Nicht nur einer, sondern viele
Mit „Zauberberge. Ein Jahrhundertroman aus Davos“ hat Thomas Sparr ein kurzweiliges Essay zur Vielfalt von Thomas Manns Roman vorgelegt
Von Anne Amend-Söchting
Zum hundertjährigen Zauberberg-Geburtstag am 28. November 2024 sind einige direkte sowie indirekte literarische Bezugstexte erschienen – 2023 bereits Olga Tokarczuks Empusion, 2024 Heinz Strunks Zauberberg 2 und Thomas Ohlers Der Zauberberg. Die ganze Geschichte. Neben Tokarczuks und Strunks fiktionale Variationen zu Thomas Manns opus magnum tritt bei Ohler ein historiographischer Text mit autofiktionalem Hintergrund.
Während Ohler die wechselhafte Geschichte des Lungenkurortes Davos nachzeichnet, bleibt Sparrs Zauberberge kommentierend auf Thomas Manns Roman bezogen. Das Essay geht auf einen Vortrag zurück, den der Autor am 23. Februar 2024 gleich zweimal in Davos gehalten hat.
Er wolle den Zauber nachverfolgen, den er beim ersten und ebenso beim erneuten Lesen von Thomas Manns Roman verspürt habe, so Sparr in seinem Vorwort. Nach einem Blick auf den Ort Davos und damit auf die „Geographie der Entstehung des Romans“ werde er ein „Alphabet des Zauberbergs“ entwerfen. Sein Buch ende mit dem Kapitel „La montagne magique“, das einige Übersetzungen des Romans fokussiere.
Thomas Mann war zum ersten Mal 1912 in Davos, als er seine Frau Katia, 1912 und 1914 an einem Lungenspitzkatarrh erkrankt, dort besuchte. Seine zweite Reise in den Ort unternahm er im Winter 1921, als „die Idee seines neuen Romans schon eine Inkubationszeit von nahezu zehn Jahren hinter sich“ hatte. Mann schreibt vom „Aufenthalt in der lange vergeistigten Wirklichkeit“. Diese werde nun, führt Sparr aus, mit der Realität in Davos konfrontiert – mit der traumhaft schönen, verschneiten Landschaft und den Menschen, die ihm darin begegnen. Im Zuge der Genese seines Romans habe Thomas Mann mit der vergeistigten und der realen Wirklichkeit gezaubert. Herausgekommen sei ein oftmals verspieltes fiktionales Universum, in dem sich die Wirkmacht der „Fabulierlust“ und die „Freude an der Abschweifung“ manifestierten.
Das „eigene Alphabet“ des Romans umfasst die folgenden Einträge: Ankunft, Bleistift, „Civilisationsliterat“, Demokratie, Erfinden, Figuren, Gesundheit, Humanität, Ironie, Juden, Krieg, Lukács, Musik, Namen, Opulenz, Politisch, Queer, Religion, Schnee, Tod, Unpolitisch, Vorsatz, Weimar, X-Chromosomen, Y-Chromosomen und Zauberberge. Die Einträge sind unterschiedlich lang und enthalten ausnahmslos eine wohldosierte Melange aus Zauberberg-Zitaten und analytischen Kommentaren dazu. Während einige Begriffe – auch dann, wenn man sich bislang nicht intensiv mit dem Zauberberg auseinandergesetzt hat – unmittelbar Erinnerungen und/oder Assoziationen wecken, erscheinen andere intransparenter. Was hat es zum Beispiel mit dem Bleistift auf sich? Das ist jener, den sich Hans Castorp von Madame Chauchat ausleiht. Als sie ihn in französischer Sprache auffordert, die Rückgabe nicht zu vergessen, transformieren sich ihre Augen in die eines früheren Klassenkameraden von Hans Castorp, Pribislav Hippe. Dies sei „eine Art zweifachen Verliebens“. Im Verlauf des Romans mutiere der Bleistift zu einem „Leitmotiv“; unter anderem inhäriere ihm „eine Anspielung auf die Vereinigung, in Bildern, die zwischen hetero- wie homosexuellen Andeutungen schwanken“.
Die Ausführungen zum Bleistift korrespondieren mit den Bemerkungen zu Queer. Wenn in der Wahrnehmung Hans Castorps die Augen der Personen wechseln, lasse das „die Geschlechter konfundieren“. Man könne nicht sagen, wen Hans Castorp mehr begehre, den Schulkameraden oder die ältere Frau. Für Thomas Mann, so folgert Sparr, seien die Label Heterosexualität (nenne er nie) und Homosexualität (umschreibe er mit vielen Worten und Bildern) unzulänglich. „Das Triebleben eines Menschen“ lasse „sich für ihn erzählen, aber nicht definieren. Der Zauberberg sei „der erste queere Roman – avant la lettre“.
Eine Reihe der Mini-Kapitel beschäftigen sich mit dem politischen Gehalt des Romans. Neben den entsprechenden Adjektiven (politisch – unpolitisch) drängt sich der „Civilisationsliterat“ in den Vordergrund. Ihn habe Thomas Mann in den Betrachtungen eines Unpolitischen – eine Schrift, von der er sich später distanziere – als Gegenfigur zum „Unpolitischen“ konstruiert. Im Zauberberg komme der „Civilisationsliterat“ mit Settimbrini wieder vor.
Der Zauberberg sei zuerst und vor allem insofern ein demokratischer Roman, als in ihm „alle Stimmen gehört werden“. Der lebendige Diskurs, die Auseinandersetzung, tauche im Roman als „Kernelement der Demokratie“ auf. Demokratie überschneide sich mit Humanität, die nicht mit einem Humanismus verwechselt werden dürfe, der sich „aus dem Mund Settembrinis“ ideologisch verenge. Im Roman sei Gesundheit „so etwas wie die leibliche Seite von Demokratie“, wie Thomas Mann sie verstehe: „als Ausdruck von Mitte und Mäßigung“. Diese Konzeption schlage ins fratzenhafte Gegenteil aus, wenn Mann in einer Szene mit dem Titel „Die große Gereiztheit“ einen Herrn Wiedemann auftreten lasse, der sich mit einem jüdischen Patienten, Herrn Sonnenschein, prügle. Mit Wiedemann habe er „ein frühes Bild des antisemitischen Wutbürgers gezeichnet“.
Die Frage, welche Position Thomas Mann im misogynen Diskurs seiner Zeit bezieht, ist nicht endgültig geklärt. Das, was Hans Castorp beispielsweise zu Mynheer Peeperkorn sage – Frauen seien „reaktive Geschöpfe, ohne selbständige Initiative, lässig im Sinne von passiv“ –, könne Positionen der Zeit spiegeln oder auch mit Manns Meinung identisch sein. Nur eine einzige Frau, so das Ergebnis des kurzen Eintrags zu „X-Chromosomen, Y-Chromosomen“, nämlich Clawdia Chauchat, sei plastisch gezeichnet. Alle anderen Frauen blieben konturenlos; sie kämen nicht über den Status von Nebenfiguren hinaus.
Mit einer locker-erfrischenden und niemals wissenschaftlich verschwurbelten und verbrämten Herangehensweise macht Thomas Sparr einen der wichtigsten Romane der Weltliteratur nahbar. Der Autor beleuchtet nicht nur prominente Themen des Romans, sondern gleichermaßen, zwar weniger intensiv, die sprachlich-formale Seite des Texts. Die Einträge „Erfinden“ und „Figuren“ involvieren die produktionsästhetische Seite. Thomas Mann finde mehr, als dass er erfinde; so etwa gebe er zeitgenössische Lehrmeinungen wieder, indem er sie „durch seine Figuren aufeinanderprallen“ lasse. Überhaupt sei die „Plastizität seiner männlichen Figuren, besonders die im Zauberberg“, mit die „größte Stärke“ von Thomas Mann.
Ein durchgängiges ästhetisches Prinzip sei die Ironie. Sparr würdigt das Procedere als „so überwölbend“ und „prägend“, dass man ihm „kaum mit einzelnen Anmerkungen oder Beobachtungen beikommen“ könne. „Thomas Manns Ironie setzt auf Widersprüche, legt sie frei“.
Darüber hinaus seien die meisten Namen der Figuren sehr kraftvoll. Ein besonderes Beispiel sei Mynheer Peeperkorn. „Allein durch seinen Namen“ trete er „vors Auge der Lesenden“.
Im kurzen „Vorsatz“ des Romans bringe Thomas Mann eine „Absichtsbekundung“ vor und plädiere „für eine epische Zeitform“. Castorps Geschichte, so der Autor selbst, sei „ganz mit historischem Edelrost überzogen und unbedingt in der Zeitform der tiefsten Vergangenheit vorzutragen“.
„Der Zauber des Zauberbergs ist zuerst die stillgelegte Zeit“ – das konstatiert Sparr im letzten ABC-Eintrag, „Zauberberge“. Obgleich er dabei mehrfach auf das Phänomen Zeit eingeht, hätte es eigentlich eines eigenen Eintrags bedurft. Bedauerlicherweise war „Z“ bereits vergeben…
Alles in allem hat Thomas Sparr eine sehr ansprechende, gar packende Phänomenologie rund um Thomas Manns Zauberberg vorgelegt, ein Sammelsurium im besten Sinne, in der Tradition des Abecedariums stehend. Der Autor punktet mit Werkimmanenz, indem er seinem eigenen Text prägnante Zitate aus dem Zauberberg so eingestaltet, dass sich ein organisches und kohärentes Ganzes ergibt.
Auf diese Weise wird ein überwältigendes Werk so gefeiert, wie es ihm gebührt: Das Essay macht mit seiner kritischen Laudatio neugierig aufs Lesen oder Wiederlesen. Es verdeutlicht zudem, dass die Lektüren nie erschöpfend sein können, denn die hermeneutische Skala des Epischen ist nach oben offen und birgt eine schier unerschöpfliche Virtualität an Sinn und/oder Nicht-Sinn.
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