“. Vor diesem Hintergrund benennt Saito unumwunden das „kapitalistische System mit seinem Streben nach unbegrenztem Wirtschaftswachstum“ als „Ursache für die Umweltkrise und den Klimawandel“.
Das Kapital muss sich zum Zweck der Akkumulation immer neue Märkte erschließen und lagert die in diesem Prozess anfallenden Umweltbelastungen in die Peripherie aus. Saitos Paradebeispiel für diese Externalisierung ist das Elektroauto. Das für die Batterie benötigte Lithium wird unter anderem in Chile gefördert. Dabei wird eine immense Menge an Grundwasser verbraucht, während zugleich der Zugang der vor Ort lebenden Menschen zu Süßwasser beschränkt wird. Im Kongo geht der Abbau von Kobalt nicht nur mit Umweltbelastungen einher, sondern auch mit Sklaven- und Kinderarbeit. Saito verwirft neben dem Neoliberalismus auch die Konzepte des „Green New Deal“, mit Konjunkturpaketen erneuerbare Energien und eine energieeffiziente Produktion beispielsweise von Elektroautos zu fördern. Dieser „Klima-Keynesianismus“ führe ebenfalls in die „Falle des Wirtschaftswachstums“. Der Autor bezieht Position gegen einen „linken Akzelerationismus“ und sein Versprechen eines „vollautomatisierten Luxuskommunismus“. Außerdem erteilt Saito dem Geoengineering, Negativemissionstechnologien zur Reduktion des Kohlendioxids in der Atmosphäre und dem Ausbau der Atomenergie eine Absage. Letztere ist für ihn der Prototyp einer „verriegelten Technologie“, die sich allein schon aus Sicherheitsgründen einer demokratischen Kontrolle entzieht. Unter Berufung auf den Klimaforscher Johan Rockström kommt Saito zu dem Schluss, dass der „Verzicht auf Wirtschaftswachstum“ die wirksamste Alternative wäre, um die CO2-Emissionen zu reduzieren. Der Verfasser fordert einen „großen Wandel hin zu einem postkapitalistischen Degrowth“, seine Version des „Kommunismus“.
Der rote Faden von Saitos Manifest ist eine Relektüre der Werke von Karl Marx. Ein Schlüsselbegriff seiner Marx-Interpretation ist die „Idee der Commons“, die Antonio Negri und Michael Hardt geprägt haben. Marx sprach im Kapital vom „Gemeinbesitz“. In Saitos Version handelt sich dabei um „gemeinschaftlich produzierte, organisierte und genutzte Güter, gesellschaftlich geteilte[n] und verwaltete[n] Reichtum“. Mit dem Konzept der Commons öffnet Saito einen „dritten Weg“, der aus den Sackgassen des Neoliberalismus und sowjetischer Verstaatlichungspolitik herausführen soll. Es überantwortet „öffentliche Güter wie Wasser und Strom, Wohnungsmöglichkeiten, Gesundheitsversorgung und Bildung“ einer demokratischen Selbstverwaltung.
Mit Marx gegen Produktivismus und Eurozentrismus
Am gängigen Verständnis von Marx moniert Saito die Unterstellung, es handle sich bei ihm um einen Anhänger des „Produktivismus“ und des „Eurozentrismus“. Tatsächlich haben Marx und Engels im Manifest der Kommunistischen Partei von 1848 ihrer Bewunderung für die kapitalistische Entfesselung der „Produktivkräfte“ und die „Unterjochung der Naturkräfte“ redegewandt Ausdruck verliehen. Saito zeigt allerdings, dass Marx zwei Jahrzehnte später im Kapital bei Justus von Liebig gelernt hat, was Raubbau bedeutet. Er macht darauf aufmerksam, dass der Chemiker die „Stoffwechseltheorie“ von Marx inspiriert hat. Dieser definiert Arbeit als „Stoffwechsel zwischen Mensch und Natur“. Und weil das Kapital versucht, „in möglichst kurzer Zeit mehr Wert zu erwirtschaften“, derangiert es diesen Kreislauf. Offensichtlich denkt Marx in einer Logik von Zyklen, in denen Ökonomie und Ökologie aneinandergekoppelt sind. Das macht seine Theorie anschlussfähig an die Modelle der Earth System Science, die Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Sphären analysiert, von der Atmosphäre über die Hydrosphäre bis hin zur Biosphäre. Vor dem Hintergrund der disruptiven Auswirkungen menschlicher Aktivitäten im planetaren Maßstab auf dieses System erscheint das Anthropozän als Horrorvision mit apokalyptischem Potential.
Aus dem 18. Band der IV. Abteilung der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA), die 2019 unter Mitarbeit von Saito erschienen ist, kann der Verfasser einen ökosozialistisch denkenden Marx zitieren, der die kapitalistische Landwirtschaft kritisiert: Sie führt in den Worten von Marx zu einem „unheilbaren Riß“ im „Zusammenhang des gesellschaftlichen und natürlichen, durch die Naturgesetze des Bodens, vorgeschriebenen Stoffwechsels“. Als Konsequenz wird nicht nur die „Bodenkraft verwüstet“, sondern der Handel trägt „die Verwüstung weit über die Grenzen des eignen Lands hinaus“. Im ersten Band des Kapitals bezeichnet Marx diese Form der Agrikultur ironisch als „Fortschritt“, und zwar „in der Kunst, den Arbeiter“ und „den Boden zu berauben“. Saito kann deshalb mit gutem Recht bei Marx einen „klaren Bruch mit dem Produktivismus“ konstatieren. Im dritten Band des Kapitals kritisiert Marx die „Vergeudung der Bodenkräfte“ im Kapitalismus und plädiert für eine rationalere „Behandlung des Bodens als des gemeinschaftlichen ewigen Eigentums, der unveräußerlichen Existenz- und Reproduktionsbedingung der Kette sich ablösender Menschengeschlechter“. Saito liest die Passage als Forderung nach einer „nachhaltige[n] Verwaltung des Planeten Erde als Common“. Zusammenfassend erklärt der Autor, dass die „endlose Bewegung des Kapitals zum Zwecke der Wertvermehrung und natürliche Zyklen“ unvereinbar sind: „Das Resultat dieser Entwicklung ist das Anthropozän, und auch die fundamentalen Ursachen der heutigen Klimakrise lassen sich hier finden.“
Dass Marx auch mit einem eurozentrischen, an westeuropäischen Staaten orientierten Geschichtsbild gebrochen hat, demonstriert Saito anhand seines Briefes an Vera Sassulitsch. Die russischen Narodniki hatten gehofft, dass die Mir genannten Agrardorfgemeinschaften die Keimzelle für den Sturz des Zarismus bilden könnten. Bei der Ausarbeitung einer Antwort auf die Frage, ob Russland zwangsläufig eine kapitalistische Modernisierung über sich ergehen lassen müsse, ist Marx von der Vorstellung abgerückt, dass das „industriell entwickeltere Land“ dem „minder entwickelten“ das „Bild der eignen Zukunft“ zeige. In seiner Antwort erklärt Marx, dass seine Analyse im Kapital auf die „Länder Westeuropas beschränkt“ ist. Das Vorwort zur russischen Edition des Manifests von Marx und Friedrich Engels aus dem Jahr 1882 verweist auf die Option, dass das großflächig bestehende „russische Gemeineigentum am Boden zum Ausgangspunkt einer kommunistischen Entwicklung dienen“ könnte.
Degrowth-Kommunismus auf der Basis von Commons
Beim späten Marx konstatiert Saito einen „epistemologischen Bruch“, der ihn zum Verfechter eines „Degrowth-Kommunismus“ gemacht habe. Er macht ihn an der Skizze einer Utopie der „kommunistischen Gesellschaft“ in der ‚Kritik des Gothaer Programms‘ von 1875 fest. In ihr sollen „alle Springquellen des genossenschaftlichen Reichtums voller fließen“. Saito besteht darauf, dass es ein Missverständnis wäre, diese Stelle als Befürwortung eines wachstumsorientierten Produktivismus zu interpretieren. Vielmehr handle es sich hier um einen Hinweis auf die Bedeutung von Commons für einen qualitativ anderen „radikalen Überfluss“. Dieser beinhaltet auch mehr Lebensqualität, zum Beispiel durch eine Verkürzung der Arbeitszeit, damit sich die Menschen nicht länger „zu Tode arbeiten“. Der Übersetzer merkt an, dass der von Saito an dieser Stelle verwendete Begriff, nämlich „Karoshi“ oder „Tod durch Überarbeitung“, ein Problem bezeichnet, mit dem sich nicht nur die arbeitende Bevölkerung in Japan, sondern auch in Korea und China auseinandersetzen muss.
Den Prozess, den Marx „ursprüngliche Akkumulation“ nennt, interpretiert Saito als einen Vorgang, der „künstliche Knappheit“ schafft. Die kapitalistische Aneignung der Allmenden habe das Ziel verfolgt, im Überfluss vorhandene „Commons wie Land und Wasser“ für die große Mehrheit der Menschheit zu verknappen. Die „Rekonstruktion der Commons“ dagegen erlaube es im 21. Jahrhundert, auf der Basis von „offenen Technologien“ wie Solarenergie und Windkraft einen „radikalen Überfluss“ zu realisieren.
Fukushima als Probe aufs Exempel für das revolutionäre Potential Japans
Zu den revolutionären kommunistischen Forderungen von Saito gehört die „Vergesellschaftung großer Ölkonzerne, von Großbanken und digitaler Infrastruktur“ (sprich: Google, Apple, Facebook und Amazon). Um in dem von Marx verheißenen „Reich der Freiheit“ anzukommen, gelte es, ein „System“ zu „zerschlagen“, das auf „endloses Wachstum“ ausgerichtet ist und „die Menschen zu überlangen Arbeitszeiten und schrankenlosem Konsum antreibt“. Das in Verbindung mit dem Aufruf zu Massenprotesten öffentlich zu verlangen, erfordert beträchtlichen Mut in einem Land, das so konservativ ist wie Japan. Umso erstaunlicher ist die positive Resonanz, die Saitos Manifest in der japanischen Leserschaft gefunden hat. Die Rede ist von einer halben Million verkaufter Exemplare, das sind bald vier Prozent der Bevölkerung Japans. Saito ist ein Anhänger der These, die von der Politologin Erica Chenoweth aufgestellt worden ist. Sie prognostiziert große gesellschaftliche Umwälzungen für den Fall, dass „3,5 Prozent der Menschen gewaltlos und entschlossen aufbegehren“. Wenn die Bereitschaft, sich lesend auf einen komplexen Gedankengang einzulassen, auch zu einer politischen Handlungsfähigkeit führte, die diesem entspricht, dann könnte am Ende Japan das Land sein, das anderen den Weg in die Zukunft weist. Vorläufig spricht dagegen, dass das de facto verstaatlichte Tokyoter Energieversorgungsunternehmen Tepco seit dem 24. August 2023 aus den Tanks der havarierten Reaktoranlage von Fukushima mit Tritium kontaminiertes Wasser in den Pazifik pumpen kann, ohne dass es in Japan zu nennenswerten Protesten gekommen wäre. Obwohl es auch Wissenschaftler gibt, die vor einer unzureichenden radiologischen und ökologischen Folgenabschätzung der Einleitung warnen, nimmt noch immer mehr als die Hälfte der japanischen Bevölkerung der Firma Tepco Presseerklärungen mit Sicherheitsversprechen ab. Würde man in Fukushima hingegen Saitos Vorschlag folgen, nicht nur Elektrizitätswerke, sondern die ganze damit in Verbindung stehende Infrastruktur, also auch die Reaktorruinen, als Commons auf lokaler Ebene von den Bürgern verwalten zu lassen, würden sich wohl die unmittelbar betroffenen Fischer von Fukushima mit einem „Nein“ durchsetzen.
Für eine Kopplung ökonomischer an ökologische Zyklen
Es wäre ein billiges Vergnügen, vom Verfasser dieses Buches ein elaboriertes politisches Programm mit konkreten Handlungsanweisungen zu erwarten. Er leistet die Arbeit eines Philosophen und führt den Klassenkampf mit klaren Worten in der Theorie. Für Saito kommt es darauf an, eine „imperiale[] Produktionsweise“ zu überwinden, so dass sich die „Produktion an den Naturkreisläufen ausrichtet“: „Eine an die Kreisläufe der Natur angepasste Produktion im Kapitalismus ist unmöglich, da er auf grenzenlosen Gewinn aus ist. Revolutionär ist daher nicht der Akzelerationismus, sondern der Deakzelerationismus“. In diesem auf Entschleunigung setzenden Gedanken liegt die theoretische Stärke von Saitos essayistischen Ausführungen, die so geschrieben sind, dass sie auch ein breiteres Publikum jenseits akademischer Zirkel ansprechen. Gut nachvollziehbar widerlegt der Autor die Annahme, dass Marx Anhänger eines eindimensionalen, linearen Fortschrittsdenkens auf der Grundlage einer rücksichtslosen Entwicklung der Produktivkräfte gewesen sei. Im Rückgriff auf Marx hat Saito überzeugend einen zentralen Widerspruch herausgearbeitet zwischen dem Drang des Kapitals, permanent seine Umschlagsgeschwindigkeit zu erhöhen, und natürlichen Reproduktionszyklen, die ihre eigene Zeit haben und auf ökologisches Recycling angewiesen sind.
Am Ende seines Buches diskutiert Saito die Frage, ob es nicht besser wäre, das Anthropozän einfach „Kapitalozän“ zu nennen. Schließlich sei es doch eindeutig „der Kapitalismus“, der „den Planeten zerstört“. Wenn es allerdings gelänge, die Erde mit einem „Systemsturz“ zu retten, könne man an der Bezeichnung Anthropozän auch festhalten – hoffentlich in einem „positiven Sinne“. Angemerkt sei noch, dass der Titel von Gregor Wakounigs deutscher Übersetzung eine beachtenswerte Ambivalenz birgt, die den Sphären des Erdsystems Handlungsfähigkeit zubilligt. Denn ein „Sieg der Natur“ vernichtender Art ist das, was einer kapitalistisch fortwurstelnden Menschheit im schlimmsten Fall droht. Die Natur könnte uns noch mit Blitz und Donnerschlag die Erkenntnis ihrer eigenen Agency einpauken, die ihr der Mainstream der abendländischen Philosophie gemeinhin abspricht.
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