SIEGFRIED or The Gentle Art of Making Enemies – Revisited
Jörg Schröder zum 80. Geburtstag
Von Albrecht Götz von Olenhusen
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseGlückliche Umstände versetzen mich in die Lage, dem Jubilar Jörg Schröder zu seinem 80. Geburtstag herzlich zu gratulieren. Gehöre ich doch zu der treuen Zahl der Auserwählten, den in der Tat Glücklichen, welche die signierten und nummerierten 68 Folgen von „Schröder erzählt“ und die sieben „Treuegaben“ (für unverwüstliche Abonnenten kostenlose Folgen) im Original und durch keinerlei juristischen Strich zensiert besitzen – angefangen mit „Glückspilze“ von 1990 und jetzt endgültig, einem Unglücks-Gott sei’s geklagt, unweigerlich abgeschlossen mit „Der Glücksgott“ von 2018. Und so sehe ich mich immerhin in der komfortablen Position, in diesem phänomenalen Pandämonium der Literatur- und Sozialgeschichte nachzuschlagen, wann immer die voranschreitende dementia praecox das Gedächtnis im Stich lässt, wenn es darum geht, dieses einzigartige Gemälde der neuzeitlichen Literaturgesellschaft andächtig Revue passieren zu lassen.
Weniger glückbringend wirkt der Umstand, dass die Folgen der Werke, mit denen Barbara Kalender und Jörg Schröder über Jahrzehnte hinweg die reale Zeit-, Verlags- und Kulturgeschichte der Bundesrepublik, ob diese es nun wollte oder auch nicht, ohne reuige Rücksicht, scheue Scham oder irgendwelche samtpfotigen Skrupel begleiteten, jetzt ein finales Ende erreicht haben.
Bomben in gelbem Umschlag
Diese unumwunden verkündete schlechte Nachricht wird jedoch kompensiert durch eine ausnehmend gute: Das epochale Werk „Siegfried“, die „Bombe im gelben Umschlag“ (so Dieter E. Zimmer in DIE ZEIT) aus dem Jahre 1972, liegt nicht nur in Gänze und weitgehend unversehrt wieder vor. Das sogenannte „Stück Entblößungsliteratur“ wird ergänzt, erweitert und dokumentiert durch Jörg Schröders exzeptionelle Vita seit dem Jahre 1938: „Das ganze Leben“, aufgezeichnet und reich bebildert durch seine Co-Autorin Barbara Kalender, der er seit 1990 jede der Folgen erst einmal peripathetisch erzählte, um die Fassungen alsdann in mehrschichtigen Schritten, Schnitten und aufwendigsten Bearbeitungs-Akten der Tonbänder mit ihr in eine endgültige Form zu bändigen.
„NachMärz“
Was eine große Wochenzeitung vor einigen Jahren in gnädiger Herablassung als rechthaberischen, ehrpusseligen, rasanten Sound der Avantgarde zwischen postgelben Buchdeckeln mit nachlassender Durchschlagskraft charakterisieren zu dürfen sich erlaubte, hat sich eben nicht unter den Schlagworten „Wir leben vom Mythos und nicht von der Stückzahl“ oder „Immer radikal niemals konsequent“ im rezensionswütigen Nirwana des flotten Feuilletonismus verflüchtigt. Jan-Frederik Bandel konnte in einem veritablen Essay „NachMärz oder Eine kleine März-Geschichte der Bundesrepublik“ bereits vor einigen Jahren die furiosen Stationen nachzeichnen, die von „Siegfried“ über den Mammut-Band der MÄRZ-Texte 1 & 2 von 1969 bis 1984 als „gigantischer Geschichtsspeicher“ bis in die Gegenwart als befreiende, kulturrevolutionäre Entdeckung und Entwicklung neuer Sprech-und Schreibweisen leuchtend und erleuchtend wirkten. – Herausragend war dabei die scharfzüngige Abrechnung mit „Müslimuff und Moralmuff und Bewegungsmuff“ von Alternativ-Biotopen, selbsternannten Friedensbewegern und wahnwitzigen, aber deutungsfähigen Eingeweiden von mehr oder weniger linken oder linkischen Parteien in der glanzvollen Reportage „Cosmic“ (1981).
Warum sachlich, wenn es auch persönlich geht, wurde zu einem Markenzeichen eines in seiner Art und Güte, die auch mancher ganz ungütigen Denkungsart nicht ermangelt, einzigartigen bundesrepublikanischen Tagebuchs, in dem sich die literarisch-politischen Archäologen gegen antisemitische, rassistische, chauvinistische oder andere abartige Ideologien, ihre realen Protagonisten und große wie kleine Wahnsysteme in Medien & Politik beherzt artikulieren.
„Feinde ringsum“
„Feinde ringsum“, wie ein Titel des von Schröder verehrten Autors Franz Jung lautet, könnte auch die Überschrift mancher Folgen von „Schröder erzählt“ bilden, wären da nicht auch die nicht minder zahlreichen „Freunde ringsum“, die nicht erst seit heute dem „Herrn Bundesrepublik“ (Rainald Goetz) lauthals und – wie dieser hier laudatorisch agierende Anbeter – ehrlich, überzeugt und so sykophantisch wie nur irgendwie möglich huldigen. In der von Barbara Kalender und von ihm gegründeten Märzgesellschaft finden sich, so oft sie tagt und soweit die Füße tragen, die Anhänger von MÄRZ, NachMärz und WeitersoMärz zu Vorträgen und anderen Lustbarkeiten zusammen. „Schröder erzählt“ geht also doch auf seine Art weiter – Fortsetzung folgt.
Statische Schläue
Wie wenig profitabel der Literaturbetrieb mit seinem ausgefeilten und autopoietischen „Erwähnungsgeschäft“ (Jörg Schröder) erscheinen mag – endlose Kräche, Sezessionen angefüllt mit In- oder Unzucht, irrsinnige Insolvenzen, krasse Konkurse, nervige Niederlagen, juridische Exzesse, üble Infarkte und markante Wiederauferstehungs-Rituale säumen die stets gnadenlos offenbarten Wege und Abwege des Jubilars –, haben der Schriftsteller Horst Tomayer und Jörg Schröder selbst in ihren Dialogen zwischen dem Betriebsprüfer T. und dem Verleger S. in Peter Gehrigs Film „März Akte“ zum Besten gegeben: „Also, irgendwie hab ich das Gefühl, das ist nicht rentabel.“ – „Das ist ne ganz sichere Einschätzung … die ganze Branche ist Konkurs … das ganze hält sich nur noch zusammen mit statischer Schläue.“
Schröder hat mit dem ihm eigenen röntgenartigen und prophetischen Durchblick Zeit seines Lebens beobachtet und registriert, wie irgendwelche Kräfte „das Ding“, die gar nicht mehr berechenbare Statik des Systems, noch halten – die banal bis bracchial entfalteten Branchen des Kultur-Betriebs und der Kultur-Industrie also, deren aktivistisches, innovatives und geniales Epizentrum lange Jahre er selber war oder noch ist, ungeachtet aller psychischen und physischen Umtriebe oder der vergeblichen Versuche, sich elegant und letal daraus zu verabschieden.
„Siegfried“ siegt unverzagt weiter
Die jetzige umfänglichere Form von „Siegfried“, die auf einigen Seiten die juristisch gebotene, charmante und auch in der partiellen Schwärzung leicht zu entschlüsselnde Ästhetik der Zensurbalken aufweist, ist seit der Erstauflage zuweilen vordergründig als autobiographische Klatsch-Reportage und narzisstischer Auftritt eines paranoiden Streithammels denunziert worden. Der in der Tat streitbare Autor setzte sich mit der der Gesundheit eher abträglichen, aber auch in zahlreichen Rechtshändeln zurecht entwickelten Cholerik gegen rechtswidrige Machenschaften etwa der Verwertungsgesellschaft WORT durch. Deren flinke wohlfeile Replik: Die autobiographie romancée wurde post festum des verlorenen Prozesses um den Begriff des Sachbuchs schnurstracks mittels einer lex Schröder aus der ehrbaren Treuhand der Vergütungspflicht hinausbefördert. Konsequenz: Schröder/Kalenders Folgen demnach nicht mehr als Sachbuch vergütungspflichtig.,Der des Wortes so mächtige Schriftsteller hat es in der Kunst und Literatur, aber auch in der gefahrvollen und edlen Kunst, sich Feinde zu machen, schon zu einer wahren Meisterschaft gebracht. Mit „Siegfried“ mutierte der weithin als Werbefachmann, Buchgestalter und Lektor erfolgreiche Verleger zum Autor, indem er seine schon längst virulente, legendäre erzählerische Gabe nicht mehr allein an Tischen und Theken wie the last of the great spenders vergeudete.
Pop, Postmoderne, Aufklärung und andere Unarten
„Einverstanden Monsieur Foucault, es muss ununterbrochen gesprochen werden, aber vor allem muss ununterbrochen widersprochen werden, damit endlich das dusselige Gerede aufhört, alles sei Erzählung in der Postmoderne… Die Autobiographie, in der Ross und Reiter genannt werden, ist das neue Genre der Aufklärung.“ (Schröder) Die explosiv-selbstentblößende Mischung aus Anklage und Apologie, von Zeitgeschichte und Skandal in Schröders Werk, von Henning Herrmann-Trentepohl oder Wolfgang Raible mit dem heiligen Segen der einschlägigen Wissenschaften gesalbt, frönt dem ultimativ vorgetragenen Anspruch, keine Fiktion zu schreiben. Schäbig-verschämte Schlüsselromane oder andere indirekte oder gar verborgene Schmähschriften über harte Fakten aus arkanen Boudoirs und Banktresoren sind Schröders Sache beileibe nicht. Der bravouröse Publikationsmodus führt, wie es die perfiden Anmutungen und argen Auswüchse des Allgemeinen Persönlichkeitsrechts fordern möchten, zu den gemeinen Folgen kommunikativer Regresspflicht. Betroffene fordern banalen Abstand oder saftiges Schmerzensgeld wegen seelischer Unbill.
Seelenkunde für Mimosen
Gewiefter jedoch als alle Advokaten in ihren Winkeln hat der forensisch ausgefuchste advocatus diaboli, um solchen allfälligen Regressen energischen Widerstand zu leisten, die auch literarisch allemal trefflich funktionierende vorbeugende Unterlassungserklärung erfunden. Wer immer sich durch nackte Namensnennung und krasse Darbietung von interessanten Geschäfts- oder Sexualpraktiken, durch Offenlegung von Bestechung, Korruption, Ignoranz, von Präpotenzen einer Schickeria zwischen „Suff und Puff“ in der tabula rasa der „Erfahrungs-Seelenkunde“ (Karl Philipp Moritz) und ihrer Folgen mimosenhaft tangiert empfindet, sieht sich mit einer listig erdachten und expressis verbis vorab erklärten präventiven Unterlassungsäußerung ausgekontert: Solch widersetzlicher Zeitgenosse kommt, wenn er sich in seiner sensiblen Psyche oder im symbolischem Ehren-Kapital beschwert und zur Erleichterung des schriftstellerischen Geldbeutels via Schmerzensgeld bemüßigt fühlen sollte, künftig auf dem Wege der Vor-Beugung in der schönen Literatur eben einfach nicht mehr vor! Pech gehabt. Dann fehlen eben solche wie auch immer abartige oder abgekartete Erscheinungen in der wechselnden Ebbe und Flut der Gezeiten künftig in den gedruckten „Folgen“ „Schröder erzählt“ auf immer und ewig. So tragisch erging es manchem großspurigen Gegner der Medien-, Verlags- oder Rechtsbranche. Weit weniger Nachsicht konnte stets das üppig vertretene Personal der Erzählungen erwarten, welches die eigene vita gerne geschönt oder ganz im Verborgenen zu halten oder gar klammheimlich zu „türken“ (=zu verfälschen) trachtete. Mit gusseisernem Gedächtnis begabt ficht der Autor Schröder allzeit gleichsam wie der wackere Schwabe in Ludwig Uhlands unsterblichem Gedicht: „Zur Rechten sieht man wie zur Linken / einen halben Türken heruntersinken“.
Den rotgelbe Schutzumschlag von „Siegfried“, im vom Autor entwickelten unverwechselbaren MÄRZ-Design, zeigt wie bei der Erstauflage den Verfasser in effigie selbst und daneben – ihn ebenfalls selbst als ein wenig missmutig in die Welt dreinblickenden Buben mit preußischer Pickelhaube und martialischem Säbel bewaffnet – auf dem Innentitel das fotogene Urbild an der Hand der unermüdlichen bewunderungswürdigen Mutter Edith. Unter den zahlreichen schönen Photographien, die Barbara Kalender versammelt hat, möchte ich als mein derzeitiges, bisher weniger bekanntes Lieblingsfoto den noch sehr jungen Jörg Schröder „als Kuchenbäcker bei Tante Rinklef“ auswählen (S. 372):
MÄRZ-Archiv im Deutschen Literaturarchiv Marbach
Wer mit einer so fidelen und freimütig-frechen Gestik und mutig erhobenem Löffel im prophetischem Vorgriff auf künftige Groß-Taten seine gewiss schon dazumal äußerst schmackhaften Werke anpreist, der hat allen Anspruch darauf, dass hier und heute sein Erstlings- und sein unvergleichliches und unentbehrliches Lebenswerk gebührend gewürdigt wird.
Aus dem Nähkästchen:
Jan-Frederik Bandel / Barbara Kalender / Jörg Schröder: Immer radikal, niemals konsequent. Der März-Verlag – erweitertes Verlegertum, postmoderne Literatur und Business Art. Hamburg: Philo Fine Art 2011.
Jörg Schröder erzählt Ernst Herhaus: Siegfried. Frankfurt a.M.: Schöffling & Co 2018 (Erste Auflage der durchgesehenen Neuausgabe letzter Hand 2018, mit dem Anhang verfasst von Barbara Kalender: „Das ganze Leben“).
Jörg Schröder / Barbara Kalender: Schröder erzählt. Komplette Ausgabe der 68 Folgen plus Treuegaben in 7 Buchbinder-Kassetten. Berlin: März-Desktop 2018 (ISBN 978-3-920096-87-2).
Henning Hermann-Trentepohl: Schröders Bein. Autobiographie, Zeitgeschichte und Skandal in Jörg Schröders autobiographischem Werk „Siegfried“, „Cosmic“ und „Schröder erzählt“. In: Stefan Neuhaus, Johann Holzner (Hrsg.): Literatur als Skandal. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2007.
James Abbott McNeill Whistler: The Gentle Art of Making Enemies: as pleasingly exemplified in many instances, where in the serious ones of this earth, carefully exasperated, have been prettily spurred on to unseemliness and indiscretion, while overcome by an undue sense of right. London: William Heinemann 1890.
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