Eine deutsche Gewaltgemeinschaft

Daniel Siemens legt eine umfassende Geschichte der Sturmabteilung (SA) vor

Von Jens FlemmingRSS-Newsfeed neuer Artikel von Jens Flemming

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Im April 1933 schrieb Pastor Friedrich von Bodelschwingh, der Leiter der nach seinem Vater benannten Anstalten in Bethel bei Bielefeld, einen Brief, in dem er seine Meinung zu den in aller Öffentlichkeit begangenen Gewalttaten der SA verkündete. Adressat war ein jüdischer Arzt, der sich bei ihm um eine Stelle beworben hatte. „Wenn man“, heißt es da, „in den letzten 20 Jahren das öffentliche Leben besonders in den Großstädten gesehen hat und dabei die Flut von Schmutz, Zersetzung und Unwahrheit, die aus dem entarteten jüdischen Geist in unser deutsches Volk hineingeflossen ist, kann man wohl verstehen, dass eine kräftige und harte Reaktion dagegen geschichtlich unvermeidlich war.“ Das entsprach bis auf Punkt und Komma den Überzeugungen und antisemitischen Ressentiments der politischen Rechten in Deutschland, namentlich des völkischen Radikalismus, dessen Gruppierungen im Laufe der 1920er Jahre bis auf wenige Ausnahmen unter das Dach der NSDAP geschlüpft waren. Die Juden sind selbst schuld an dem, was ihnen widerfährt, lautete die Botschaft. Denn schließlich: Die Nazis vollstrecken einen zur historischen Mission deklarierten Auftrag. Und überhaupt, wo gehobelt wird, fallen Späne, oder in Bodelschwinghs Worten: „In revolutionären Zeiten lassen sich Ausschreitungen nicht ganz vermeiden.“

In einer Bemerkung wie dieser steckt zweierlei. Zum einen offenbart sie prinzipielle Zustimmung zu dem, was die Nationalsozialisten als ‚nationale Revolution‘ ausgerufen hatten, zum andern die Beruhigung des eigenen Gewissens im Angesicht zahlreicher Gräueltaten, welche die Institutionen des Staates Gewehr bei Fuß geschehen ließen. Allerorten tobten sich die Einheiten der SA aus. Vom Reichskommissar für das preußische Innenministerium Hermann Göring, der seit April zugleich als Ministerpräsident fungierte, mit quasi polizeilichen Befugnissen ausgestattet, verhafteten sie Tausende von Andersdenkenden, verschleppten diese in spontan errichtete Folterkeller, demütigten, misshandelten und ermordeten Hunderte von Menschen auf offener Straße. Niemand konnte davor die Augen verschließen. Die Mehrheit der Deutschen, sofern sie nicht als Täter beteiligt waren, schwieg; namentlich in den bürgerlichen Milieus, den nationalprotestantisch gesonnenen zumal, tröstete man sich mit dem Gedanken, dass die Phase der Machtergreifung alsbald in ruhigere Gewässer einmünden würde. Ausnahmen allerdings gab es. In Chemnitz zum Beispiel, damals eine bedeutende Industriestadt mit einer großen Arbeiterbevölkerung, mochte der Leiter des Kriminalamtes, ein konservativer, an und für sich mit den Nazis sympathisierender Jurist, den von den lokalen SA-Formationen entfesselten Terror nicht ohne weiteres hinnehmen. In einem Bericht an das sächsische Innenministerium wies er auf schwerwiegende Rechtsverstöße hin, qualifizierte die verbrecherischen Aktivitäten der SA als „Terrorherrschaft“ und forderte, man möge die dafür Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen. Denn, so lautete die Begründung: „Die neue Zeit darf systematische, sadistische Quälereien wehrloser Gefangener nicht dulden“.

Die SA, der Daniel Siemens, Professor an der Universität von Newcastle, eine beeindruckende Studie widmet, ist natürlich keine Unbekannte der historischen Forschung. Davon zeugen etliche Untersuchungen. Insofern betritt Siemens nicht überall Neuland. Aber die Anlage seiner Arbeit, die Dichte der Recherchen, die Anschaulichkeit seiner Prosa und die Tatsache, dass die Geschichte der Braunhemden von den Anfängen in der frühen Weimarer Republik bis zur Götterdämmerung des Regimes erzählt wird, bietet immer wieder Anlass, ältere Befunde und Gewissheiten noch einmal zu überdenken. Schon der Auftakt des Buches führt mitten hinein in die Thematik. Er wirft ein bezeichnendes Licht auf die Tatbereitschaft einzelner SA-Männer und die darin zum Ausdruck kommenden Formen der Selbstermächtigung, mit denen sich diese zu Herren über Leben und Tod erhoben. Geschildert wird der Mord an einem Arbeiter in Potempa, einem Dorf in Oberschlesien unweit der Grenze zu Polen. Am Morgen des 10. August 1932 drangen bewaffnete SA-Männer in das Haus des Opfers ein, misshandelten den Mann, den sie als Kommunisten und Polenfreund verdächtigten, derart schwer, dass er seinen Verletzungen erlag. Der Autopsiebericht des Gerichtsmediziners zählte insgesamt 29 Verletzungen. Wenig später wurde den Tätern in Beuthen der Prozess gemacht. Das Urteil gegen fünf der Angeklagten lautete Todesstrafe, die alsbald von der preußischen Regierung in lebenslängliche Haft umgewandelt wurde. Adolf Hitler hatte den Tätern zuvor seine „unbegrenzte Treue“ versichert und den Richterspruch ein „ungeheuerliches Bluturteil“ genannt. Joseph Goebbels, der Berliner Gauleiter und Propagandachef der NSDAP machte in seiner Zeitung, dem Angriff, auf der ersten Seite mit der Überschrift auf: „Die Juden sind schuld“. Und Edmund Heines, der Chef der schlesischen SA, drohte noch im Gerichtssaal: „Das deutsche Volk wird bald andere Urteile sprechen.“

Für Siemens war das eine „Machtprobe in der Provinz“. Sie wurde allenthalben  wahrgenommen und heftig diskutiert. Die Ereignisse zeigten einmal mehr, wie aufgeheizt die Stimmung war, wie weit die NSDAP und ihre Kampfverbände zu gehen bereit waren. Im Kampf um die Macht waren alle Mittel recht. Straßen und Plätze mutierten zum Aufmarschgelände und Schlachtfeld der Sturmabteilungen, die 1932 den Moment der Abrechnung mit den Institutionen und Repräsentanten der Republik nahe wähnten. Am Tag der Urteilsverkündung war Beuthen voll von Nationalsozialisten, es kam zu Ausschreitungen, bei denen Fenster einer sozialistischen Zeitungsredaktion eingeschlagen wurden. Die jüdischen Geschäfte hatten vorsichtshalber die Rollläden heruntergelassen. In Oberschlesien paarte sich die Ablehnung der als schwach empfundenen Republik mit dem ressentimentgeladenen Nationalismus eines Grenzlandes, der sich zwischen 1919 und 1922 in den bewaffneten Konflikten zwischen polnischen Freischärlern und deutschen Freikorps beträchtlich aufgeladen und sich seither nicht mehr verflüchtigt hatte. Die SA setzte sich erfolgreich als deren Nachfolgeorganisation in Szene. Politischer verschmolz mit ethnischem Hass. Für den vom Autor zitierten Schriftsteller und gebürtigen Oberschlesier August Scholtis schien „in dieser Region Mitteleuropas“ immer noch „Mittelalter“ zu herrschen: „Hier wird die Kreatur von Generation zu Generation zwischen preußischen und polnischen Staatsgrenzen hin und her gezerrt, abwechselnd durch beide Seiten des freien Willens beraubt, genötigt, gejagt, geplündert oder am Straßenrand einfach abgeschlachtet.“

 Potempa war zweifellos ein Fanal. Aber der dort mit besonderer Brutalität begangene Mord war beileibe kein Einzelfall. „Allein im Juni und Juli 1932“, notiert Siemens, „wurden im Verlauf politisch motivierter Straßenkrawalle, bei Schießereien, Schlägereien und Überfällen im Deutschen Reich mehr als 300 Menschen getötet und weit über 1000 verletzt.“ Kein Wunder, dass sich das Vertrauen in die Steuerungskapazitäten, die Abwehrbereitschaft und die Abwehrmöglichkeiten des Staates verflüchtigte. Die Einheiten der SA waren Kampf-, Mobilisierungs- und Integrationsmaschinen. Gegründet 1919/1921 als Saal- und Selbstschutz und zunächst gefördert von der Reichswehr, verlief der Aufstieg der Sturmabteilung parallel zu dem der NSDAP, für einige Monate nur unterbrochen durch den im November 1923 gescheiterten Hitler-Putsch. In ihr sah der Oberste SA-Führer Franz Pfeffer von Salomon das eigentliche „Unterscheidungsmerkmal“ der NSDAP von „landläufigen Parlamentsparteien“. Sie sei das „Unterpfand“ des kommenden Sieges, glaubte er zu wissen. Ihr Tummelfeld war die Straße, ihre Organisation wurde analog zu den Strukturen der Armee gegliedert und zentralisiert. Dies schuf die Basis dafür, dass sie sich vom Status einer Splittergruppe lösen und sich zu einer reichsweit operierenden Massenbewegung auswachsen konnte.

Ihre Hoch-Zeit hatte die SA in den Jahren der Krise, die sie nutzte und zugleich schürte. Interner Streit und ‚linke‘ Abspaltungen beeinträchtigten weder ihren Wirkungsgrad noch ihre ambitionierten Ziele. Pfeffer von Salomon allerdings wurde abgelöst und durch einen ehemaligen Armeeoffizier, frühen Förderer und Mitstreiter, den bedenkenlosen Troupier Ernst Röhm ersetzt. Unzufriedenheit und Ungeduld unter den Männern wurden nach außen gelenkt, durch vermehrte Aktivitäten und zunehmend rabiateres Auftreten kompensiert. Immer mehr fasste die SA ebenso wie die NSDAP jenseits der Städte Fuß, bei der Nazifizierung der agrarischen Bezirke war sie ein wesentlicher Faktor. Ihre Mitglieder kamen nicht allein aus den Milieus der sozial Abgehängten oder denen versprengter Landsknechttypen. Vielmehr wurden sie in erheblichem Maß aus Angehörigen der Arbeiterschaft und der Mittelschichten rekrutiert, aus Angestellten, Landwirten, Handwerkern und deren Söhnen. Uniformen und Aufmärsche signalisierten Geschlossenheit und Schlagkraft. Im Prozess der Machtergreifung zwischen Januar und Sommer 1933 waren die Sturmabteilungen ein unentbehrliches Instrument zur Befestigung der Diktatur. Ihre Mittel waren Terror, Einschüchterung, handfeste Präsenz, fortwährende Eskalation der Gewalt, mit der sich die Überzeugung bekundete, über dem Gesetz zu stehen.

Ansprüche auf ein Mehr an Teilhabe blieben jedoch unerfüllt. Auch das Ziel, die Reichswehr in der SA aufgehen zu lassen, konnte Röhm nicht durchsetzen. In derartigen Erwartungen und den damit einhergehenden Enttäuschungen steckte neues Konfliktpotenzial. In der Reichswehr erwuchs den braunen Bataillonen ein Gegner, der nicht bereit war, das Feld kampflos zu räumen. Ende Juni 1934 durchschlug Hitler den Knoten, der sich geschürzt hatte, mit der ihm eigenen Missachtung von Recht und Gesetz. Indem er die SA-Spitze und mit ihr gleich mehrere dutzend potentieller Gegner liquidieren ließ, machte er jedermann, der sehen wollte, klar, welche Räume er betreten und welche Bahnen seine Politik einschlagen würde. Profiteure waren die Armee, die sich mit logistischer Hilfe im Hintergrund hielt, und die SS, der die reichsweite Mordarbeit oblag. Die SA büßte erheblich an Bedeutung ein, wurde umstrukturiert, musste ihren Traum von einer zweiten Revolution begraben und sah sich genötigt, nach neuen Aufgaben zu suchen. Die meisten Historiker, sagt Siemens, hätten ihr, obwohl zahlenmäßig immer noch stark, nach der „Nacht der langen Messer“ nur noch den Status einer „politisch irrelevanten“ Propaganda- und trinkfreudigen Stammtischtruppe zugemessen. Die bisherige Forschung, so das Urteil, laufe in dieser Hinsicht aber nur auf „kumulative Banalisierung“ hinaus.

Damit wird die Rolle der SA in den Jahren von 1934 bis 1945 jedenfalls nicht erfasst. Diese „Schieflage“ zu korrigieren, ist ein wesentliches Anliegen des Autors. Denn die SA war und blieb bis zum Schluss ein integraler und essentieller Bestandteil der ‚nationalsozialistischen Volksgemeinschaft‘. Den Buchtitel Eugen Kogons abwandelnd, heißt es, das Dritte Reich sei kein „SS-Staat“ , sondern „eher ein SA-Staat“ gewesen: „Die SS war in den Kriegsjahren die herrschende Kraft in den annektierten und besetzten Gebieten, doch im Altreich prägten nach wie vor die Männer in SA-Uniformen das Straßenbild.“ Deren Antisemitismus und die darin wurzelnde Gewaltbereitschaft hatten sich keineswegs abgeschliffen. Wie nachhaltig sie unter diesem Banner zu mobilisieren waren, demonstrierten zahlreiche Ausschreitungen und Krawalle, nicht zuletzt die reichsweiten Pogrome im November 1938. Auf Lastwagen, die sich im August 1935 anschickten, durch Recklinghausen zu touren, war beispielsweise zu lesen, wer den Juden kenne, kenne den Teufel. Ein übermannshohes Schild zeigte einen SA-Kämpfer, der im Begriff war, mit einem Hakenkreuz auf zwei Judenköpfe einzuprügeln, aus denen sich Schlangen herauswanden. Gleichwohl drang die SA in die bürgerliche Gesellschaft vor, infiltrierte das Vereinswesen, kontrollierte den Schieß- und Reitsport, verschaffte sich dominierende Positionen im Bereich „Körperertüchtigung“ und Förderung der „Wehrkraft“.

Im Krieg schlug die Stunde der Siedlungspropagandisten, um die im Osten eroberten Territorien mit deutschem „Volkstum“ zu füllen und, wie Siemens schreibt, „Bollwerke der ‚deutschen Rasse‘  gegen die slawischen und asiatischen Völker zu errichten.“ SA-Einheiten leisteten Hilfsdienste für die Wehrmacht, in den Vasallenstaaten auf dem Balkan wurden hohe SA-Führer zu Gesandten ernannt, die als „versierte Gewaltexperten“ das Ihre taten, um die Massendeportationen der Juden in die Vernichtungslager zu gewährleisten. Nach dem Zusammenbruch der Diktatur, wen wundert es, wollten die Beteiligten von ihren weit gefächerten Aktivitäten nichts mehr wissen, stilisierten sich zu „fehlgeleiteten Idealisten“ und hatten das Glück, dass die SA in den Nürnberger Prozessen nicht zur „verbrecherischen Organisation“ erklärt wurde, was eine strafrechtliche Ahndung vermutlich erleichtert hätte. Zur Rechenschaft gezogen wurden jedenfalls nur wenige, in der Regel diejenigen, die von den westlichen Alliierten an Polen oder Jugoslawien ausgeliefert wurden.

Im Berliner Tagesspiegel war unlängst (24.9.2019) zu lesen, dass die „Kampfsportszene der Neonazis“ sich „professionell“ organisiere und für den „Straßenkampf“ trainiere. Vom Brandenburger Verfassungsschutz ist zu hören, dass sich auf diese Wiese die Neonazis für den „Endkampf der Kulturen“ und den „Tag X“ rüsteten. Nun sind wir noch nicht da, wo die Weimarer Republik in den frühen 1930er Jahren angelangt war. Und mit Analogien zu hantieren, ist immer misslich. Aber hin und wieder einen Blick in die Historie, in diesem Fall in Daniel Siemensʼ Buch über die SA zu werfen, führt uns nicht auf Friedhöfe voller antiquarischen Gerümpels. Im Gegenteil, solches Tun schärft die Sinne für die Möglichkeitsräume von Geschichte und Gegenwart, für das, was war und für das, was – wenn auch in anderer Gewandung und Konstellation – kommen könnte.

Titelbild

Daniel Siemens: Sturmabteilung. Die Geschichte der SA.
Übersetzt aus dem Englischen von Karl Heinz Siber.
Siedler Verlag, München 2019.
589 Seiten, 36,00 EUR.
ISBN-13: 9783827500519

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