Der Mann in Weiß

Claudius Seidl legt eine Biografie Helmut Dietls vor

Von Dirk KaeslerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dirk Kaesler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Der Rezensent ist befangen. Dies ist meine dritte Begegnung mit Helmut Dietl auf den Seiten von literaturkritik.de.

Meine erste Begegnung war die Rezension des letzten Films von Dietl, Zettl. Unschlagbar charakterlos, der im Frühjahr 2012 in die Kinos kam. Meine Besprechung war nicht nur ein Verriss dieses missglückten Machwerks. Es war zugleich ein Liebesbrief an einen Künstler, der mich seit Jahrzehnten begleitete.

Die zweite Begegnung war meine Rezension der unvollendeten Autobiografie Dietls, der im März 2015 gestorben war und die seine Witwe Tamara Dietl im Jahr 2016 unter dem unglücklichen Titel A bissel was geht immer herausgegeben hatte.

Nun also die dritte Begegnung mit diesem Mann, der seit sieben Jahren tot ist und der mich immer noch nicht losgelassen hat. Der 63jährige Publizist und Filmkritiker Claudius Seidl, ehemaliger Feuilletonchef der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung und immer noch deren regelmäßiger Autor, legt „Die Biografie“ Helmut Dietls vor, nicht „Eine Biografie“. Hier wird marktschreierisch „Die“ Biografie gemeldet. Soll damit markiert werden, dass dieses Buch nun das ultimative Bild vom Leben dieses Mannes präsentiert? Niemals wird es „die“ Biografie eines Menschen geben, es wird immer nur eine sein können.

Der große Filmregisseur

Seidls erste Zeilen des Buches stimmen den Ton an: „Am 9. Mai des Jahres 2014 […] zeigte sich der große Filmregisseur Helmut Dietl zum vorletzten Mal der Öffentlichkeit.“ Es geht also um einen „Großen“, dessen Lebensweg mit diesem Buch nachgezeichnet werden soll. Aus welcher Perspektive betrachtet der Journalist Seidl den Filmemacher Dietl?

Auch wenn die beiden Männer die meisten ihrer Jahre gleichzeitig in München lebten, bewegten sie sich in sehr unterschiedlichen Kreisen. Jahrzehntelang begleiteten sie sich beide auf Distanz: „Die Andeutung eines Kopfnickens aus der Ferne, mehr war es nicht in dreißig Jahren“, schreibt Seidl. Es gab kaum personelle Schnittflächen, einzig der Produzent Bernd Eichinger setzte sich sowohl zu den „Filmleuten“ als auch zu den „Schreibern“. Der Filmkritiker Seidl betont, dass er nicht durch gemeinsames Rotweintrinken korrumpiert werden wollte, das eventuell dann doch zum Duzen hätte führen können. Zu viel Nähe wäre gefährlich gewesen, „wo es doch so viel zu schreiben gab, über Helmut Dietl und seine Filme.“

Es ist ein mutiges Unterfangen, einer Autobiografie eine Biografie aus fremder Feder folgen zu lassen. Einen guten Grund gibt es dafür: Als der Tod Dietl die Feder endgültig aus der Hand nahm, war sein eigenes Lebensbild erst bis zu seinem 42. Lebensjahr gekommen. Es blieb stecken in der Rekapitulation der Dreharbeiten von Kir Royal. Dietls eigene Erinnerungen enden mit der Nacherzählung jener legendären Szene, in der der Kleberfabrikant Heinrich Haffenloher, gespielt von Mario Adorf, am Pool des Hotels „Bayerischer Hof“ dem Klatschreporter Baby Schimmerlos, gespielt von Franz Xaver Kroetz, eine klare Ansage macht: „Ich scheiß dich so was von zu mit meinem Geld, dass du keine ruhige Minute mehr hast.“

Wie aber ging es weiter mit Dietl nach dieser erfolgreichen letzten Fernsehserie? Patrick Süskinds Nachwort in Dietls Autobiografie „Erinnerungen an eine Freundschaft“ hatte zwar ein paar letzte Stationen bis zum Sterben seines Freundes und Co-Autors skizziert, aber es fehlte das Nachzeichnen der Stationen des Filmemachers von Schtonk! (1992), Rossini – oder die mörderische Frage, wer mit wem schlief (1997), Late Show (1999), Vom Suchen und Finden der Liebe (2005) und Zettl (2012). Und dabei ging es ja nie nur um Filme. Die Filme spiegelten auch immer das Leben dieses Mannes: Mal war Dietl der „Tscharlie“, dann der „Monaco“ oder der „Uhu Zigeuner“.

Was lernen wir aus Seidls Biografie über den Filmemacher und den Mann Helmut Dietl?

Bis zu Seite 85 nichts, was wir nicht schon aus der Autobiografie Dietls kennen. Aber wir lernen viel über den selbsternannten Psychoanalytiker Seidl, der sich zutraut, die Erinnerungen Dietls an seine Kindheit und Jugend nicht nur zu interpretieren, sondern zu korrigieren. Er bezeichnet die „Unvollendeten Erinnerungen“ Dietls als Erinnerungen eines „alten Mannes“ – Dietl war 69 Jahre alt, als er mit dem Schreiben aufhören musste –, in denen dieser „die Dietlwerdung Helmut Dietls“ zwangsläufig melancholisch geschildert habe. Es ist Seidl, der diagnostiziert, dass die vaterlose Kindheit Dietls als „Glück“, als „unverdiente Gnade“ zu verstehen sei, da Dietl auf diese Weise einer jener Väter erspart geblieben sei, vor denen die damaligen Kinder und Frauen Angst hatten, entweder vor den Prügeln oder vor der schweigsamen Verbitterung dieser Männer, die aus dem Krieg zurückgekommen waren.

Dieser Rezensent weiß nichts über Kindheit und Jugend von Claudius Seidl, außer der Wikipedia-Angabe, dass dessen Vater starb, als der Junge sieben Jahre alt war. Ist es denkbar, dass Seidl beim Nachdenken über das Leben eines anderen Vaterlosen seine eigenen Erfahrungen zugrunde legte? Wurde vielleicht ihm gesagt, dass er glücklich sein soll, dass er vaterlos erwachsen wurde? In Dietls Lebenserinnerungen finde ich jedenfalls keine Spur solcher Glückserfahrung, ungeachtet der Tatsache, dass ihm die bedingungslose Liebe seiner Mutter und seiner beiden Großmütter von allergrößter Wichtigkeit war. Selbst wenn bei Dietl das Unglück über den standesamtlich registrierten Vater erkennbar ist, sagt das doch nichts darüber, dass er diese Vaterlosigkeit als „Glück“ empfunden hat. Kann sie nicht viel eher zu unstillbarer Sehnsucht nach einem „besseren Vater“, dem „richtigen“ Vater geführt haben. Warum wären sonst Tränen aus den Augen des Buben Helmut gequollen, als die Großmutter, wissen wollte, wo „der Papa“ für ihn stehe: „Aus den Augen des Kindes quollen dicke Tränen, die Lippen zuckten, aber sie blieben stumm. Der Schmerz war ganz tief im Innersten verschlossen, er entzog sich jeder Formulierung, man erhielt keine Auskunft.“ So schreibt es Dietl. Steht es einem Biografen zu, dem von ihm Beschriebenen, der so klar von seinem Schmerz schrieb, bevormundend „Glück“ anzudichten? Seidl weiß es besser: „Diese Kindheit war wohl, von innen, aus der Sicht des Kindes betrachtet, glücklich […]“.

Zum einen bedient sich Seidl auf weite Strecken der Berichte Dietls, indem er sie schlicht nacherzählt: „die Geschichte zu diesem Gedicht ist so gut, dass sie hier nicht unerzählt bleiben darf“. Zum anderen deutet er diese Geschichten häufig anders, als Dietl sie erzählte. Wenn man das macht, sollte man das nicht unbedingt mit dem Gestus machen, es besser zu wissen als der Beschriebene selbst. Es ist diese übergriffige, besserwisserische Bevormundung, die diesen Rezensenten an vielen Stellen erheblich störte.

Mit erkennbarer Sympathie – Identifikation? – zeichnet Seidl den Dietl jener Jahre als „Außenseiter, Eigenbrötler, radikaler Individualist – die nahezu perfekte und allseits dafür beneidete Verkörperung des Münchners, – das Wunschbild der Münchner von sich selbst.“ Bei allen diesen Szenen, die man schon aus Dietls eigener Darstellung kennt, gibt Seidl jedoch seinen eigenen Senf – man kann es nicht anders nennen – dazu, wobei er sich dazu Verstärkung bei den Erinnerungen anderer an jene Zeiten holt, die er durch Gespräche mit dem Modedesigner Bernd Stockinger und die Darstellung der Dorothea Fischer garniert. Meint er, dass auf diese Weise „Die“ Biografie entsteht? Glaubt er den Darstellungen der Dritten mehr als den melancholischen Erinnerungen des „alten Mannes“? Glaubt er, dass er „die Helmutdietlwerdung des Helmut Dietl“ – so nennt er das – besser versteht als Dietl selber?

Indem Seidl die Geschichten, die Dietl selbst auf seine Weise erzählt hat, nacherzählt, erlaubt er sich eine Darstellungsform, die einen beim Lesen entweder amüsiert oder ärgert. Am deutlichsten wird diese Technik, wenn Seidl die ersten Liebesbeziehungen Dietls rekonstruiert: Es beginnt mit dem abrupten Ende des Strandliebens der norddeutschen Elke, dann kam die Wienerin Louise, danach die Lili aus Moosinning, dann das Mädchen Dorothea Fischer, die von ihrer Mutter, der Schauspielerin Elfie Pertramer, mit bürgerlichem Namen Elfriede Bernreuther, in diesem ersten Reigen des Oberschülers, Abiturienten, Wehrpflichtigen Dietl abgelöst wird. Sie nimmt sich den jungen, schönen Mann mit dem italienisch wirkenden Aussehen und Auftreten an ihre Brust. Diese Frau, die Seidl „mal als Münchner Sophie [!] Loren, mal als bayerische Antwort auf Marilyn Monroe“ charakterisiert, spielt auch in Dietls eigener Darstellung eine zentrale Rolle: Ihm zufolge schenkte sie an einem Nachmittag in ihrem Bett dem Jüngling das sichere Gefühl, „was man gemeinhin einen Mann nennt. […] Die Tatsache, dass Elfie zwanzig Jahre älter war als ich, spielte nicht nur keine Rolle, sondern war im Gegenteil das eigentlich Faszinierende, das Neue, das Aufregende.“

An vielen Stellen scheint der Biograf Seidl dem von ihm Biografierten nicht zu glauben. Wie wenn es dieses Zitat nicht gäbe, schreibt er: „Es lässt sich, mehr als fünfzig Jahre danach, nicht verlässlich sagen, wann genau Helmut Dietl aufhörte, ein Junge zu sein, ein sehr gut aussehender und selbstbewusster immerhin.“ Und um das aufzuklären, interviewt Seidl die erste der insgesamt vier Ehefrauen Dietls, Karin Dietl-Wichmann. Wissen Ex-Frauen besser, was wirklich war?

Zumindest erzählte Dietl-Wichmann Seidl mehrere Geschichten, die wir nicht aus den Erinnerungen von Dietl selbst kennen: Eine davon handelt von der Ablösung Dietls von Elfie Pertramer durch Karin Wichmann. Als Erklärung bietet Seidl an: „Es war für einen jungen Mann von Helmut Dietls Selbstbewusstsein auf Dauer wohl unerträglich, als Elfie Pertramers Gigolo wahrgenommen zu werden.“ Und auch für Dorothea Fischer, so erzählte sie Seidl, sei es „kaum zu ertragen“ gewesen, dass im Zimmer nebenan ihr Exgeliebter mit ihrer Mutter schlief. Und so begann die Beziehung zwischen Helmut Dietl und Karin Wichmann, nachdem diese sich von ihrem Ehemann getrennt hatte. Seidl informiert uns über die weibliche Interpretation einer einigermaßen asymmetrischen Liebe: hier die erfolgreiche Journalistin Wichmann, die in Rom als Pressefrau für die Gloria-Film GmbH den Erfolgsfilm Angélique betreute, dort der mittellose Münchner Student, der als Kabelträger beim Bayerischen Rundfunk jobbte. Der mit dem Geld, das er sich von seiner Mutter geliehen hatte, einen Flug nach Rom buchte, um unangemeldet vor Karin Wichmann zu stehen. Die ihn dann in ihre Wohnung an der Piazza del popolo mitnahm.

In diesen Passagen blüht der Filmkenner Seidl auf, wenn er die diversen Kontexte jenes legendären Kostümfilms von Bernard Borderie aus dem Jahr 1964 nach den Romanen der französischen Schriftstellerin Anne Golon schildert. Die Rolle des professionellen Cineasten nimmt er sehr viel souveräner wahr als die des psychotherapeutischen Analytikers. Durch wenige Sätze sieht man förmlich, wie der Hauptdarstellerin Michèle Mercier abwechselnd als sexuell missbrauchtes Opfer die Kleider vom Leib gerissen werden – „damit die Kamera auch möglichst viel von ihrem schönen Körper zu sehen bekommt“ – oder wie sie als sinnliche Rothaarige sich ihre Liebhaber selbst aussucht, „eine Feministin des Barocks, eine Schwester der Frauen der sechziger Jahre“. Als sehr selbstbewusste Frau stellt uns Seidl auch seine Interviewpartnerin Wichmann vor, die ihm berichtet, dass Dietl in dieser römischen Zeit sein eigenes Geld verdiente, indem er erfolgreich Poker spielte. Und ansonsten die Filmleute des Cinecittà persönlich kennenlernte, wenn sie sich von den Dreharbeiten der zahlreichen Kostüm- und Sandalenfilme erholten. Den Höhepunkt dieser Passagen bietet Seidls Nacherzählung der Schilderungen seiner Interviewpartnerin Wichmann von Pokerrunden, in denen Dietl dem US-amerikanischen Schauspieler Clint Eastwood – der angeblich sein begehrliches Cowboy-Auge auf Karin Wichmann geworfen hatte, die aber nichts von „Clintie“ wissen wollte, weil sie mit ihrem italienischen Münchner Helmut zusammen war – besonders viel Geld aus der Tasche zieht.

Wie eine kalte Dusche wirkt es, wenn Seidl notiert, dass die letzte Ehefrau Dietls, Tamara Dietl, dagegen berichtet, dass ihr verstorbener Mann „kein Talent zum Kartenspielen“ gehabt habe und nicht einmal die Karten von Mau-Mau richtig hätte halten können. Wem mag der Leser lieber glauben? Der ersten oder der letzten Ehefrau? Auch der Biograf Seidl fragt sich, ob die ganze Poker-Geschichte „nur eine Erfindung ist, die Verklärung einer Zeit, die lange vergangen ist – dann ist es umso schöner, sich vorzustellen, sie wäre wahr.“ Aber er verteidigt seine erkennbare Verliebtheit in die Poker-Szene Dietl-Eastwood, sieht er doch darin schon den „Tscharli“ aus den „Münchner Geschichten“. Als Liebhaber der Serien und (mancher) Filme Dietls stimmt man dem Filmkritiker gerne zu, auch als Leser freut man sich an dem Drehbuchverliebten.

Diese Unstimmigkeit – und die damit verknüpfte Frage: Was war wirklich? Hat Dietl nun mit Eastwood in Rom gepokert oder nicht? Hat er auf diese Weise „eigenes“ Geld verdient oder allein von den anscheinend beachtlichen Einkünften der erfolgreichen Illustriertenjournalistin Wichmann in der nachrömischen Zeit in München? – verdeutlicht ein grundsätzliches Charakteristikum dieser Biografie. Der Journalist Seidl hat, wie es sein Beruf verlangt und seine Danksagung ausweist, eine beachtliche Zahl von Menschen interviewt, die ihm ihre Erinnerungen an Helmut Dietl anvertraut haben. An vorderster Stelle nennt er Tamara Dietl, die Witwe, dazu Senta Berger, Marianne Dennler [Mutter des Dietl-Sohnes David], Dorothea Fischer, Karin Dietl-Wichmann, Jürgen Dohme, Thomas Gottschalk, Ugo Dossi, Giovanni di Lorenzo, Georg Seitz, Patrick Süskind, Bernd Stockinger, Dieter Giesing, Philip Gröning. Wie in einem Spiegelkabinett schenkt uns Seidl überaus facettenreiche Bilder des von ihm Beschriebenen, bei denen man die Frage vergessen sollte, was nun wirklich gewesen sein mag.

Über jede und jeden von uns würden verschiedene Menschen gewiss höchst unterschiedliche Geschichten erzählen, vor allem dann, wenn sie uns zu verschiedenen Phasen unseres Lebens erlebt haben. Wenn sie dann auch noch einander nicht wohlwollen, kann es erst recht sein, dass sie Gegengeschichten erzählen. Wenn Karin Dietl-Wichmann im November 2018 der Zeitung BILD ein Interview zum Thema „War Helmut Dietl ein guter Vater?“ gab, betonte, dass Tamara Dietl es nicht erlaubt hatte, dass sie bei der Beerdigung Dietls dabei gewesen sei („Ich kann auch an seinem Grab trauern!“), kann es nicht verwundern, dass die letzte Witwe die erheiternde Poker-Geschichte einer ihrer Vorgängerinnen platzen lassen möchte.

Auch eine Biografie Münchens

Seidls Buch ist nicht nur eine Biografie des Filmemachers Helmut Dietl. Es ist zugleich eine Teilbiografie der Stadt München. Seidl fängt an mit den Skizzen einer „nicht besonders großen und nicht besonders kosmopolitischen Stadt“ der 1950er Jahre, in deren westlichem Rand der Bub Helmut aufwächst. Er bettet diese Skizzen ein in die „erneute Münchenwerdung Münchens“ nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, das „die heiterste, südlichste, zukunftfreudigste deutsche Stadt“ wurde, die in den frühen 1960er Jahren „die freizügigste Stadt in Deutschland“ wurde, in der die sexuelle Revolution längst stattgefunden hatte – „ohne dass es dafür die APO gebraucht hätte“. In den späten 1960er Jahren war München, so schreibt der Filmkenner Seidl, für Filmmenschen „die richtige, die beste, die einzig mögliche Stadt“. Nach langen Passagen über jene Gruppe von Filmemachern, die als „Neuer Deutscher Film“ firmierte, macht Seidl klar, dass Dietl nicht Mitglied irgendeiner Gruppe sein wollte, auch nicht der 1968er Rebellion, „weil er nämlich seine persönliche, künstlerische und erotische Freiheit für etwas hielt, das man nicht auf Demonstrationen erringt, sondern sich selbst erkämpfen musste.“ Für die frühen 1970er Jahre bezeichnet Seidl München als „die modernste Stadt im ganzen deutschsprachigen Raum, mit allen Vor- und Nachteilen, die so eine Rolle mit sich bringt.“ Und je weiter Seidl die Geschichte Münchens erzählt, desto bitterer wird sein Ton, wenn es um die „mittleren Achtziger“ geht: „Die Stadt war einerseits so beliebt, dass in allen Umfragen ein Drittel aller Deutschen angab, dass sie dort am liebsten wohnen würden. Und die Stadt war so grässlich, so zynisch, so unehrlich, so selbstgefällig und korrupt, dass man als halbwegs anständiger Mensch nur aufbegehren konnte gegen die herrschenden Verhältnisse.“ Bei solchen Sätzen staunt der Soziologe: Kann eine Stadt „unehrlich“ sein? Oder sind es nicht eher Menschen, manche Menschen, die so sein können? Und die es dann doch überall gibt, nicht nur in Deutschland? Auf jeden Fall endet Seidls Buch über Dietl und München mit einer düsteren Prognose: „Manchmal sieht es so aus, als ob München verschwände: als ob diese Stadt, die für Helmut Dietl ein Weltmodell und eine hassgeliebte Heimat war, […] die schöne, heitere, grantige, hinterfotzige, schicke, verlogene und deshalb so begehrenswerte Stadt nicht mehr viel Zukunft hätte.“

In eben dieser Stadt, die nun vom Verschwinden bedroht sei, spielte jene Vorabendserie, die den bis dahin weitgehend unbekannten Helmut Dietl berühmt machen sollte: die Münchner Geschichten, die im Zeitraum November 1974 bis Februar 1975 vom Bayerischen Fernsehen ausgestrahlt wurden. Im sehr langen Kapitel „München und Nichtmünchen“ zeichnet Seidl liebevoll und detailliert die Entstehungsgeschichte dieser Serie nach, stellt die Hauptakteure Günther Maria Halmer und Therese Giese vor, rekapituliert viele der berühmtesten Szenen, zeichnet das Kennen- und Liebenlernen des Jungregisseurs Dietl und der „Sexbombe“ Barbara Valentin – eigentlich Ursula Ledersteger, Dietls zweite Ehefrau in den Jahren 1976 bis 1983 – nach.

Erst in den ersten Passagen des achten Kapitels „Neu, jung und angesagt“, in dem es um zwei für Dietl weichenstellende Begegnungen geht – er lernt den Schauspieler Helmut Fischer und den Autor Patrick Süskind kennen –, erfahren wir, woher Seidl viele der bislang unbekannten Informationen bezieht: „Dietl, so steht es in seinen Notizen…“ Ohne, dass Seidl das näher erläutert, wird klar, dass Tamara Dietl dem Biografen Zugang zu Dietls umfangreichem Nachlass verschafft hat. Schon darum dürfte er den Interpretationen der letzten Witwe mehr Glauben schenken als denen anderer Weggefährten Dietls.

Insgesamt erweist sich der filmkritische Journalist Seidl in den unmittelbar anschließenden Kapiteln als Meister seines Metiers. Neben ausführlichen Rekapitulationen der turbulenten Stationen des Werbefilmers Dietl, der Schilderung der nicht weniger turbulenten Szenen der Ehe von Dietl und Barbara Valentin – der Rezensent wundert sich, warum der Name von Lars Reichardt, dem Sohn der Österreicherin Valentin, in den Danksagungen nicht genannt wird, obwohl er als Informant aufgeführt wird –, der zentralen Rolle der Mutter Dietls, die in der Wohnung des Paars Dietl-Valentin für Ordnung sorgte und die Hemden des Sohnes bügelte, lässt uns der Biograf Seidl unnötigerweise ergänzend wissen, wie es ihm selbst als 18jährigem in diesem München erging.

Angereichert sind diese Passagen durch eine Vielzahl von Äußerungen seiner diversen Interviewpartner. An vielen Stellen fragt sich der Rezensent, wie eine Leserschaft – beispielsweise aus Herdecke – viele der sehr münchnerischen Anspielungen verstehen mag: Kann sie „den seriösen Würmtallebensstil“ der Barbara Valentin in innere Bilder umsetzen? Versteht sie, wenn Seidl den im kalifornischen Hollywood lebenden Dietl als einen „konsequenten und ausdauernden Leberkäsesemmelesser“ charakterisiert? Kann sie überhaupt nachvollziehen, was Seidl sagt, wenn er – in Bezug auf das gesprochene Münchnerisch im Monaco Franze – schreibt: „Und wer genau hinhört, kann auch die Unterschiede zwischen Schwabing und Sendling, Bogenhausen und Giesing erkennen.“

Diejenigen, die sich lebhaft für jedes noch so kleine und banale Detail im Leben dieses von ihnen verehrten Mannes interessieren, werden ihre Freude an den lebhaften, wortspielerischen Plaudereien des Cornelius Seidl haben. Dieser Rezensent jedenfalls, der in München-Pasing aufwuchs, nickt zustimmend, wenn er liest: „Im Grunde ist es völlig logisch, dass der ‚Monaco Franze‘ in Hollywood erfunden wurde. Als Ausdruck eines großen Heimwehs nach München.“

Beschenkt kann sich eine hingebungsvolle Leserschaft fühlen, wenn Seidl ihr eine ganze Fülle von Zitaten aus Dietls Notizen und Aufzeichnungen schenkt. So etwa die Passage, in der Dietl sein ganzes Film- und Frauenleben Revue passieren lässt: „Karin [Dietl-Wichmann] war ‚Münchner Geschichten‘, Barbara [Valentin] ‚Der ganz normale Wahnsinn‘, Marianne [Dennler] war ‚Monaco Franze‘, Denise [Cheyresy, die dritte Ehefrau Dietls] war ‚Kir Royal‘ und Veronica [Ferres] ist ‚Schtonk‘.“ Der Rezensent wundert sich, dass Dietl Denise Cheyresy und Veronica Ferres und deren zentrale Rollen in Rossini nicht nennt. Und er wird nachdenklich, wenn er Dietls Erklärung des Unterschieds zwischen Frauen und Dietl liest: „Frauen wollen nach meiner Erfahrung glücklich sein. Für eine Frau besteht der Sinn des Lebens darin, möglichst oft glücklich zu sein. Für mich natürlich nicht. Das ist für mich gar keine Kategorie, und das traute Beisammensein ist mir fad. Glück ist für mich, wenn mir was glückt. Ein Satz vielleicht oder ein Drehbuch.“

Es ist nicht sinnvoll, in dieser Rezension das ganze Buch zu rekapitulieren. Es sollte klar geworden sein, wer seine Freude an diesem Gemälde des Lebens – der Bio-Grafie – des Filmemachers Helmut Dietl haben wird. Alle, die eine innere Verbundenheit mit der Stadt München empfinden. Und auch darum die Serien und Filme dieses ewigen Münchners nicht nur lieben, sondern als Teil ihres eigenen Selbstverständnisses in sich tragen. Denen ganz besonders sei dieses Buch von Claudius Seidl nachdrücklich ans Herz gelegt.

Es ist zudem ein Buch für Menschen, die Filme kennen und manche davon lieben. Nur solche werden diesen Satz verstehen – und genießen: „,Kir Royal‘, die Geschichte eines Klatschreporters, ist Helmut Dietls ‚Achteinhalb‘, sein ,Le mépris‘, sein ‚Singin‘ in the Rain.“ Solche Leser werden sich über dahingeworfene Bonmots freuen, mit denen Seidl seinem Helmut Dietl einen Satz wie diesen in den Mund legt: „Ich komme von Lubitsch, von Wilder, das war die Herkunftslinie von Helmut Dietl.“ Wer mit Filmen und ihren Machern nicht viel anfangen kann, wird nicht viel verstehen, – oder dauernd googeln müssen.

Das Buch wird langweilig und misogyn

Der Rezensent bekam den Eindruck, dass dem Biografen Seidl ab Kapitel 22 sein davor unterhaltsamer parlandoartiger Schreibstil abhanden gekommen war. Die langen Passagen über die Filme Late Show, Vom Suchen und Finden der Liebe und Zettl lesen sich wie Inhaltsangaben eines Oberstufenschülers und sind garniert mit der ermüdenden Rekapitulation der Scherereien bei der Rollenbesetzung. Wer die Filme nicht kennt, lernt sie dadurch auch nicht wirklich kennen. Und die Herstellungshintergründe dieser Filme dürfte auch nur eine Minderheit interessieren. Warum ist es Seidl dabei so wichtig, gleich zweimal darauf hinzuweisen, dass er in jener Zeit Feuilleton-Chef der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung gewesen war? Zudem häufen sich die Druckfehler, oder soll der „Sender Freise Berlin“ ein kleiner Scherz sein? Oder soll Denyse Cheyresy französischer klingen als Denise?

Zudem störte diesen Rezensenten zunehmend mehr der Ton, in dem Seidl über die Frauen in Dietls Leben schreibt. Es war wohl so, dass Dietl „immer ein Mann war, der die Frauen liebte“, aber „kein Talent für dauerhafte Liebesbeziehungen hatte“. Aber was Seidl zu einigen dieser Frauen schreibt, kann man nicht anders als herabsetzend lesen. Im Kontrast zur „erfolgreichen Journalistin bei ‚Spiegel-TV‘ und Dokumentarfilmerin“ Tamara Dietl – „nicht unbedingt das Mädchen, das sich erst von Helmut Dietl erklären lassen muss, wo es langgeht im Leben“ – kommen die Vorgängerinnen nicht sonderlich gut weg. Elfi Pertramer, Marianne Dennler, Karin Dietl-Wichmann, Barbara Valentin, Denise Cheyresy, Veronika Ferres: Waren das wirklich Frauen, die sich erst von dem weisen Dietl erklären lassen mussten, wo es langgeht im Leben? Wie diejenigen, die noch am Leben sind, diese Passagen wohl lesen? Es wäre ein interessantes Projekt, diese Frauen selbst zu Wort kommen zu lassen. Auch so würde zwar nicht „die“ Biografie entstehen, aber man könnte eine solche Sammlung von Erinnerungen ergänzend neben Seidls Buch stellen. Seidl fand wohl in den Notizen, die ihm Tamara Dietl zur Verfügung stellte, eine Skizze „Die Frauen meines Lebens“: das wäre vielleicht ein guter Film geworden. Bei der Trauerfeier auf dem Münchner Nordfriedhof waren jedenfalls (fast) alle dabei.

Am schlimmsten geht Seidl mit Veronika Ferres um: In seiner Rezension des Seidl-Buches in der Süddeutschen Zeitung hat der Film- und Fernsehproduzent Günter Rohrbach, der den Dietl-Film Schtonk! von 1992 als Produzent betreute, ein nicht ganz unwichtiges Detail in Seidels Buch korrigiert. Seidl stellt es so dar, als ob Rohrbach strikt gegen die Besetzung einer Nebenrolle in diesem Film durch die damals noch weitgehend unbekannte Geliebte Dietls, Veronika Ferres, gewesen sei und gesagt haben soll: „Sie können ruhig mit ihr schlafen, aber spielen soll sie nicht, auf keinen Fall.“ Seidl zufolge hätte es der erheblichen Durchsetzungskraft Dietls bedurft, ihr die Rolle der üppigen und nackten Muse des Fälschers der Hitler-Tagebücher Knobel zu geben. Trocken widerspricht Rohrbach: „die Tür stand längst offen“. Wollte Dietl sich Federn an den Hut stecken, um seiner damaligen Geliebten zu imponieren? Oder verleiht Seidl sie ihm posthum? „Aus Veronika Ferres ist, wie jeder Fernsehzuschauer weiß, ein Star geworden, eine Frau, die seit dem Ende der Neunziger sensationelle Einschaltquoten garantiert hat.“ Sind Einschaltquoten für einen Filmkritiker hinreichender Beweis für schauspielerische Qualität? Wenn man an die Rolle der soeben verstorbenen Christiane Hörbiger als Freya von Hepp in diesem Film denkt, darf man sich schon ein wenig wundern, wie hingerissen Seidl immer noch zu sein scheint, wenn er „ein rundes, fast noch kindliches Gesicht, bisschen Babyspeck, große Brüste“ bei Veronika Ferres preist.

Jedenfalls kommt Tamara Dietl bei Seidl am besten davon: Dietls vierte Hochzeit mit ihr am 26. April 2002 sei „die schönste“ gewesen, wie Seidl aus den Notizen zitiert, die ihm die Witwe zugänglich gemacht hat. Die wichtigsten Informationen über die Stationen der Liebesbeziehung zwischen dem Münchner Helmut Dietl und der Hamburgerin Tamara Duve, die Chronik seines Sterbens und ihres Umgangs mit dem Verlust ihres Mannes und des Vaters der gemeinsamen Tochter Serafina kennen wir bereits aus Tamara Dietls Buch, das noch im Todesjahr erschien (Tamara Dietl: Die Kraft liegt in mir. Wie wir Krisen sinnvoll nutzen können. München: Random House 2015). Es ist gut nachvollziehbar, dass Seidl sich vielen der Lesarten dieser großartigen Frau, die späte Heilung für manche der Verwundungen dieses empfindsamen Mannes bewirkte, anzuschließen scheint.

Dennoch erscheint es dem Rezensenten als geschmacklos, dass die „Vorgängerinnen“ dieser letzten Ehefrau und andere Frauen, die für Dietl wichtig geworden waren, so schlecht wegkommen. Als den Gipfel der diversen misogynen Kränkungen empfand ich die Charakterisierung der Schauspielerin Alexandra Maria Lara „deren kreuzbraver, fast schon biederer Habitus ihm [Dietl] womöglich eine Herausforderung war“. Hatte der Filmkritiker Seidl vergessen, dass das enorme Talent dieser Schauspielerin sogar einem Francis Ford Coppola aufgefallen war und ihr eine Rolle in seinem Film Youth without Youth gab? Und das, bevor Dietl sie in seinem Film Vom Suchen und Finden der Liebe besetzte!

Es bleibt ein zwiespältiges Gesamturteil: Dankbarkeit für manche Ergänzungen unseres Wissens über diesen Mann, der ein „universelles Münchnertum“ verkörperte, Unzufriedenheit mit zu viel Seidl, der sich mit diesem Buch an den „großen Filmregisseur“ Dietl zu sehr ranschmeißt. So lässt er uns beispielsweise wissen, dass dieser ihm postwendend auf seine anerkennende SMS nach der Preisverleihung für sein Lebenswerk antwortete. Muss ich das als Leser wissen, wenn ich nicht mal erfahre, was Seidl geschrieben hat? Vielleicht hat Dietl ja sogar nochmal das geantwortet, was er Jahre zuvor, bei einer Geburtstagsfeier in Berlin, gegenüber Seidl geäußert hat? Seidl sagte damals zu Dietl: „Ist es das? Kir Royal in Berlin. Das ist es doch!“ Und Dietl antwortete damals: „Ein Scheißdreck ist es!“ Und ließ den Filmkritiker verstört nach Hause in die Nacht gehen.

Titelbild

Claudius Seidl: Helmut Dietl – Der Mann im weißen Anzug. Die Biografie.
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2022.
352 Seiten , 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783462050066

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