Brachvogel und Abendläuten
Menschen aus weit auseinanderliegenden Jahrhunderten werden zu „Gefährten“ im zwölften Roman der schottischen Autorin Ali Smith
Von Rainer Rönsch
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseSand (auch Sandy) Grey heißt die Icherzählerin des zwölften Romans der im Jahre 1962 geborenen schottischen Autorin Ali Smith, die für ihre „Jahreszeiten-Tetralogie“ allseits gerühmt wurde. Sand ist Künstlerin und übermalt Gedichte mit Farbschichten, so dass sie dreidimensional wirken. Für sie ist wegen Pandemie, Brexit und der allgemein unguten Situation im Großbritannien des Jahres 2021 gerade „alles Mist einer einzigen Mistigkeit“. Sogar die Wörter machen ihr keine Freude mehr, obwohl sie – wohl wie die Autorin – die Sprache ein Leben lang liebt. Ihre Empörung über das darniederliegende Land kleidet sie in bittere Ironie. Die Regierung geht großzügig mit öffentlichen Geldern um? Klar, bei der Verteilung an ihre Anhänger und Förderer. Und der gute alte „Bobby“, der britische Polizist, ist nun eine käufliche Version. „Nie gab es mehr Gaunerei als heute.“ Unverblümt wird ausgesprochen, „wie unfähig und hartherzig die Regierung Tausende Afghanen im Stich gelassen hatte“ – da könnte auch die deutsche Bundesregierung gemeint sein. Und wenn die Pandemie offiziell vorbei ist, wird trocken kommentiert, dass sich Behauptungen und Realität oft erheblich unterscheiden.
Sand bekommt einen Anruf. Nicht den erwarteten aus dem Krankenhaus, in dem ihr Vater liegt (mit einer Herzgeschichte, ausdrücklich nicht mit Covid). Am Telefon ist eine ehemalige Mitstudentin. Martina hat gleich zwei sprechende Familiennamen: ihr Mädchenname „Inglis“ erinnert an „English“, und verheiratet heißt sie „Pelf“, also Mammon, unredlich erworbenes Geld. Martina erzählt von einer schikanösen Passkontrolle am Flughafen, vor allem aber vom „Boothby-Schloss“. Das ist kein Gebäude, sondern ein Truhenschloss und ein historisch wie ästhetisch wertvolles Zeugnis jahrhundertealter Schmiedekunst. Martina, Assistentin eines Museumskurators, hat diesen Schließmechanismus von einer Wanderausstellung im Ausland nach England zurücktransportiert.
„Du entscheidest“ heißt der erste Teil des Romans. In einen Arrestraum eingesperrt, hat Martina nämlich eine Stimme gehört, die ihr die Entscheidung zwischen „curlew“ und „curfew“ abverlangte. Diese Begriffe bleiben in der deutschen Übersetzung im Original, weil keine adäquaten Entsprechungen existieren. Das erste Wort bezeichnet den zur Familie der Schnepfenvögel gehörenden Großen Brachvogel, das zweite die Sperrstunde, auch das Abendläuten. Martina ist überzeugt, dass Sand ihr die Alternative (frei wie ein Vogel oder eingesperrt) genauer deuten kann, weil sie früher immer über abseitige Dinge nachgedacht hat. Und Sand findet eine überzeugende Antwort: Man hat die Wahl zwischen der Natur und menschlicher Zeitrechnung oder zwischen der Umwelt und dem menschlichen Einfluss auf sie. Hochzufrieden kommentiert Martina, ihre Gesprächspartnerin sei dieselbe geblieben: „Treibsandy“, weil ständig in Bewegung. Diesen ihren Spitznamen hat die Icherzählerin jahrelang nicht gehört.
In einer der zahlreichen Rückblenden, wenige Stunden oder ganze Jahrzehnte umfassend, hat Sand für Martina ein Gedicht des US-amerikanischen Lyrikers E. E. Cummings interpretiert, so gründlich, dass diese zehn Romanseiten jedem Lyrikseminar zur Ehre gereichen würden. Anderswo findet sich die erfreuliche Aussage, das lyrische Ich sei nicht mehr einsam, sobald jemand das Gedicht liest oder hört. Die Rückblenden werfen vor allem Licht auf die innige Beziehung zwischen Sandy und ihrem Vater.
Der zweite Teil des Romans heißt „Curlew“, der Brachvogel kommt ins Spiel. Zunächst aber stehen zwei Zwillingsmädchen vor Sands Tür, ohne Covid-Maske. Es sind Lea und Eden, die Töchter Martinas. Sand wimmelt sie ab, doch man ahnt, sie werden wiederkommen. Unter der Zwischenüberschrift „Imagination vs. Realität“ geht es um Sands eventuelle Begegnung in ihrem Schlafzimmer mit einem zerlumpten Mädchen aus ferner Vergangenheit, das Schmiedewerkzeug und einen Brachvogel bei sich hat. Strukturell interessant, aber die Lektüre erschwerend ist die Entscheidung der Autorin, nicht eindeutig zwischen bis zur Halluzination reichenden Visionen und realem Geschehen zu unterscheiden. Dies gipfelt nach ausführlichen Schilderungen des Mädchens und des Brachvogels sowie einer sich selbst reparierenden Uhr in der alles auf den Kopf stellenden Behauptung: „Natürlich war da kein Mädchen, auch kein Vogel.“
Lea und Eden kommen wie erwartet wieder. Beide lassen sich in Sands Wohnung nieder, sie weicht in die ihres Vaters aus. In zunächst bissigen Dialogen übernimmt Sand von den Jugendlichen das Sprechen in Abkürzungen. Diese Akronyme klingen im Deutschen noch dusseliger als im Englischen (ka es = kein Stress) und führen dennoch zur Verständigung zwischen den Generationen.
Der dritte und letzte Teil, „Curfew“, beginnt mit einer langen Betrachtung über das englische Wort „hello“. Weit über die detaillierte Etymologie hinausgreifend, werden Bedeutungen vom simplen „Ist da jemand?“ bis zu einer ergreifenden Liebeserklärung formuliert.
Es folgen grausige Szenen aus dem pestverseuchten Mittelalter. Sie beginnen beim Abendläuten, dem „curfew“. Ein Schmied und seine ihm handwerklich überlegene Frau sind der Seuche erlegen. Da ist nur noch eine Dreizehnjährige, die beim Zierwerk viel von der Meisterin gelernt hat. Sie hat wohl auch das Boothby-Schloss gefertigt. Einer der „Männer, die die Schmiede für sich haben wollten“, vergewaltigt das Mädchen, nicht um der Lust willen, sondern weil Beischlaf vor der Ehe, ob freiwillig oder nicht, nach dem Gesetz rechtlos macht. In einem Graben liegend, findet das Mädchen einen kleinen Brachvogel, der fortan zwischen seiner Familie und ihr pendelt. Die Rufe dieser Vogelart sind die der ungeborenen Seelen im Himmel, die gern leben wollen.
Als der Herbst schon den Winter in den Armen hat, geht das Mädchen zur Schmiede. Der neue Schmied nimmt erschrocken Reißaus. Ein anderer bietet ihr Arbeit an, doch sie lehnt ab. Ihre Zukunft steht in vielen Fragezeichen. Wird sie mit den Gauklern mitziehen und in deren Stück auftreten? Die Erzählerin verrät ausdrücklich nichts Näheres über Mädchen und Vogel. Und lässt in zwei Sätzen die Funken zwischen Dichtung und Wahrheit fliegen wie über einem Schmiedefeuer: „Falls all das sich überhaupt zugetragen hat, falls einer von beiden überhaupt existiert hat. So oder so, beide sind hier.“
So oder so, dieser Roman ist ein Fest, für das die deutschsprachige Leserschaft auch der stilsicheren Übersetzerin Silvia Morawetz zu danken hat. Menschliches Mitgefühl mit allen Leidenden, bittere Ironie gegen böse oder unbedarfte Mächtige, überzeugende literarische Porträts vor allem von Frauen, eine kompliziert und dennoch sinnvoll verschachtelte Konstruktion und die Freude am fantasievollen Fabulieren und am Spiel mit der Sprache fügen sich zu einem Meisterwerk. Laut Ali Smith ist eine Geschichte niemals eine Antwort, sondern immer eine Frage. Ihr neuestes Buch enthält Fragen und Antworten in Hülle und Fülle.
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