Alltag und Abgrund

Leïla Slimanis preisgekrönter Roman über eine mordende Tagesmutter

Von Caroline MannweilerRSS-Newsfeed neuer Artikel von Caroline Mannweiler

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Hätte Leila Slimani für ihren Roman Chanson douce nicht den wichtigsten französischen Literaturpreis, den Prix Goncourt, erhalten, fiele seine Bewertung vielleicht leichter. Man würde ihn einfach einen ganz ausgezeichneten Roman nennen können. So allerdings ist man verleitet, mehr von dem Werk zu erwarten, als es tatsächlich leistet.

Chanson douce handelt von einer Kindsmörderin, das Genre ist somit vorgegeben, denn auch das sensibelste Psychogramm einer Mörderin, das versucht, das Unerklärliche erklärbar zu machen, bleibt am Ende das Psychogramm eines Menschen, der mit dem Mord eine so außergewöhnliche Verhaltensoption wählt, dass der Leser vom Verstehen der Tat entbunden ist. Die ganze Mühe, die der Roman investiert, um das Verhalten der Mörderin nachvollziehbar zu machen, verpufft somit in gewisser Weise angesichts dieses letzten extremen Schrittes – der Roman wird zum Thriller, und zum Versuch, die Täterin Louise zu verstehen, gesellt sich die Spannung, wie es letztlich zum Mord kommen wird.

Denn dass dieser passieren wird, erfährt man, nicht unüblich für die Gattung, gleich zu Beginn. Auf den ersten Seiten schildert der Roman die Ergebnisse der grausamen Tat und es wird sogleich deutlich, dass Slimani nicht vorhat, die Täterin zum Opfer zu stilisieren. Louise hat hilflose Kinder getötet, nichts kann sie rechtfertigen. Interessant ist allerdings, wie Slimani den Fokus sogleich von der Täterin weglenkt hin zur Beobachtung, dass man Louise, die sich die Pulsadern aufgeschlitzt hat, mit der gleichen Professionalität und Objektivität medizinisch würde versorgen müssen wie die Opfer.

Der Ton dieser Beobachtung bleibt jedoch etwas unentschieden. Ist es ein Bedauern über die technische Moderne, die mit ihren durchrationalisierten Prozessen alle individuellen Unterschiede einebnet? Oder ist es ein Loblied auf selbige Moderne, in der auch Mörder ordentlich behandelt werden? Die Frage bleibt offen, klar ist jedoch, dass Louise mit dieser Moderne überfordert ist. Sich um Kinder kümmern, als Tagesmutter oder, wie man in Frankreich sagt, als „nounou“, einen Haushalt führen, waschen, putzen, kochen, all dies sind Tätigkeiten, bei denen sie sich wohlfühlt, bei denen sie weiß, wie sie vorgehen muss. Nur leider genügt dies nicht, um ihr Leben zu meistern. Denn es gibt zu viele Probleme, die sich mit Fleiß nicht lösen lassen.

Als ihr Ehemann stirbt, mit dem sie kein sonderlich vertrauensvolles Verhältnis hatte, von Liebe ganz zu schweigen, hinterlässt er ihr einen Berg Schulden, von denen sie aber nie erfährt, weil sie all seine Papiere einfach in der Wohnung lässt, die sie nach seinem Ableben verlassen muss. Sie ist nicht in der Lage, zusätzlich zu ihrer ohnehin schon prekären Situation ohne Auskommen und ohne jeglichen persönlichen Rückhalt, auch noch bürokratische Auseinandersetzungen mit Versicherungen, Banken und wem auch immer zu führen.

Und in diesen Momenten ist Slimanis Roman sehr stark, denn er lässt erahnen, wie grenzenlos überfordernd manche Aspekte des modernen Lebens für Menschen sein können, die ohne viel Bildung und vor allem ohne jede familiäre oder sonstige Unterstützung auskommen müssen. Man versteht Louise gut, als sie beschließt, die Papiere einfach wegzuschließen, sie muss bereits so vieles verdrängen, um in ihrer Hilflosigkeit nicht völlig zu verzweifeln, da kommt es auf ein paar Papiere auch nicht mehr an.

Nicht minder überzeugend ist Slimanis Roman, wenn er Louises Versuch schildert, ihren Arbeitgebern zu einem neuen Kind zu verhelfen. Myriam und Paul, so heißen die glücklichen Eheleute, die Louise als Tagesmutter beschäftigen, haben bereits zwei Kinder und denken gar nicht daran, ein drittes zu bekommen. Sie haben beide, nach einer Babypause für Myriam, wieder Vollzeitberufe, er als Musikproduzent, sie als erfolgreiche Juristin. Beide, vor allem aber Myriam, plagt manchmal das schlechte Gewissen, das so viele Eltern heimsucht, die ihrem erfüllenden Beruf mehr Zeit einräumen als ihren Kindern. Dass dieses schlechte Gewissen am Ende aber doch ein eher „kleines“ Problem darstellt, wird in Chanson douce eindrucksvoll deutlich.

Denn während Myriam und Paul immer Optionen auswählen können, hat Louise nur eine, die sie überhaupt am Leben hält und das ist ihre Tätigkeit als „nounou“. Als sie merkt, dass auch diese zur Disposition steht, dass Myriam und Paul jederzeit beschließen können, sich von ihr zu trennen, überfällt sie eine stille Panik. Nur ein neues Kind könne ihr jetzt noch helfen, ist ihre Überzeugung oder vielmehr ihre Obsession. Sie organisiert für Myriam und Paul einen kinderfreien Abend, in der Hoffnung, die beiden mögen ein Kind zeugen, doch der „Plan“ misslingt. Meisterhaft versteht es Slimani, die Verzweiflung zu vermitteln, die dieser naiv-hilflosen Aktion Louises zugrunde liegt. Es sind beklemmende Passagen, die dem Leser lange im Gedächtnis bleiben.

Weniger beklemmend, aber durchaus aktuell sind die Einblicke, die Slimanis Roman in das Leben (eher gut situierter) französischer Frauen erlaubt, die vielfältige Rollen vereinen: gute Mutter, erfolgreiche Karrierefrau, attraktive Verführerin, liebende Partnerin – ein volles Programm, an dem ungern Abstriche gemacht werden. Und so ist es nur folgerichtig, dass Myriams zeitweiser Rückzug aus dem Beruf als Fiasko beschrieben wird – und Louise, die vorbildliche Tagesmutter, als Rettung.

Wenn da nicht der Umstand wäre, dass Louise bei all ihrem Fleiß und Geschick mit Kindern doch einen entscheidenden Makel hat: nämlich ihre soziale Herkunft. In bestechenden Szenen schildert Slimani das Unbehagen der Eheleute, wenn diese nicht umhin können festzustellen, dass ihre „nounou“, so zuverlässig sie auch sein mag, nicht ganz den gleichen Bildungshorizont, nicht ganz die gleichen Umgangsformen, einfach nicht ganz die gleiche „Klasse“ hat wie „ihresgleichen“. Bemerkenswert an diesen Beschreibungen ist dabei, dass Slimani bemüht ist, das Unbehagen der Eltern tatsächlich ernst zu nehmen und nicht als „Luxussorge“ abzutun – weshalb man das Buch auch für seine Analyse zeitgenössischer Fragen von Kinderbetreuung und Partnerschaft gelobt hat. Klar ist aber auch, dass durch die Figur Louises ein sehr viel gravierenderes „Problem“ den Roman beherrscht.

Unklar lässt der Roman jedoch, was an Louise genau problematisch ist: ihre Herkunft oder ihre als „delirierende Melancholie“ bezeichnete „Krankheit“? Fest steht, dass man bei der Lektüre des Romans durchaus Mitleid mit Louise empfinden kann und wohl auch soll, am Ende aber ihre Tat zu schrecklich ist, als dass man dieses weiterhin empfinden könnte. Aber Chanson douce ist ja auch keine Tragödie, sondern ein Thriller…

Ein Beitrag aus der Komparatistik-Redaktion der Universität Mainz

Titelbild

Leïla Slimani: Chanson douce.
Éditions Gallimard, Paris 2016.
240 Seiten, 18,99 EUR.
ISBN-13: 9782070196678

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