Sozialist, Reformer und Visionär

Zum 90. Geburtstag des russischen Staatsmannes Michail Gorbatschow

Von Volker StrebelRSS-Newsfeed neuer Artikel von Volker Strebel

Als Michail Gorbatschow 1985 an die Führungsspitze der damaligen Sowjetunion gerückt war, reagierte die Weltöffentlichkeit mit gemischten Gefühlen. Niemand hatte sich vorstellen können, dass die von ihm angekündigten Reformvorhaben nicht nur sein Land und Europa grundlegend verändern, sondern auch von weltpolitischer Bedeutung sein würden. Der Kalte Krieg war in der Folge seiner Politik ebenso beendet worden wie die sowjetische Herrschaft über Mittel- und Osteuropa. In produktiver Zusammenarbeit mit dem US-Präsidenten George Bush senior waren Anfang der 1990er Jahre erstmals in der Geschichte Atomwaffen nicht nur abgebaut, sondern auch zerstört worden. Zu Recht hat Michail Gorbatschow für seine historische Politik 1990 den Friedensnobelpreis erhalten.

Die von ihm und seinen Mitstreitern seinerzeit in den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangenen Schlagworte „Glasnost“ (Transparenz) und „Perestroika“ (Umbau) markierten einen völlig neuen Richtungswechsel, beinhalteten aber über kein Programm im engeren Sinne. Sie bewirkten allerdings im ganzen Land eine spürbare Änderung auf allen Ebenen. Nie zuvor hatten die Medien in der Sowjetunion derart schonungslos Fehler und Katastrophen der eigenen Geschichte und Gegenwart gebrandmarkt. Die Freigabe kritischer Meinungen ohne Folgen für ihre Vertreter führte zu einer Dynamik, die sich zusehends verselbstständigte. Da die vollkommen verkrusteten Strukturen in Politik und Wirtschaft an ihr Ende angekommen waren, die Impulse der neuen Reformideen hingegen nicht über Nacht neue Verhältnisse schaffen konnten, geriet das ganze Land in eine schwierige Situation.

Während die mittel- und osteuropäischen Staaten die historische Chance, fortan ihre eigenen Wege wählen zu können, nutzten und sich der jahrzehntelangen Kuratel des sowjetischen Machtsystems entledigten, endeten Michail Gorbatschows Reform- und Umbaupläne gegen seinen Willen in der Auflösung der Sowjetunion. In wiederholt vorgenommenen bilanzierenden Rückblicken unterstreicht er in selbstbewusster Weise, dass seine Reformpolitik in Russland eine tiefgehende Umgestaltung eingeleitet hat, die allerdings „auf halbem Weg steckengeblieben“ ist.

In unzähligen Vorträgen, Artikeln, Wortmeldungen und Publikationen wirbt Michail Gorbatschow seither für ein globales „neues Denken“ unter Einbeziehung ökologischer Herausforderungen, populistischer Entwicklungen wie auch der dialogischen Wahrnehmung weltreligiöser Traditionen. Zugleich bedauert er nachdrücklich, dass der westliche Kapitalismus es nach der Implosion des „real existierenden Sozialismus“ versäumt habe, sich ebenfalls einem tiefgreifenden strukturellen Umbau zu unterziehen, um für eine gemeinsame zukünftige Gestaltung der Welt gerüstet zu sein.

Engagiert plädiert Gorbatschow zurecht für die Sicherheit seines Landes, welches sich in der sogenannten NATO-Osterweiterung „vor vollendete Tatsachen gestellt“ sah, zumal es auch um „Nachbarn ging, mit denen uns eine jahrhundertealte gemeinsame Geschichte verbindet“. Sein Verweis auf ein „enormes außenpolitisches Gedächtnis“ Russlands blendet hingegen jenes der unmittelbaren Nachbarn aus. Das Baltikum sowie die Länder Mittel- und Osteuropas wussten gerade aufgrund ihrer vergangenen Erfahrungen nur allzu genau, warum sie dem westlichen Verteidigungsbündnis angehören wollten.

Es ist legitim, wenn Michail Gorbatschow in den letzten Jahren besonders die Politik der USA einer kritischen Analyse unterzog, es wird aber dann unglaubwürdig, wenn er versäumt, den aggressiven Charakter der russischen Außenpolitik klar zu benennen. Dass bewaffnete Soldaten, noch dazu ohne Hoheitsabzeichen, wie auf der Insel Krim geschehen, die komplette Region eines souveränen Landes besetzen, hatte es in Europa bislang noch nie gegeben.

Jener ideologische Sprung über den eigenen Schatten, welcher Gorbatschow und seinen Reformern in den späten 1980er Jahren gelang, scheint für die heutige Führungsklasse einer russischen „Kleptokratur“ in weite Ferne gerückt zu sein. Dementsprechend kennzeichnen wirtschaftliche Stagnation, maßlose Korruption und eine abenteuerliche Außenpolitik die derzeitige Situation in Russland.

Was dreißig Jahre nach dem Fall der Mauer und der Beendigung des Kalten Krieges wieder gebraucht würde, wäre ein Visionär im Kreml vom beherzten Mut eines Michail Gorbatschows der späten 1980er Jahre. Dass er für seine damaligen Leistungen zu Recht von der freien Welt bewundert und im heutigen Russland als „Verräter“ eingeschätzt wird, der den Untergang der Sowjetunion zu verantworten hat und „unsere Länder“ in Osteuropa „dem Westen“ zugeschanzt habe, bringt die tatsächliche Problematik der aktuellen Lage ungeschminkt auf den Punkt. Für Russland, für Europa und den Frieden auf der Welt.