Von Tieren, Menschen und Wundern

Shaun Tan „Reise ins Innere der Stadt“ entzieht sich jeglicher Kategorisierung

Von Georg PatzerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Georg Patzer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Einst waren wir Fremde,
Beine falsch rum gekrümmt,
raue Stimmen fallen dem Wind zu,
jeder Zahn, jede Klaue, jeder Stock eine Waffe,
jeder Drang ein struppiges Rätsel.
Aber wir wollten immer mehr als das.
Tief im Herzen wussten wir, es gibt mehr.

Darauf folgen vierzehn doppelseitige Gemälde, von wenig Text unterbrochen. Zu sehen sind ein Mensch und ein Hund. Sie beäugen sich erst vorsichtig aus der Ferne, dann gehen sie gemeinsam davon.

Wenn ich rannte, ranntest du,
wenn du riefst, antwortete ich.
Gemeinsam verjagten wir Einsamkeit und Furcht
Und sahen alles geschehen, was je geschehen sollte,
alles Schöne, jeden Schrecken, jeden Aufstieg, jeden Fall.
Und als du starbst,
brachte ich dich zum Fluss.
Und als ich starb,
wartetest du am Ufer auf mich.
Und so verging zwischen uns die Zeit.

Ein breiter Streifen trennt jetzt die beiden, und sie schauen voneinander weg: Mal ist es ein bläulich metallen schimmerndes Band, mal ist es rötlichrostig. Mal ist es ein feuerroter Wald, dann scheint es eine hellbraun gerakelte Wiesenlandschaft zu sein mit nur undeutlich erkennbaren Quadern. Ein eisigweißblauer Schneestreifen, eine blütenbunte Wiese, ein rotzigliger Aquädukt, eine glimmende Kriegsszenerie. Der Mensch schaut nach hinten ins Nichts, meist zusammengekrümmt und verzweifelt, der Hund sitzt am vorderen Rand, wartend. Es sind herzzerreißende Szenen, die von Freundschaft erzählen, von Trennung und Tod. Bis ein neuer Satz kommt: „Und dann waren wir irgendwie wieder zusammen. So ist es immer gewesen.“

Im nächsten Bild schaut der Hund nach hinten zum Menschen, und der Mensch auf der anderen Seite – diesmal ist es eine Frau – schaut zu ihm.

Aber jetzt ist alles anders.
Der Fluss fließt falsch,
die Ebenen sind fort,
der Himmel drückt herab wie tausend Decken.
Es ist, als liefe die Zeit immer nur vor uns davon.
Wohin werden wir gehen? Was werden wir tun?

Das nächste Blatt zeigt wie die Frau den Hund auf einem Zebrastreifen umarmt.

Du ziehst mich an der Hand,
drückst mir die Schnauze in die Kniekehle
und rufst mir zu, wie du es immer tust:
Diese Welt gehört uns!
Und so gehen wir wieder,
einfach so.

Und so gehen sie davon, nach rechts aus dem Bild, der Hund voran, die Frau mit schnellen Schritten hinter ihm her. Sie muss sich sputen, denn der Hund rast – neugierig auf das Leben, auf die Welt.

Shaun Tan, der 2011 den Oscar für einen Animationsfilm und den Astrid-Lindgren-Gedächtnispreis bekommen hat – beides die höchsten Auszeichnungen, die es in diesen Kategorien gibt –, hat ein neues, geheimnisvolles Buch geschrieben. Geheimnisvoll sind sie alle. In Reise ins Innere der Stadt geht es vor allem um Tiere. Es beginnt mit den Krokodilen, die im 87. Stock leben. „Und zwar sehr angenehm.“ Filtriertes Wasser, Schlamm, Sumpfgras, Klimakontrolle, zweimal pro Woche Frischfleisch, „große lange Wände durchgehendes Glas, an dem entlang sie den ganzen Tag der Sonne folgen können, die langsam von Ost nach West kriecht, ein derart luxuriöses Reptiliensonnen wäre im Erdgeschoss nie möglich.“ Über ihnen arbeiten Menschen, die nackt durch einen dunklen Wald rennen, wenn sie einschlafen. Sie wachen mit einem unbeschreiblichen Wohlgefühl wieder auf, „klar und quicklebendig.“

In einer anderen Geschichte kommen die Schmetterlinge. Massen. Millionen. Trillionen. Kamen, „stiegen von schwindelnden Höhen herab gleich Frühlingsblüten in jeder denkbaren Farbe und Musterung.“ Und „das Geschwätz in unseren Köpfen verstummte, der endlose Lochstreifen des Off-Kommentars, der alles ständig nach Ursache und Wirkung, Zeichen und Symbol, irgendeinem nützlichen Sinn, Wert oder Omen auseinandernimmt, das alles hörte einfach auf, als die Schmetterlinge zu uns kamen.“

So erzählt Shaun Tan von Tieren, die in das Leben der Menschen einbrechen, eindringen oder sich sanft auf ihnen niederlassen, sie berühren. Das ist nicht immer gemütlich oder angenehm: Bei der Geschichte mit der Schneeeule liegt der Erzähler im Krankenhaus:

Weiß auf weiß, weiche Federn können
Die schwarzen Nadelspitzen nicht verbergen.
Ich höre dem zu, was sie mir immer sagen,
und versuche, nicht hinzusehen,
noch als ich den nackten Arm ausstrecke.

Da sind die doppelseitigen Bilder weiß, schneeweiß mit weißen Federn, ein sichtversperrendes Schneetreiben, aus dem sich plötzlich zwei riesige gelbe Augen öffnen, die den Betrachter anstarren. Ganz nah ist die Eule, sitzt auf der Brust des Patienten, mit ihren riesigen Augen, ihren Schwingen und Krallen und ihrem ganzen Gewicht:

Atme, atme weiter,
als sie sich mir auf die Brust setzt,
Krallen auf dem Schlüsselbein,
und sie sagen: Sie könnten einen Druck spüren.
Und so kommt es.

Tan erzählt von Pferden, die immer neben einem herlaufen, die aber nur von kleinen Kindern aus dem Auto oder dem Zug heraus gesehen werden können. Dabei sieht man sie auf einem der Gemäldebilder Shaun Tans, schwarz gegen den Nachthimmel, auf einer halbfertigen Brücke stehen und über das Lichtermeer der Stadt schauen. Tan erzählt vom Katzenbegräbnis, vom Schwein, das hinten in der Wohnung wohnt, von Fröschen, Fischen und Schafen, einem genialen Kind und einem Nilpferd. Er zeigt in seinen Bildern den Adler, der mitten im Flugplatzwartesaal sitzt, eine Schlange in den Klauen hat und zur Seite, zum Betrachter schaut. Zeigt einen sanft blickenden Tiger, der aus einem Tunnel schreitet und gemütlich zum Schattenriss einer Tänzerin hochschaut.

Er erzählt von einer Welt, die verzaubert ist, nicht durchschaubar, voller Geheimnisse, die nicht aufzuklären sind. In Tans Geschichten gibt es keine Symbole, auch wenn man das bei der Krankenhauseule vielleicht annehmen möchte: Es ist vor allem ein in Wörter gefasster Schmerz, ein Erleben, das in eine Geschichte gefasst ist. Wie es in anderen Geschichten eine Buntheit ist, ein Staunen über die Welt. Oder eine Umkehrung wie in der Geschichte mit den Bären, die sich Rechtsanwälte nehmen und die Menschen verklagen. Immer wieder verwandelt sich die Welt, wird wilder, sieht anders aus – wie durch Tieraugen gesehen. Oder mit Menschenaugen, die sich den Tieren annähern.

Auch Tans Sprache spielt mit diesem Geheimnisvollen, verwandelt in einem Satz die Welt in etwas völlig anderes. Gibt dem Selbstverständlichen eine bizarre, abstruse Wendung, beschreibt die Reise auf dem Yak, als wäre das die Normalität, die von einer anderen Normalität abgelöst wird oder abgelöst werden könnte, bis auch die sich verwandelt oder verwandeln könnte.

Mit einem sachten Schritt zur Seite drücken uns diese großen wolligen Yakflanken voran, als bliesen sie ein Papierboot über einen Teich, und wenn wir gehen, treiben wir, einfach so, wie Papierboote über rissige Gehwege, müllübersäte Gassen und undichte Treppenhäuser, hin zu jedem einzelnen hell gestrichenen Türrahmen, eingesogen von leuchten gelben Blüten, Küchendampf, dem Lachen und Weinen von Kindern und dem Geschepper von Spielzeug, den langen Leinen mit weißer knittriger Wäsche, dem Läuten von Glocken und dem tiefen, tiefen wolligen Geruch von Zuhause. Nein, denke ich, als ich die Schuhe ausziehe und hineingehe, ein Yak ist doch nicht das Schönste auf der Welt.

Was für ein Buch das ist, kann ich nicht sagen. Ein Bilderbuch, eine Sammlung von illustrierten Erzählungen, ein Künstlerbuch, ein Kinderbuch? Kategoriebestimmungen gehen hier mal wieder völlig ins Leere. Es ist halt ein Shaun-Tan-Buch, sanft, gefühlvoll, hochliterarisch und bis zum Schluss bewegend: „Hai, Bär, Krokodil, Eule, Schwein, Lungenfisch, Mondfisch, Papagei, Schmetterling, Biene, Flusspferd, Tiger, Hund, Schnecke, Katze, Schaf, Pferd, Yak, Orca, Nashorn, Fuchs… immerhin haben wir ihnen unsere schönsten Wörter gegeben.“

Titelbild

Shaun Tan: Reise ins Innere der Stadt.
Übersetzt aus dem Englischen von Eike Schönfeld.
Aladin Verlag GmbH, Hamburg 2018.
288 Seiten, 28,00 EUR.
ISBN-13: 9783848921188

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