Der tödliche Dschungel Berlins in naher Zukunft

Eva Siegmund präsentiert mit „Sodom“ den Serienauftakt einer Welt voller Gelüste, Gefahren und Geheimnisse

Von Rosa ZickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Rosa Zick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

„Er fuhr den Streifenwagen und hatte die beiden Frauen auf dem Rücksitz platziert. Nun beobachtete er sie im Rückspiegel. Birol fühlte sich mehr als nur ein bisschen verarscht. Er hatte zwei Frauen? Echt jetzt? Nicht nur zwei Frauen, sondern zwei echt merkwürdige Frauen.“ Die drei Hauptfiguren in Eva Siegmunds Roman Sodom könnten unterschiedlicher nicht sein: Birol lebt seinen Berufswunsch als Polizist im sogenannten „Käfig“, dem Hauptquartier der Altberliner Polizei, und wohnt noch in seinem alten Kinderzimmer. Während er fest entschlossen ist, den Mörder seines Vaters zu finden und sich an ihm zu rächen, ist er umgeben von korrupten oder faulen Kollegen, die alles andere im Sinn haben als ihm zu helfen. Laura verlässt Hamburg, um unter einem falschen Namen im Käfig ihre Polizeiausbildung zu absolvieren und die fragwürdigen Umstände des Todes ihrer besten Freundin, der Polizistin Fenne, aufzudecken, die wie Birols Vater bei einem Polizeieinsatz starb. Und auch die junge Albino-Frau Raven verbirgt mehr als vorerst anzunehmen. Sie führt ein Doppelleben und arbeitet nachts illegal als sogenannter „Modder“, um die Körper anderer Menschen mit ihren selbst entwickelten Hightech-Prothesen zu modifizieren. Erst als einer ihrer Diebstähle auffliegt, wird sie durch den darauffolgenden Strafdienst dazu gezwungen, fortan tagsüber mit Birol und Laura zusammen im Team der Mordkommission zu arbeiten. So wenig die drei anfangs miteinander anfangen können, so sehr verbindet sie eins: Die Suche nach Antworten. 

Siegmund, selbst Wahl-Berlinerin, nimmt ihre Leser*innen mit auf die Suche und damit in die dystopische Zukunft des Berlins der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts. 1983 in Bad Soden am Taunus geboren, absolvierte Siegmund nach dem Abitur in Bayern eine Ausbildung zur Kirchenmalerin, studierte anschließend Jura in Berlin und arbeitete als Lektorin in einem Berliner Hörverlag. Seit 2014 widmet sie sich als freie Autorin und Lektorin ganz dem Schreiben. Bisher publizierte sie ausschließlich Jugendromane, die dystopische Zukunftswelten zeigen, wie zum Beispiel ihr Debüt LÚM – Zwei wie Licht und Dunkel (2014). Diesem Science-Fiction-Roman folgten die Pandora-Reihe (2016) und die H.O.M.E-Reihe (2018/2019), bestehend aus jeweils zwei Teilen. Mit Sodom gelingt Siegmund der Einstieg in die Erwachsenenliteratur. Es ist der erste Thriller ihrer Utopia Gardens-Reihe, die 2021 mit den Bänden Gomorrha und Babylon vervollständigt wird.

Die drei Romantitel sind gleichzeitig die Namen dreier Städte der Antike, deren Vernichtung in der Bibel beschrieben wird – eine Andeutung auf den Fortgang der Geschichte um Birol, Laura und Raven? Auch die deutsche Redewendung „Das geht ja hier zu wie in Sodom und Gomorrha“ hat ihren Ursprung in der biblischen Erzählung und verweist auf ein lasterhaftes, amoralisches Leben. In Sodom scheint „Utopia Gardens“, die Weiterentwicklung des Berliner Großstadtdschungels, ein solches Leben zu ermöglichen. Während dort tagsüber Eltern mit ihren Kindern Zirkustiere bestaunen und Popcorn auf dem Jahrmarkt essen, öffnet es nachts als Bordell, Kampfarena, Schwarzmarkt und legendärster Club der Welt seine schweren Stahltüren. Immer auffälliger wird Siegmunds Spiel mit Kontrasten und Paradoxa: „Hier fand jeder, was er suchte oder sich nie zu suchen gewagt hatte. Auf alle geheimen Fragen, die man draußen – wenn überhaupt – nur flüsterte, hatte das Gardens mindestens hundert Antworten.“ 

Die Leser*innen werden in diese ganz eigene Welt voll süßen Versuchungen, illegalen Machenschaften und Suchtgefahren entführt. Erst Siegmunds unverblümte Ausdrucksweise gibt den Blick hinter die hochglanzpolierten Kulissen frei und zerstört die Illusionen: „Tagsüber kam niemand in die unteren drei Stockwerke des Gardens. In der Zeit wurden Kotze und Sperma weggeputzt, die Bars wurden aufgefüllt, Wunden wurden genäht und Geld gezählt.“ Ob auch die Bezeichnung „Gardens“ eine Anspielung auf das christliche Paradies – den Garten Eden – ist oder lediglich als Kontrast des Nachtlebens zur ruhigen Natur verstanden wird, bleibt den Leser*innen überlassen. 

Eins ist jedoch gewiss: Hier wird das Motto „mitgehangen, mitgefangen“ gelebt, das die Grenze zwischen Gut und Böse verschwimmen lässt. Der Wechsel zwischen den personalen Erzähler*innen ermöglicht einen umfassenden Blick auf die Geschehnisse. In jedem Kapitel lernen die Leser*innen eine andere der insgesamt elf agierenden Personen näher kennen, deren ausweglose Situation (be)greifbar wird. Birol, Laura und Raven bilden dabei den festen Kern und kommen am häufigsten zu Wort. Durch die komplexe Handlung steigt die Gefahr, sich in diesem teils undurchsichtigen Wirrwarr zu verirren. Hier ist Konzentration beim Lesen gefragt, um auch jede Wendung und Beziehungskonstellation nachvollziehen zu können. Nichts für schwache Nerven und eine Achterbahn der Gefühle, vor allem als es nach einem Mord zu einer unangekündigten Polizeirazzia im Gardens kommt, an der auch Birol, Laura und Raven beteiligt sind. In solchen Momenten baut Siegmund durch die Verbindung von Elementen aus Kriminalgeschichten und Thrillern die Spannung immer weiter auf. Von Anfang an verfolgen die Leser*innen das ungleiche Ermittlungstrio, die unterschiedlichen Beweggründe und die Anzeichen eines Untergangsszenarios. Und auch Siegmunds sprachliche Bilder zeigen immer wieder, dass es sich nicht bloß um die polizeiliche Aufklärung einiger Straftaten handelt. Bis zur nächsten Explosion ist es nie weit: „Die Dämme brachen, und sie wurde nach vorne gespült. Während sie mit den anderen Polizisten durch eine der seitlichen Eingangstüren auf den Clubfloor gepresst wurde, dachte Raven an Hefeteig, der über den Rand einer Schüssel quoll“. 

Die vielen Anglizismen spiegeln nicht nur die Tendenzen unseres gegenwärtigen Sprachgebrauchs wider, sie beziehen sich auch auf die Art und Funktion der so bezeichneten Menschen. „Cheater“ heißen die technisch modifizierten Menschen in Siegmunds Sprache – nicht zuletzt, weil ihre eingesetzten Prothesen, wie zum Beispiel neue Kniegelenke oder Sprungmesser an Ellenbogen und Fersen, erst unerwartet auf dem „Fightfloor“ eingesetzt werden und den jeweiligen Vorteil zum Überleben bringen. Als „Modder“ – abgeleitet von „modification“ – stattet Raven ihre Kunden mit den makellosen, tödlichen Waffen, „Kreationen“ genannt, aus.

Der technische Fortschritt ist Bestandteil vieler Thriller, wirft er doch immer wieder Fragen nach Realisierung und Gefahren auf. Doch anders als in Dave Eggers Bestseller Der Circle (2017) oder Arno Strobels Die App (2020) geht es Siegmund nicht um die Darstellung eines Überwachungsszenarios und der Abhängigkeit vom Internet. Vielmehr erforscht sie die Neurotechnik sowie Cyber-Prothetik-Technologien, noch junge Forschungsdisziplinen. Je nach Anwendungsgebiet werden bereits in der heutigen Zeit passende Prothesen hergestellt, etwa Cyberlegs, die das Treppensteigen erleichtern. Während diese als Hilfstechnologien angesehen werden, fokussiert sich Siegmund in Sodom auf die tödlichen Gefahren, die von ihnen in modifizierter illegaler Form ausgehen könnten. Dabei bleibt jedoch unerklärt, wie eine solche Gesellschaft sowie die Arbeit der Modder und Cheater entstehen konnten. 

Deutlich wird, welchen Erfolgsmodellen Siegmund mit ihrer Reihe folgt, denn nicht umsonst nennt sie ihren finalen Band Babylon und gibt in einer ihrer Ankündigungen preis: „[e]in kleiner Gruß in Richtung Babylon Berlin“. Die deutsche Kriminal-Fernsehserie verbucht seit 2017 international große Erfolge und basiert auf den inzwischen acht Kriminalromanen von Volker Kutscher. Schauplatz ist das Berlin des Jahres 1929, als sich das Scheitern der Weimarer Republik bereits abzeichnet. Während sich diese Begebenheiten von Siegmunds Romanreihe unterscheiden, sind es vor allem die ungleichen Ermittlungsteams, die in Serie und Roman die Spannung aufbauen. Ähnlich wie Raven führt die Stenotypistin Charlotte Ritter in Babylon Berlin ein Doppelleben – nicht als Modder, sondern als Prostituierte. Korruption, Gewalt und Illegalität sind Themen beider Realisierungen, in der ersten Staffel Babylon Berlin ist es der große Nachtclub „Moka Efti“, der als Disco und Bordell ins Zentrum gerät. Ein Vorbild für Siegmunds Club „Utopia Gardens“? Eine Frage, die sich noch nicht beantworten lässt. Der erste Teil der Thriller-Reihe zeigt auch durch den clever eingesetzten Cliffhanger, dass Luft nach oben bleibt. Es bleibt abzuwarten, wie Siegmund diese Chance nutzt und ihr Spiel mit Lust- und Angstfantasien in den Bänden Gomorrha und Babylon weitertreiben wird.

Positiv zu bemerken ist die Vielfalt der Figuren und die starken Protagonistinnen, womit Siegmund an aktuelle Gender- und Antirassismus-Debatten anknüpft. Eine dieser Frauen ist Ophelia, die im ersten Drittel des Romans erstmals auftritt und ein weiteres spannendes Rätsel eröffnet. Sie hält die Fäden ihres Unternehmens in Hamburg, dem Nebenspielort der Geschichte, in der Hand und kostet ihre Machtposition nur allzu gerne aus: „Sie stand in ihrem Büro und überblickte den Hafen. Zwar war es nicht so, dass ihr alles gehörte, was sie von diesem Punkt aus sehen konnte, doch immerhin alles, was sich zu ihren Füßen befand. Und so war es ihr eigentlich noch lieber. Alles war ihr zu ihren Füßen lieber.“ Es ist nicht überraschend, dass die Geschehnisse der beiden Orte Hamburg und Berlin miteinander zusammenhängen. Nur wie genau, bleibt im ersten Band noch undurchsichtig. So auch die Funktion von Ophelias Unternehmen, das ein technisch basiertes, illegales Experiment durchführt, von dem die Leser*innen nur einzelne Puzzleteile vorgelegt bekommen. Durch immer wieder neue Handlungsstränge in jedem Kapitel wird eine spannungsgeladene Atmosphäre aufrechterhalten. Gleichzeitig erleben die Leser*innen nicht nur jedes Ereignis hautnah mit, sondern auch die Charakterentwicklungen der verschiedenen Protagonist*innen. Birol tritt beispielsweise anfangs als ein in sich selbst gefangener Mann auf, der mit einer Flut an unterdrückten Emotionen zu kämpfen hat und daher jeden Morgen zur Arbeit rennt:

Birol versuchte, all die Wut loszuwerden, die ihn erfüllte. Um sich nicht den ganzen Tag über zusammenreißen zu müssen. Doch das klappte so gut wie nie. Die Wut war sein Mitbewohner, lebte, atmete und wuchs wie ein Parasit in seinem Inneren, zog die Strippen und beeinflusste sein Denken und Handeln. Zumindest einen Teil davon, die schmerzhaften Spitzen, die sich über Nacht herausgebildet hatten, konnte er morgens in den Asphalt der Straße rammen.

In jedem Kapitel verwendet Siegmund neue Vergleiche, die an die Gedanken und Absichten und das Verhalten der Figuren angepasst sind. Während Birols Anspannung in jeder seiner Bewegungen spürbar ist, befreit sich Laura immer mehr von ihrer Schüchternheit. Die Bildsprache zieht sich wie ein roter Faden durch den Roman.

Sodom ist ein Thriller, dessen Titel Programm ist. Er vereint eine spannende Geschichte mit geheimnisvollen Figuren, die zumindest teilweise nicht so unrealistisch scheinen, wie anfangs anzunehmen. Siegmund führt die Leser*innen mit vielen Perspektivwechseln durch den tödlichen Dschungel Berlins in dystopischer Zukunft. Nach der Lektüre sind mehr Fragen offen als beantwortet und es bleibt abzuwarten, wie die Rätsel in Band zwei und drei gelüftet werden. Bis dahin lohnt es sich, das Beziehungsgeflecht noch einmal ganz genau zu erforschen.

Ein Beitrag aus der Redaktion Gegenwartskulturen der Universität Duisburg-Essen

Titelbild

Eva Siegmund: Sodom.
Knaur Taschenbuch Verlag, München 2020.
368 Seiten, 12,99 EUR.
ISBN-13: 9783426524756

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