Bücher ohne Ende

Betty Smiths Roman „Ein Baum wächst in Brooklyn“ über eine unersättliche Leserin

Von Liliane StuderRSS-Newsfeed neuer Artikel von Liliane Studer

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Es gibt einen Baum in Francies vermoostem Garten, er wächst dort, wo jeder andere Baum sofort absterben würde, er ist ein Baum, der die Armen liebt. Hier wohnt die elfjährige Francie zusammen mit ihrem Bruder Neeley, dem Vater Johnny und der Mutter Katie. Wir schreiben das Jahr 1912. Katie arbeitet als Hausmeisterin und hält drei Mietshäuser sauber, sie muss die Familie ernähren, denn Johnny findet jeweils nur Gelegenheitsjobs. Ein liebenswerter Kerl, ja, das ist er, aber eben auch ein Säufer. Francie und Neeley müssen mitverdienen, „Lumpensammler“ rufen ihnen die Kinder auf der Straße nach, doch was soll’s, für sie zählt nur, ein paar Pennys nach Hause zu bringen, von denen einige in die eigene Sammelbüchse wandern. Francie ist eine leidenschaftliche Leserin. Sie liest jeden Tag ein Buch, am Samstag zwei. Ihren Lesestoff holt sie in der Bücherei – es versteht sich von selbst, dass bei der Familie keine Bücher zu finden sind. Francie leiht alles aus, was die Bücherei zu bieten hat, schön dem Alphabet nach. Denn sie weiß bereits jetzt, dass lernen wichtig ist, und sie will einmal aufs College.

Über 600 Seiten begleiten wir Leserinnen diese Francie und ihre Familie, zu der auch die Schwestern von Katie und deren Familien sowie weitere Personen aus dem näheren und ferneren Umkreis gehören, durch die Jahre, erleben Rückschläge und Demütigungen, leiden mit, wenn jemand krank ist, trauern, wenn jemand stirbt, bangen und hoffen. Vor allem aber freuen wir uns mit und für Francie, dass sie mehr will, als in die Fußstapfen ihrer Mutter zu treten – ohne dass sie sie je verachten würde. Tief in ihrem Herzen wächst dieser Wunsch, Schriftstellerin zu werden. So ist denn auch Francie ein Baum; wie ein solcher lässt sie sich weder abschrecken noch zurückbinden, sondern wächst und breitet sich aus.

Betty Smith veröffentlichte ihren ersten Roman Ein Baum wächst in Brooklyn im Jahr 1943 – und er wurde sofort ein Erfolg. 1944 wurde er für den Pulitzerpreis nominiert, ein Jahr später folgte die Verfilmung von Elia Kazan, die erste deutsche Übersetzung erschien bereits 1947. 1951 gab es eine Bühnenversion, die am Broadway aufgeführt wurde. Der Roman liegt nun in einer neuen stimmigen Übersetzung von Eike Schönfeld wieder auf Deutsch vor, was zahlreiche Leserinnen und Leser erfreuen wird, die gerne sprachlich überzeugende, spannende, lebensfrohe und letztlich zeitlose Familiengeschichten lesen.

Titelbild

Betty Smith: Ein Baum wächst in Brooklyn. Roman.
Übersetzt aus dem Englischen von Eike Schönfeld.
Insel Verlag, Berlin 2017.
621 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783458177203

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