Zurück in die Zukunft

Matthias Senkel will das Poem „Dunkle Zahlen“ des „eisernen Golems“ GLM-3 ins Deutsche übertragen haben und ist damit auf der Shortlist des Leipziger Buchpreises gelandet

Von Jan SüselbeckRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jan Süselbeck

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Vielleicht ist unsere Galaxie nur ein winziger flimmernder Nebel in einem Einweckglas. Es steht in einem blendend weiß gekachelten Kubus auf einem Labortisch. Mit bloßem Auge betrachtet, sieht der Behälter leer aus. Mittels einer „optoplasmatischen Lupe“, die darüber angebracht ist, kann man sich jedoch ins Innere zoomen. Dann sieht man „unzählige glitzernde Staubkörnchen und glimmernde Cluster, deren Zwischenräume von milchig floureszierenden Schleiern sowie von dunklen Fäden durchsetzt“ sind. Dreht man weiter am Binokular, taucht plötzlich unser Sonnensystem auf, und schließlich ein blau-weiß-brauner Planet, die Erde. Doch wo befinden wir uns eigentlich? Neben dem weißen Kubus erstreckt sich eine kilometerlange Lagerhalle. Hier reiht sich „Hochregal an Hochregal, und jedes einzelne ist vom unteren bis zum oberen Fach mit leicht getrübten, leer anmutenden Einweckgläsern bestückt“.

Klingt fantastisch? Gut, möglicherweise ist all dies auch nur Resultat eines Moskauer Drogentrips im Perestroika-Jahr 1985. Das multidimensionale Szenario wäre demnach Teil eines Alptraums von Mireya Fuentes, Fachübersetzerin der kubanischen Auswahl bei der damaligen, allerdings fiktiven Internationalen Spartakiade der jungen Programmierer. Mireya wiederum ist die Protagonistin eines russischen „Poems“ über ihr Spionage-Abenteuer, das von einer „Golemartigen Literaturmaschine“ (GLM-3) errechnet worden ist, „Deutsch von Matthias Senkel“.

Soweit zur vielfach verschachtelten Herausgeberfiktion des Romans „Dunkle Zahlen“, der 2018 für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert worden ist. Ein weiterer Etappensieg für den Klarglas-Witzbold Senkel, der seit seinem verschmitzten Debüt „Frühe Vögel“ fünf Jahre an diesem zweiten Buch gearbeitet hat. Es handelt sich um polyhistorische Fortsetzungsfantastik mit Ansage: Der Erstling, der u.a. mit dem Rauriser Literaturpreis ausgezeichnet wurde, ließ in seiner komplexen, mosaikartigen Erzählstruktur bereits erkennen, dass Senkel damit begonnen hatte, an einer ausufernden literarischen Technik- und Modernegeschichte zu arbeiten, die durch sein kommendes Werk weitermäandern würde.

Gesagt, getan. „Dunkle Zahlen“ bietet eine auf den ersten Blick verblüffend authentisch wirkende und gut recherchierte Zeitreise in die Geschichte des Kalten Krieges, betrachtet aus der Perspektive junger zeitgenössischer Architekten und  Nachwuchsinformatiker, die sich in aberwitzigen Vor- und Rückblenden um die Heldin Mireya gruppieren.

Drohen hier antikommunistische Klischees? Gewiss: In der Sowjetunion dieses Romans geht vieles schief, und zunächst einmal sieht alles aus wie in dem Stereotyp einer unweigerlich zum Untergang verurteilten Diktatur des Proletariats: Alle überwachen sich gegenseitig, und die genaue Identität vieler dunkler Gestalten in der doppelten Buchführung dieses literarischen Zahlenspiels bleibt ungewiss. Mireyas kubanische Spartakiden-Kollegen werden bereits vor Wettbewerbsbeginn aus dem Verkehr gezogen und an geheimem Ort in eine angebliche Quarantäne verbracht. Wir folgen der unfreiwilligen Agentin Fuentes, die sich auf die Suche nach ihren Landsleuten macht, durch eine achterbahnartige Satire auf den Bond-Film „Liebesgrüße aus Moskau“ (1963), am Vorabend von Tschernobyl (1986) und Mathias Rusts Kreml-Flug (1987).

Der akrobatische Zitatismus, der bereits „Frühe Vögel“ kennzeichnete, geht hier erneut auf olympischen Rekord-Kurs: Senkel ruft die beklemmende Bilderwelt des notorischen Oscar-Melodrams „Das Leben der Anderen“ im Kopf des Lesers ab, um die antikommunistische Schnulze in einem satirischen Abhörroman zu subvertieren, dessen pornografisches Lachkabinett entfernt an die irrsinnigen Vorgänge in Arno Schmidts „Gelehrtenrepublik“ (1957) denken lässt. Zwar werden bei Senkel keine Gehirne verpflanzt, aber dafür sitzt in einem Kapitel ein müder Ulrich-Mühe-Klon auf seinem Abhörposten im Spartakiden-Hotel Kosmos und stöpselt sich auf seiner erfolglosen Suche nach muntermachenden Sexszenen durch die burlesken akustischen Auftritte in den überwachten Zimmern. Doch dies ist nur eine der vielen voyeuristischen Ideen, die den Text zu einem Gutzkow’schen „Roman des Nebeneinander“ 2.0 machen.

Lauter kreative Nachwuchstalente brüten in diesem Text über der Konstruktion von Rechenmaschinen, die einerseits vorsintflutlich wirken, denen der USA aber andererseits zumindest potenziell oft schon weit voraus sind. Hieraus entwickelt der Autor weitere implizite Satire-Ebenen: Die futuristischen Programmier-, Propaganda-, Überwachungs- und Zensur-Szenarien, die in Senkels Roman von Sowjet-Funktionären durchgespielt werden, sind im Social-Media- und Drohnen-Zeitalter längst Realität geworden. KGB-Generalmajor Nogow etwa träumt von einem Datenverarbeitungssystem, mit dem sämtliche Gespräche und Schriftstücke bereits während ihrer Aufzeichung analysiert werden könnten: „Erst dann wird es möglich, jeden Bürger lebensumspannend zu begleiten, seine Taten und Äußerungen automatisch auszuwerten, um jederzeit ein Gesamtbild seiner Gesinnung erstellen zu können, Fehlverhalten bereits im Entstehen zu erkennen und unverzüglich zu korrigieren, damit Verstöße gegen die öffentliche Ordnung überhaupt nicht erst zustande kommen.“

Das klingt irgendwie bekannt. Wie wir mittlerweile wissen, endete der Kalte Krieg nicht mit dem Mauerfall. Vielmehr haben russische Hacker anhand von Methoden, die in dem Poem „Dunkle Zahlen“ diskutiert werden, sogar die letzten Wahlen in den USA beeinflusst und damit womöglich einen Präsidenten mit an die Macht gebracht, dessen neuerlicher Rüstungswahn uns in eine dystopische Zukunft zu katapultieren droht, die nicht einmal in Mireya Fuentes’ Träumen vorkommt.

Kurz: Senkels Text erinnert uns letztlich daran, dass die Überwachungs- und Propaganda-Realität im Jahr 2018 noch viel verrückter aussieht als in dem 1985 in der westlichen Welt in die Kinos gekommenen Blockbuster „Zurück in die Zukunft“, in dem der Zeitreisende Marty McFly (Michael J. Fox) im Jahr 1955 Schwierigkeiten damit hat, einem Wissenschaftler zu erklären, dass der drittklassige Western-Darsteller Ronald Reagan drei Jahrzehnte später US-Präsident sein werde.

Implizit handelt dieser vertrackte Meta-Roman aber auch von literaturwissenschaftlichen Methoden, die derzeit die Digital Humanities umtreiben und dort frappierenderweise bislang kaum weiter entwickelt werden konnten als in Senkels stalinistischer Mathematik-Komödie, deren Kernszenen zwischen den 1940er und den 1980er Jahren angesiedelt sind und schließlich bis ins Jahr 2023 reichen. Welch böse Ironie: Demnach würde die aktuelle Germanistik begeistert mit Ideen arbeiten, die der KGB in der Spätphase der Sowjetunion als Keimzelle einer utopischen „automatisierten Antisubversionseinheit“ entwickelte.

Doch damit nicht genug der Senkel’schen Verwirrspiele. Der gesamte Roman scheint auf das 1836 begonnene Automatengedicht „Die Welt“ eines genialischen Zeitgenossen Lermontovs namens Gawriil Jefimowitsch Teterewkin zurückzugehen, der 1841 in einem seiner sinnlosen Duelle bei Smolensk ums Leben kam. Viele der ausgelegten Spuren im Buch führen jedoch ins Nirgendwo: Senkels halsbrecherisch strukturierter Roman beinhaltet etwa eine literaturgeschichtliche Abhandlung über Teterewkin, die mitten im Text als „Nachwort“ auftaucht und mit Fußnoten und bibliographischen Angaben den Eindruck erweckt, es handele sich um einen pseudo-akademischen Exkurs über einen dennoch realen russischen Autor. Unter der Rubrik „Enzyklopädisches“ ist sogar ein Screenshot eines Wikipedia-Eintrages zu Teterewkin abgedruckt. Googelt man allerdings selbst danach, so findet man kein Äquivalent im Netz, sondern nur eine Stelle in Senkels Roman „Frühe Vögel“, in dem Teterewkin bereits erstmals auftauchte. Dieser Phantom-Dichter soll nun also ein vergessenes Werk geschrieben haben, dessen poetologisches Konzept als Vorstufe des uns vorliegenden totalen Gedichts aus dem Elektronenhirn eines „eisernen Erzählgolems“ erscheint – eben jener verschollenen Literaturmaschine GLM-3, die den nun von Senkel angeblich übersetzten Roman „Dunkle Zahlen“ ursprünglich verfasst haben soll.

Noch Fragen? Mit diesem knapp 500-seitigen Avantgarde-Monstrum von einem Text wird Senkel sicher viele Leser überfordern. Und tatsächlich fragt man sich bei der Lektüre oft, warum man eine Art sowjetisches Handbuch für Elektrotechniker lesen und wo der abstruse Multi-Plot noch hinführen soll. Zudem hat noch immer kein Lektor dem 1977 geborenen Autor verraten, dass er dringend damit aufhören muss, in jedem zweiten Satz das Unwort „nichtsdestotrotz“ zu verwenden. Gewiss, das sind Details. Beziehungsweise im ersteren Fall Kritikpunkte, die klassische moderne Literatur nicht zu scheren braucht. Ist es doch gerade begrüßenswert, dass es in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur noch so sperrige – und zugleich mit einem abgründigen Humor gesegnete – Autoren wie Matthias Senkel gibt.

Die erzählerische Experimentier- und Spielfreude Matthias Senkels ist und bleibt bemerkenswert. Der Literaturbetrieb kann sich warm anziehen: Fast sieht es danach aus, als sei das alles erst der Anfang gewesen.

Anm. der Red.: Eine gekürzte Version dieser Rezension erschien bereits in der taz vom 9. März 2018.

Titelbild

Matthias Senkel: Dunkle Zahlen.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2018.
484 Seiten, 24,00 EUR.
ISBN-13: 9783957575395

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