Im Zeichen Zions

Tom Segev erzählt die Geschichte des Staatsgründers Israels David Ben Gurion neu

Von Galina HristevaRSS-Newsfeed neuer Artikel von Galina Hristeva

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Sie war keine Zionistin.“ Als die junge New Yorker Jüdin Paula Munweis im Jahr 1915 David Ben Gurion kennenlernt, ahnt sie noch nicht, wie sehr ihr zukünftiges Leben vom Zionismus geprägt sein wird. Kurze Zeit nach ihrer Heirat mit David Grün, wie Ben Gurion damals noch hieß, wird sie ihrem Ehemann schreiben: „Alles ist langweilig und trübselig in meinem Leben, ich bin so elend und so nervös.“ Auf ihre Klagen erwidert der junge Mann, der in jener Zeit eine militärische Ausbildung in Kanada absolviert: „Ich bereitete dir das große Glück vor, ein heiliges und doch menschliches, das aber durch Leiden und Qualen erkauft werden muss.“

Tom Segevs Buch David Ben Gurion. Ein Staat um jeden Preis will diese Leidensgeschichte nachzeichnen – Paulas, David Ben Gurions selbst, weiterer Juden, aber vor allem der vielen Araber, die Segev zufolge Ben Gurions zionistischem Elan zum Opfer fielen. Die kritische Auseinandersetzung mit der Legende „David Ben Gurion“ erfolgt in Segevs Buch weitgehend über das Aufzeigen der von ihm verursachten Leiden – das ist der Preis für die Verwirklichung seiner großen Vision. Der 70. Geburtstag des Staates Israel kann und soll als Anlass genutzt werden, um eine Bilanz über die Geschichte und Entwicklung dieses Landes zu ziehen. Segevs Fazit: Der zionistische Traum wurde für viele zum Albtraum. Das ist nicht unbedingt eine neue Idee – schließlich ist die Perspektive der Palästinenser nicht viel anders, betrachten sie doch die Gründung des Staates Israel als Nakba, als Katastrophe. Der Versuch, eine Erfolgsgeschichte zur Opfer- und Leidensgeschichte umzudeuten, wird nun von Tom Segev an keinem Geringeren als David Ben Gurion durchgeführt. Der Autor kommt nicht umhin, die „Spannkraft“ der zionistischen Idee und ihrer Protagonisten aufzuweisen, sein Blick richtet sich aber vor allem auf die angerichteten Schäden und dargebrachten Opfer.

So besteht das Buch aus einer langen Reihe von Vorwürfen an David Ben Gurion, die zwar unterschiedlich laut zum Ausdruck kommen, alle zusammen aber eine Melodie ergeben, die von unterschwelligem Groll und einer nicht gänzlich ausgesprochenen, aber anhaltenden Anklage geprägt ist. Ben Gurion hat seine Frau vernachlässigt – so musste Paula in Ben Gurions Geburtshaus in Płońsk sogar in einem verschimmelten Raum wohnen. (Und wieder schrieb sie: „Mein Leben ist elend, ich leide.“) Seinen Vater und seine Schwester hat er nicht rechtzeitig nach Palästina eingeladen, wie sie sich dies wünschten, alte Freunde behandelte er nicht immer mit der von ihm erwarteten Wärme, seine Seitensprünge belasteten die Ehe mit Paula. David Ben Gurion soll entzaubert werden: „Er konnte kleinlich, boshaft, durchtrieben sein, und manchmal log er rundheraus. Er hatte keinen Humor. Er war ein schlechter Verlierer und bat nur selten um Verzeihung. Einer seiner Bekannten sagte, Ben Gurion habe sich nicht wirklich für Menschen interessiert, sondern nur dafür, wie sie einsetzbar waren.“

Der Katalog der Vergehen und Fehltritte Ben Gurions in Segevs Buch ist umfangreich, der Preis des „praktischen Zionismus“, den er betrieb, wird als hoch eingeschätzt. „Sein Führungsstil war von Grübeln, Zögern, Ungewissheit, Gegensätzen und Widersprüchen, Extravaganzen und Phantastereien gekennzeichnet; er lavierte zwischen Politik, Diplomatie und Terror“, schreibt Tom Segev. Dem Autor zufolge hat sich Ben Gurion beispielsweise mehr mit Parteipolitik als mit der Rettung der europäischen Juden vor dem Holocaust beschäftigt: „Nur ein relativ kleiner Teil [der europäischen Juden] verdankte sein Leben den Rettungsbemühungen der zionistischen Bewegung. Ben Gurion, dessen zionistische Fantasieausbrüche kaum Grenzen kannten, lenkte die Rettungsprogramme als engstirniger und kleingläubiger Realist.“ Sei es mit seiner Geringschätzung der jüdischen Diaspora oder seinem unzureichenden Einsatz, ja sogar Distanzierung vom Projekt der Rettung der Juden vor dem Holocaust – Ben Gurions Lebenswerk ist von Fehlern, mehr oder weniger schwerwiegenden Versäumnissen und Unterlassungen gezeichnet.

Den Höhepunkt der Vergehen Ben Gurions sieht Segev in seiner Beteiligung am „Zwangstransfer“ Tausender von Arabern, der im März 1948, wenige Wochen vor der Gründung des Staates Israel, zum Beispiel im „Plan Dalet“ gipfelte: „Mit der Eroberung und Räumung arabischer Dörfer wurde eine neue und vielversprechende geopolitische Lage geschaffen, die für die Verwirklichung der zionistischen Vision lebenswichtig war.“ Für all diese Vorwürfe findet der bekannte israelische Historiker und Journalist genügend Belege, die er reichlich zitiert, etwa Ben Gurions Kommentare: „Es ist nicht unsere Aufgabe, für die Rückkehr der Araber zu sorgen.“ Oder: „Wenn sie flüchten – muss man ihnen nicht nachlaufen“. Mit solchen Zitaten belegt Segev seine These, Ben Gurion habe „die Basis für die dauernde Tragödie der Araber in diesem Land“ gelegt. Die antijüdischen Ausschreitungen auf palästinensisch-arabischer Seite werden zwar nicht komplett ausgeblendet, doch der Akzent fällt auf den jüdischen Terror und entsprechend auf die Opferrolle der palästinensischen Flüchtlinge. So seien die im Frühsommer 1967, also im Vorfeld des Sechstagekrieges, Terror ausübenden Palästinenser „häufig Söhne der Flüchtlinge von 1948“ gewesen. Vor dem Hintergrund der Hervorhebung des jüdischen Terrors ist es nicht überraschend, dass David Ben Gurion stellenweise auch zum Diktator stilisiert wird, zum Beispiel wenn er von einer „zionistischen Diktatur“ träumt, sich als „zionistischen Lenin“ sieht und überhaupt alles in den Dienst des Zionismus stellt.

Dass David Ben Gurion trotz der übermenschlichen Statur, die ihm die Geschichte im Lauf der Zeit verliehen hat, nichts Menschliches fremd war, wird kaum jemanden verwundern. Dadurch aber, dass er bei Segev voller Widersprüche steckt und oft sogar dem Zusammenbruch nahe ist, erntet er auch viel Sympathie. Trotz oder gerade infolge seiner Schwächen sowie dank Segevs Erzählkunst, wenn auch entgegen dessen Intention, erscheint Ben Gurion als ein faszinierender moderner Held. Der Biograf zeichnet auf fast 800 Seiten seinen fast wundersamen Weg zum Anführer seines Volkes, sein facettenreiches, erstaunliches Leben. Der in Polen (damals Russisches Reich) geborene junge Mann war nicht nur äußerst zielstrebig und durchsetzungsfähig, sondern sammelte und las leidenschaftlich Bücher, liebte die westliche Bildung und Kultur, schrieb viel und gern, reiste viel in Europa und in den Vereinigten Staaten, verkehrte mit Intellektuellen und Politikern. Nicht zuletzt empfand er Abscheu vor Diktatoren, beispielsweise reagierte er auf eine Rede Hitlers, die er 1938 in London im Rundfunk gehört hatte, folgendermaßen: „Hitler brüllte, schrie, zürnte, höhnte und spottete, provozierte und beleidigte. Sein Massenpublikum grölte mit“. Hitler habe sich wie „der Rädelsführer einer Bande von Banditen und Henkern“ verhalten. Ben Gurion hatte sich der Idee verschrieben, einen Staat für sein Volk zu gründen, und so wurde sein Leben genau so, wie in seiner oben zitierten Aussage festgehalten: „heilig“ und „menschlich“ zugleich. Beide Seiten sind in Segevs Buch gut vertreten, materialreich belegt und glänzend erzählt.

David Ben Gurion. Ein Staat um jeden Preis ist bei Licht besehen weniger eine Anklage an David Ben Gurion als eine Abrechnung mit dem Zionismus. Dieser war Ben Gurions Motor, der ihn sogar seinen Namen ändern ließ, er wurde ihm aber laut Segev auch zum Verhängnis. Er brachte ihn an die Macht, ließ ihn aber auch an die Grenzen der Macht stoßen sowie die Grenzen seiner eigenen Kraft spüren. Er ließ ihn rigoros handeln, aber auch irren. Er trübte seinen Blick für viele Ungerechtigkeiten und verleitete ihn zu vielen Ungerechtigkeiten. Ben Gurion verbrachte sein Leben im oft kaum auszuhaltenden Spannungsfeld zwischen Kontrollzwang und Kontrollverlust, zwischen Macht und Ohnmacht. Alle seine Stärken und Schwächen sind in seinem „unerschütterlichen Glauben an den Zionismus verankert“. Segevs Angriff auf den Zionismus erfolgt sowohl über die Anklage Ben Gurions als auch über die Darstellung terroristischer Aktionen und „Gräueltaten“ von Organisationen wie der Etzel und der Lechi, zu denen sich der Staatsgründer zuweilen doch ambivalent, ja feindselig verhielt. Grundsätzlich gilt aber für Tom Segev: „Die Hoffnung, das Land seiner arabischen Bewohner zu entledigen, begleitete den Zionismus von Anfang an.“ Den „zionistischen Traum“ selbst bringt er auf die knappe Formel: „Maximum an Fläche – Minimum an Arabern“.

Zusätzlich zu den dauernden Verweisen auf die vom Zionismus verursachten Schäden und Leiden wird man im Buch Zeuge der zahlreichen Rivalitäten und Animositäten zwischen Ben Gurion und weiteren wichtigen Vertretern des Zionismus wie Chaim Weizmann und Vladimir Zeʼev Jabotinsky. Letzterer – ein bekannter (und brillanter) Intellektueller, Schriftsteller und Journalist – hatte die Etzel ins Leben gerufen. Segev lässt auch manches Positive, vor allem einige richtige Einschätzungen Ben Gurions und seine politische Weitsicht nicht unerwähnt. So kritisierte dieser beispielsweise den Militarismus: „Es gibt eine Geschichtsphilosophie, die den Krieg als die höchste Bestimmung des Menschen betrachtet. [Segevs Kommentar zufolge meint Ben Gurion hiermit die Nazis und die Araber.] Diese Philosophie ist ein Gräuel für das Judentum, wie ich es verstehe und wie es, meine ich, die biblischen Propheten und Weisen verstanden haben.“ Dennoch drängt sich bei Segev das Destruktive der zionistischen Idee stark in den Vordergrund und zieht sich durch das ganze Buch. Erwähnenswert ist nicht zuletzt, dass das Buch nach dem Schema „Aufstieg und Niedergang“ aufgebaut ist. Dieses biografisch ausgerichtete, auf Ben Gurions Lebensgeschichte zugeschnittene Konzept, zu dem verständlicherweise Jugend, Alter, Schwäche und Tod gehören, soll dann auf den Zionismus übertragen werden, denn Ben Gurion entwickelte sich immer mehr zur Verkörperung des Zionismus. Damit soll der zunehmende Machtverlust der zionistischen Idee suggeriert werden.

Die Frage nach dem Preis, den Ideologien fordern, nach ihren Folgen und ihren blinden Flecken, ist legitim und überaus wichtig. Die Biografie wirft denn auch eine Menge Fragen zur Geschichte und Psychologie der Ideologien auf. Wie kann es etwa sein, dass Ideologien mit dem Ich von Führungspersönlichkeiten verschmelzen können? Hierzu Segev über Ben Gurion: „Zionismus und Ego verschmolzen bei ihm zu einer Einheit.“ Oder in welche Lücke springen Ideologien, bedenkt man Ben Gurions Aussage über seine Kindheit: „Selbst als ich noch nicht den Inhalt der Beratungen und Diskussionen begriff, habe ich doch bereits die Liebe zu Zion aufgesogen, die die Leere unseres Hauses ausfüllte.“ Welche Sehnsüchte werden hiermit befriedigt, welche „schwarzen Löcher“ und inneren Nöte dadurch kompensiert? Segev geht in seinem Buch aber nicht weiter und entwickelt hier keine klare analytische und konsequent kritische Linie jenseits der bereits genannten Vorwürfe an Ben Gurion. Er bleibt auch meist bei dem bitter-ironisch bis anklagend wirkenden Diktum vom „zionistischen Aufbauwerk“ oder der „zionistischen Illusion“ stehen und weigert sich, die Spezifik der zionistischen Ideologie einzubeziehen: den Zionismus als ein neues beziehungsweise neu erwachtes Nationalbewusstsein, eine emanzipatorische Bewegung, die nicht frei von Irrtümern, aber auch nicht von Selbstreflexion und Selbstkritik war. Der „ideologiebeseelte“ David Ben Gurion selbst war weit davon entfernt, den Zionismus als „Auferstehungsmythos“ oder „Ideal für die Zukunft“ zu betrachten, sondern zog es vor, sich auf die „reale Wirklichkeit in der Gegenwart“ zu konzentrieren und seinem Volk so gut es ging Schutz vor Antisemitismus und Judenfeindlichkeit zu bieten.

„Er war ein verschlossener, ratloser junger Mann gewesen. Arbeiter wollte er nicht sein, Rechtsanwalt konnte er nicht werden“, schreibt Segev über Ben Gurion. In seiner Lesart wurde aus dieser Ratlosigkeit nicht nur ein Leben im Zeichen Zions, sondern auch ein opferreiches Leben auf dem Altar des Zionismus. Der Staat Israel ist heute, 70 Jahre nach seiner Gründung, ein Faktum und ein Erfolg – die einzige Demokratie im Nahen Osten und eins der höchstentwickelten Länder der Welt. Theodor Herzl hielt den Judenstaat Ende des 19. Jahrhunderts für „ein Weltbedürfniss“, dessen Treibkraft die „Judennoth“ war. Herzl hatte in seiner Schrift „Judenstaat“ geschrieben: „Wenn die jetzige Generation noch zu dumpf ist, wird eine andere, höhere, bessere kommen. Die Juden, die wollen, werden ihren Staat haben und sie werden ihn verdienen.“ Ben Gurion gehörte zu dieser von Herzl erträumten Generation. Er wusste, dass „Erez Israel […] eine Frage von Leben und Tod für das jüdische Volk“ ist, und Segevs umfangreiche, wichtige und insgesamt meisterhaft geschriebene Biografie zeigt trotz mancher Voreingenommenheit und des meist negativen Lichts, welches sie auf den Zionismus wirft, doch unmissverständlich, wie sich David Ben Gurion um diesen Staat verdient gemacht hat und sich diesen Staat auch verdient hat. Denn ihm war klar: „Staaten werden den Völkern nicht auf einem goldenen Teller dargereicht“.

Titelbild

Tom Segev: David Ben Gurion. Ein Staat um jeden Preis.
Übersetzt aus dem Hebräischen von Ruth Achlama.
Siedler Verlag, München 2018.
800 Seiten, 35,00 EUR.
ISBN-13: 9783827500205

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