Phänomenologische Renovierung
Jørgen Sneis zur Theoriegeschichte und Methodik in der Literaturwissenschaft
Von Stefan Breitrück
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDas Verhältnis zwischen Phänomenologie und Literaturwissenschaft ist auch nach mehr als einem Jahrhundert reziproker Bezugnahmen noch äußerst klärungsbedürftig. Hier setzt Jørgen Sneis mit seinem Band Phänomenologie und Textinterpretation an, bei dem es sich um eine überarbeitete Fassung seiner 2017 an der Universität Stuttgart angenommenen Dissertation handelt, wenn er sich einer Seite der gegenseitigen Befruchtung widmet, nämlich der Phänomenologie als „Bezugstheorie“ der Literaturwissenschaft. Entlang „ausgewählter Stationen“ rekonstruiert Sneis die „literaturwissenschaftliche Appropriation phänomenologischen Gedankenguts“, und zwar „mit besonderem Augenmerk auf die Interpretationstheorie“. Hinsichtlich dieser „hat es sich eingebürgert“, so Sneis, sie „danach zu klassifizieren, welche Instanz in einem pragmatischen Kommunikationsmodell (Autor – Text – Leser) für grundlegend gehalten wird“; die Studien in Phänomenologie und Textinterpretation widmen sich dabei Theoretikern, die die ganze Bandbreite des Spektrums abdecken. Flankiert von Einleitung und Schlusskapitel, gliedert sich die Arbeit in sechs Kapitel, in denen jeweils in den Blick genommen werden: Roman Ingarden, Nicolai Hartmann und Emilio Betti, Emil Staiger, Wolfgang Iser, René Wellek sowie schließlich Eric Donald Hirsch.
Sneis’ Lektüren folgen einem doppelten Erkenntnisinteresse, einem literaturwissenschaftshistorischen und einem literaturwissenschaftstheoretischen, die – hier nimmt der Autor Anleihe bei Wolfgang Stegmüller – method(olog)isch im Verfahren der „rationalen Rekonstruktion“ zusammenfallen. So beschränken sich seine Studien nicht auf Referat, Erläuterung und schulterklopfende Historiografie, die die thematisierten Denker in die Ahnenhalle verweisen. Vielmehr fühlt sich Sneis immer erkennbar dem Ziel verpflichtet, die Theorien zu reaktivieren und für gegenwärtige Debatten anschlussfähig zu machen, indem er darlegt, welche modernen Theoreme und Konzepte in diesen zwar noch nicht explizit ausgedrückt, implizit allerdings bereits angelegt sind. Sneis erweist sich dabei als ein Theorierestaurator, der die in den Blick genommenen Denker in einem ersten Schritt wohlwollend beim Wort nimmt, um sich sodann in einem zweiten Schritt als kritischer Gesprächspartner zu erweisen, sollte es auch nach Aktualisierung noch knirschen im theoretischen Gebälk.
Phänomenologie und Textinterpretation leistet dreierlei: erstens eine umsichtige Aufarbeitung der Geschichte phänomenologisch inspirierter Interpretationstheorien, zweitens eine Freilegung diachroner Korrespondenzen innerhalb dieser Theorien und drittens eine Befruchtung gegenwärtiger interpretationstheoretischer Debatten. Der zweite Punkt gelingt dabei genau deswegen, weil die einzelnen Kapitel nicht als isolierte Studien zu den respektiven Theoretikern angelegt sind, sondern vielmehr, in komparatistischer und quasi-synoptischer Façon, „direkte Einflussbeziehungen“ und „systematische Parallelen“ zwischen diesen in den Fokus rücken. Exemplarisch sei in diesem Zusammenhang auf Sneis‘ Ausführungen zur Rezeptionsästhetik Wolfgang Isers hingewiesen, welche in jüngerer Vergangenheit, im Geleit der kognitionswissenschaftlichen Konjunktur innerhalb der Literaturwissenschaften, neue Aktualität genießt und die von Sneis insbesondere in Hinblick auf ihre Begriffsanleihen aus dem Konzeptapparat Roman Ingardens gelesen wird (welcher wiederum im ersten Kapitel von Phänomenologie und Textinterpretation ausführlich aufbereitet wird).
Mit magistraler Gelehrsamkeit destilliert Sneis die interpretationstheoretisch relevanten Anteile aus den schwerpunktmäßig durchaus anders gelagerten, nämlich ontologischen respektive wirkungsästhetischen, Theoriegebäuden Ingardens und Isers, um sie sodann einem Vergleich zu unterziehen. So stehe bei beiden der Leser im Mittelpunkt, insofern dieser es sei, der einen gegebenen Text im Lektüreprozess „konkretisiert“ und so maßgeblich an der Bedeutungs- und Sinnkonstitution beteiligt ist. Bei Ingarden ist dieser Aspekt Versatzstück einer philosophischen Beweisführung für die Existenz sogenannter rein intentionaler Gegenstände, für die literarische Gegenstände zum paradigmatischen Beispiel werden. Iser übernimmt das Konzept der „Konkretisation“, adaptiert es allerdings für seine Zwecke, wenn es Teil seines Plädoyers gegen eine Perspektive der Uneigentlichkeit wird, die die eigentliche Bedeutung eines Textes jenseits des Textes, außerhalb des Textes, hinter dem Text verortet, sodass sie als etwas erscheint, dem man detektivisch auf die Spur zu kommen hätte, und nicht als etwas, dass in einer Text/Leser-Interaktion entstünde. Ingarden und Iser eint weiterhin, dass sie mit der Möglichkeit „richtiger“ und „falscher“ Konkretisationen beziehungsweise gelingender und misslingender Textkommunikation rechnen, womit sie unter der Hand – Sneis präpariert dies mit feiner Klinge heraus – ein normatives Moment einführen. Hierdurch betreten sie das Terrain der Hermeneutik, auf dem bestimmte Textdeutungen miteinander konkurrieren. Eine hermeneutische Hierarchisierung, die zwingend einen elaborierten interpretationstheoretischen Überbau fordert, welcher allerdings streng genommen – und es handelt sich hierbei um ein, insbesondere für eine Dissertation, erfreulich offensives Verdikt – weder von Ingarden noch von Iser angeboten werde, so Sneis.
Neben den Studien überzeugt auch das Schlusskapitel von Phänomenologie und Textinterpretation, in dem Sneis die interpretationstheoretischen Einsichten seiner Lektüren pointiert, systematisiert und gegen Andreas Reckwitz’ Verdikt, es handele sich bei der Phänomenologie um einen „toten Hund“, ins Feld führt. Dabei macht er die hermeneutische Relevanz der Phänomenologie auch heute noch auf drei Ebenen ansichtig: Erstens auf der Ebene der Interpretationspraxis, zweitens auf der interpretationstheoretischen und drittens auf der meta-interpretationstheoretischen Ebene. Die Befunde zur ersten Ebene nehmen sich dabei noch unspektakulär aus, wenn Sneis erklärt, dass die Phänomenologie als historischer Kontext und dass ihre Begriffe als Werkzeuge zur Textinterpretation herangezogen werden können.
Richtungsweisend wird Sneis auf der zweiten Ebene, wenn er auf die umfangreiche Arbeit phänomenologischer Theoretiker zu Konzepten wie etwa „Bedeutung“ und „Intention“ oder auf die, für den phänomenologischen Ansatz typische, „noetisch-noematische Doppelstruktur“, die (rezeptive) Bewusstseinsanalyse und (fiktionale) Gegenstandskonstitution von jeher zusammendenkt, hinweist, die einen reichen und noch längst nicht ausgeschöpften Fundus für die Modellierung von Interpretationstheorien bereithalten. Auch die mereologischen Überlegungen der Phänomenologie sind in diesem Zusammenhang zu nennen, insofern sie die Fragen nach der Einheitlichkeit und Konsistenz eines Textes, welche Bedingungen für dessen Interpretation sind, neu stellen.
Innovativ wird Sneis sodann auf der dritten, der meta-interpretationstheoretischen Ebene, wenn er seine Studien heranzieht, um die Klassifikation von Interpretationstheorien in autor-, text- oder leserzentrierte zu hinterfragen. So zeigen seine Lektüren klar und deutlich, dass die einzelnen Kategorien in sich zu heterogen sind, um Aussagekraft haben zu können, und dass sie nicht selten zentrale Gemeinsamkeiten zwischen Theoretikern verdecken. So gelten etwa die Ansätze von Eric Donald Hirsch und Wolfgang Iser gemeinhin als konträr, das heißt auf der einen Seite als autor-,auf der anderen Seite als leser-zentriert, doch stimmen sie hinsichtlich ihrer Konzeption von Bedeutung im Wesentlichen durchaus überein. Umgekehrt werden die Überlegungen Emil Staigers und René Welleks oft genug vor dem Hintergrund ihres parallelen Literaturbegriffs zusammengerückt, doch differieren sie an und für sich sehr deutlich in ihren spezifischen Interpretationsansätzen.
Jørgen Sneis’ bietet mit Phänomenologie und Textinterpretation eine imposante Monografie beziehungsweise Studiensammlung an, die sowohl demjenigen Leser, der sich umfassend zur phänomenologischen Befruchtung literaturwissenschaftlicher Interpretationstheorien informieren möchte, als auch demjenigen Leser, der sich dezidiert nur zu einem der behandelten Theoretiker neue Einsichten erhofft, absolut zu empfehlen ist. Abseits der phänomenologischen Zuspitzung überzeugen Sneis’ Ausführungen in Hinblick auf die wissenschaftstheoretische und methodologische Frage, was Literaturwissenschaft eigentlich sein soll und was die Leitplanken konsistenter Interpretationstheorien sind. In diesem Sinne stellt die Studie eine grundsätzliche fachliche Reflexion und Selbstverständigung an, die im philologischen und komparatistischen Studium nicht selten zu kurz kommt. Vor diesem Hintergrund sei die Lektüre des Buches auch fortgeschrittenen Studierenden dieser Disziplinen wärmstens ans Herz gelegt.
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