Schrei nach Liebe

Salih Jamals berührender Roman „Vor der Nacht“ spürt den Traumata von Waisenkindern nach

Von Miriam SeidlerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Miriam Seidler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Heim ist ein Haus, das du verwundet betrittst, aber lebend verlässt, obwohl du in der Zeit mehrmals gestorben bist. Achte darauf, dass es dir nicht zu oft passiert, sonst kommst du vielleicht doch nicht lebend hier raus.

Was sich wie eine Lebensweisheit anhört, ist der desillusionierte Rat, den der 14-jährige Jonas Kovacs an seinem ersten Tag im Kinderheim von seinem neuen Zimmernachbar Frei bekommt. Seine Definitionen und Ratschläge werden für den jüngeren Jonas zu einer wichtigen Hilfe in der fremden Umgebung, in der er sich zurechtfinden muss. Dabei hat Jonas eigentlich schon mit genug Problemen zu kämpfen: Nach dem Tod seiner Mutter und der Verhaftung seines Vaters, der in seiner Verzweiflung aufgrund der finanziellen Schieflage der Familie einige Jahre zuvor eine Bank überfallen hatte, verliert er nicht nur sein Zuhause, sondern mit seinem Vater auch die wichtigste Bezugsperson. Dass sich mit Jonas Einzug ins Heim nicht nur sein Leben, sondern auch seine Identität ändert, macht der Autor Salih Jamal durch den neuen Namen deutlich, den ihm die anderen Kinder geben. Aus Jonas wird Jimmy – frei nach der Verfilmung von Johannes Mario Simmels Roman „Und Jimmy ging zum Regenbogen“, den die Jugendlichen vermutlich nie gesehen haben.

Die Kinder werden als eingeschworene Gemeinschaft beschrieben: Neben Frei gehören dazu Sinan, Beria, Pappel und Lilly. Jeder und jede hat mit ihrer ganz eigenen Geschichte vor der Zeit im Kinderheim zu kämpfen: Freis Vater sitzt ebenfalls im Gefängnis, da er seine Frau erstochen hat, als er erfuhr, dass sie ihn verlassen will. Dem Jugendlichen fällt es schwer, seine Gefühle zu kontrollieren, weshalb er immer wieder in heftige Schlägereien verstrickt ist. Den jüngeren Kindern ist er aber ein treuer Beschützer. Die Geschwister Sinan und Beria, die bei einem ausländerfeindlichen Brandanschlag ihre Eltern verloren haben, geben sich gegenseitig Halt. Ilan Nussbaum hat eine herausgehobene Position. Der von allen nur Pappel genannte Jugendliche hat zwar noch eine Mutter, aber nachdem sein Vater an einem Herzinfarkt gestorben ist, haben sie und ihr neuer Freund den Sohn ins Kinderheim gegeben. Obwohl Pappel stottert, strotzt er vor Selbstbewusstsein, weshalb sich um seine Gestalt viele Geschichten drehen, die von den Kindern und Jugendlichen erzählt werden. Einige Jahre später stößt die kleine Lilly zur Gruppe, die ihre Eltern bei einem Autounfall verloren hat, der als kollektiver Suizid erzählt wird: Ihre Mutter und ihr Stiefvater haben sich immer wieder heftig gestritten. Während einer Autofahrt kam es zum Eklat, weshalb der Vater den Wagen von der Fahrbahn lenkt. Wie durch ein Wunder überlebt Lilly, ist aber schwer traumatisiert.

Die besondere Beziehung, die die Kinder und Jugendlichen haben, wird anhand eines abendlichen Rituals verdeutlicht. Wenn alle im Bett liegen sollen, treffen sie sich im Zimmer von Frei und Jimmy und teilen einen Apfel. Dieses Apfelritual wird auch später in Notsituationen zu einem Anker für die Freunde.

Der einfühlsam erzählte Roman thematisiert aber nicht nur die Verletzungen der Kinder und Jugendlichen, sondern auch die Frage, welche Bewältigungsstrategien sie entwickeln, um mit ihren Traumata umzugehen. Die Zeit im Kinderheim umfasst daher nur die ersten Kapitel der Erzählung, die dann den weiteren Lebensweg der Figuren aus der Sicht von Jimmy erzählt.

Im Kinderheim sind es nicht nur die Geister ihrer Vergangenheit, die ihren Alltag prägen, sondern vor allem die Lieblosigkeit der Leiterin Carin Vora, die von allen nur „die Wölfin“ genannt wird, und die ihrer ebenso herzlosen wie herrschsüchtigen Tochter Jessica. Jessica nutzt die Heimkinder gnadenlos aus. Die Mädchen müssen sich um ihr Pferd kümmern, während sie die heranwachsenden Jungs durch ihre Schönheit zu betören versucht. Während Jimmy auch hier dem Rat von Frei folgt und nicht auf sie hereinfällt, gelingt es Sinan nicht, sich den sexuellen Reizen der Jugendlichen zu entziehen. Zwar nimmt er sich etwas zurück als er dabei erwischt wird, wie er in Jessicas Auftrag teure Unterwäsche stielt, aber dennoch erliegt er immer wieder ihren Verführungsversuchen und dem damit einhergehenden Liebesversprechen des rücksichtslosen Mädchens:

Ich hasste Jessica dafür, wie sie, ohne an die Konsequenzen zu denken, mit den Gefühlen anderer spielte, und wünschte ihr, dass sie auch einmal der Kummer überwältigen würde. Dabei stellte ich mir vor, dass sie bläulich und blass wie Ophelia in einem Seerosenteich trieb.

Auch wenn ihm die Gemeinschaft mit den anderen ein Gefühl von Geborgenheit vermittelt, ist es – wie auch das Zitat zeigt – vor allem der Rückzug in die Literatur und in das eigene Schreiben, das Jimmy eine Möglichkeit bietet, vor den Nöten des Alltags zu fliehen. Nach dem Tod seines Vaters sind es keine Briefe mehr, die er schreibt, sondern er arbeitet an Kurzgeschichten. Dazu zieht er sich am späten Abend mit seinem blauen Heft in eine Dachkammer des Heims zurück, damit er Frei, der inzwischen eine Ausbildung zum Steinmetz begonnen hat, nicht stört.

Doch der Alltag im Heim wird eines Tages jäh gestört. Nachmittags ziehen Frei, Sinan und Jimmy durch den nahegelegenen Autobahnwald bis zum Gestüt, auf dem Jessicas Pferd steht. Sie beobachten diese in einer verfänglichen Situation mit dem wesentlich älteren Pferdeknecht. Am nächsten Tag sind Frei, Sinan und der südamerikanische Hausmeister ebenso verschwunden, wie der Pferdeknecht. Für Sinans Schwester Berian bricht ihre Welt zusammen, da sie noch nie länger von ihrem Bruder getrennt war. Die Einschränkungen für die Kinder und Jugendlichen werden erhöht, da die Leiterin für das Verschwinden ihrer Schutzbefohlenen mitverantwortlich gemacht wird.

Die Vorkommnisse an diesem Tag werden erst allmählich gegen Ende des Romans aufgeklärt. Bis dahin werden die verschiedenen Lebenswege aus der Sicht von Jimmy erzählt, dem es immer wieder möglich ist, an die frühere Vertrautheit mit den Freundinnen und Freunden anzuknüpfen und dem es doch auch schwerfällt, seine eigenen Träume und Wünsche zu erkennen.

Doch zuerst scheint für Jimmy alles recht gut zu laufen. Er hat bereits mit seinem ersten Roman Erfolg, weshalb Jamals Roman nicht nur ein Roman über verlorene Seelen ist, sondern zugleich ein Metaroman, der die Bedingungen und Möglichkeiten des Schreibens immer wieder reflektiert:

Man kann sich in einem geheimen Zimmer oder hinter Papier verstecken, doch die Realität wird immer in uns dringen. Der Stift, mit dem du schreibst, ist wie der rostige Löffel, mit dem du isst und in der Nacht an deinen Gefängnismauern kratzt.

Diese frühe Überlegung in der Dachkammer des Kinderheimes wird später durch andere Selbstbeobachtungen ergänzt. Erst nach seiner ersten unglücklichen Liebesbeziehung kann Jimmy die Tiefen der menschlichen Seele so weit durchdringen, dass seine literarischen Texte seinen eigenen Ansprüchen genügen:

In dieser Zeit hatte ich mein erstes Buch, einen Briefroman, geschrieben und veröffentlicht, der vieles in meinem Leben verändern sollte. Es kam sogar eine deutsche Filmproduktion fürs Fernsehen. Es folgen noch ein paar Auflagen, Lizenzen, Auftritte, Lesungen, Interviews und mein erstes richtiges Geld fürs Schreiben, und alles nur wegen einer unglücklichen ersten Liebe zu einer Tänzerin. Die Idee zu dem Roman, die ich aus den Kurzgeschichten aus meinem blauen Heft entwickelte, hatte ich verworfen. Ich war bis dahin blind gewesen. Um zu sehen, muss man die Augen mit Dunkelheit auswaschen. Und genau das passierte mir. Mit einem Mal, ohne es zu ahnen, hatte ich die fehlende Zutat für meinen Roman. Liebe. Mit all ihrer schauerlichen Schönheit.

Die einzigartige Bildlichkeit, mit der Salih Jamal die Handlungen und Gedanken seiner Figur beschreibt, heben die Ereignisse immer zugleich auf eine metaphorische Ebene. Die schmerzliche Schönheit des Lebens wird so Thema des Romans. Doch es ist nicht nur die „schauerliche Schönheit“ der Sprache, die beim Lesen fesselt, sondern auch die Geschichte der von Sehnsucht getriebenen Figuren. So ist es kaum möglich, den Roman aus der Hand zu legen – auch wenn Jimmy immer wieder mit den negativen Seiten des Lebens konfrontiert wird. Dabei wählt Salih Jamal für seine Protagonisten recht klischeehafte Lebenswege, die doch nur darauf verweisen, wie schnell Menschen den vermeintlichen Verlockungen – Alkohol, Drogen, Sex oder Gewalt – erliegen, wenn sie kein Urvertrauen haben.

Während Jimmy an seinem ersten Roman schreibt, arbeitet er am Theater. Auch diese Tätigkeit nutzt Salih Jamal um seinem Protagonist Überlegungen zum Schreiben in den Mund zu legen:

Wer einmal bei Proust, Miller, Genet oder Dostojewski gelesen hat, wie sie mit Worten dem Leben den Spiegel ins Gesicht schlugen, oder eine ergreifende Bühnenadaption miterleben durfte und selbst ernsthaft versuchte zu schreiben, der fühlte sich danach meist sehr, sehr klein.

Salih Jamal gelingt es mit Vor der Nacht mit unglaublicher Wucht, seinen Leserinnen und Lesern die Worte um die Ohren zu schlagen. Auch wenn der Prozess schmerzhaft ist, Jamal ist ein Autor, von dem man unbedingt sehr bald mehr lesen möchte.

Titelbild

Salih Jamal: Vor der Nacht. Roman.
leykam Verlag, Graz 2024.
320 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783701183524

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