Imagination, symbolischer Raum und doch (nicht) mehr?
Theresa Specht stellt den „Baumgarten im höfischen Roman“ als tragfähiges Stilmittel vor
Von Jörg Füllgrabe
Bäume und Wälder kommen in der gegenwärtigen Wahrnehmung in erster Linie hinsichtlich ihrer Bedeutung für das Klima bzw. explizit als CO2-Speicher vor. Sie gelten allgemein als Erholungsräume, die eine Flucht aus der postmodernen Leistungsgesellschaft ermöglichen. Implizit mögen in diesem Zusammenhang auch naturromantische Aspekte eine Rolle spielen, die jedoch oft genug vom Orkan klimapolitischer Hitzigkeit übertönt werden und damit weniger Aufmerksamkeit erfahren.
Anders sieht es in der Vormoderne aus, in der – neben der ebenso wie heute selbstverständlichen Nutzung von Natur und Naturräumen für die Wahrnehmung und Konfrontation durch die Menschen – zunächst auch mythische Komponenten eine Rolle spielten, wobei diese Konstanten in einen artifiziellen, literarischen Kontext transferiert wurden. Denn der Baum steht weder isoliert noch in von Menschen unberührter Wildnis da, sondern er ist gezähmt, eben in einem Garten. Der Garten im Allgemeinen ist in gewisser Hinsicht ein Übergangsraum zwischen Wildnis und menschlicher Kultur, gefährlich, aber nicht zu gefährlich. Und dass er den Menschen zu sich selbst zu bringen vermag, ist spätestens seit den Ausführungen Walahfrid Strabos zu seinem Hortulus in der europäischen Kulturtradition verankert.
Aber ein Baumgarten ist eben doch etwas ganz anderes. Wo im Garten antiker Prägung der Aspekt des Innehaltens und damit zumindest mehr oder minder Erholung gegeben ist, sind im Baumgarten andere Schwerpunkte gesetzt. Dieser ist ein gefährlicher Ort beziehungsweise Raum, denn, so leitet Theresa Specht in ihrem vorliegenden Werk bereits ein: „Erholung ist im boumgarten kaum jemandem vergönnt. Ruhe sucht man meist vergebens und findet man sie, ist sie der Vorbote eines Konflikts.“ Die Ruhe ist mithin trügerisch, eine Selbstfindung in der beziehungsweise durch die Natur findet im – literarisch definierten und wirksamen – Baumgarten nur dahingehend statt, dass sein Changieren zwischen Natur und Kultur Brüche nachweist und Konflikte ausbrechen lässt.
Diesen Ambivalenzen ist Spechts Buch Der Baumgarten im höfischen Roman gewidmet. Die für die Definition des Baumgartens notwendige Grenze wurde in gewisser Hinsicht auch auf Projekt und Buch übertragen, denn die Publikation bietet mithin „in Form eines close reading eine systematische Analyse ausgewählter Baumgärten, die im höfischen Roman zu entscheidenden Räumen der Handlung werden“. Dies erfolgt in drei vorbereitenden Kapiteln, bevor im Analyseteil einzelne Werke und deren Baumgärten in den Blick genommen werden.
Zunächst bietet Theresa Specht unter dem Obertitel „Auf der Schwelle“ eine Paraphrase, in der knapp allgemein Gärten in Kulturtradition und explizit Literatur ausgewiesen werden, dann der Garten in der mittelalterlichen Literatur in den Blick genommen wird, bevor der Fokus auf das Spezifikum des „Baumgarten in der höfischen Literatur“ gelenkt wird. Eine mögliche inhaltliche Verbindungslinie zur Funktion der Baumgärten in der höfischen Literatur wird über die biblische Tradierung des Garten-Topos entwickelt, in dem erotische Motivik zumindest implizit eine Rolle spielt; ein Element, das für Idee und Funktion des Baumgarten-Motivs in vielerlei Hinsicht produktiv ist. Dass mit Blick etwa auf den Rosengarten zu Worms durchaus Ambivalenzen und Brechungen sowohl des ‚Traditionsgartens‘ als auch der höfischen Etikette betrachtet werden, erweitert den Einstieg um eine weitere Ebene. Für den eigentlichen Baumgarten ist dies, so scheint es zumindest den Ausführungen der Verfasserin zu entnehmen, jedoch nur bedingt relevant. Es geht darum, den Baumgarten in seiner Vielschichtigkeit, die über eine bloße Kulissenfunktion hinausweist, als prägenden Faktor der entsprechenden mittelalterlichen Texte zu begreifen.
Das folgende Einführungskapitel untersucht die „Narrative Erzeugung von Raum“. Dabei wird zunächst kurz auf die Forschungsgeschichte eingegangen, die Frage nach den „Modi von Räumlichkeit“ gestellt und mit Bezug auf den französischen Philosophen Michel de Certeau und seine Alltagskulturgeschichte Unterschiede oder auch Überschneidungen der Definitionen von ‚Ort‘ und ‚Raum‘ vorgestellt, die gewissermaßen als ein der Orientierung dienendes Netz über die zu untersuchenden Texte gelegt wird. Dieses Kapitel abschließend stellt die Autorin ihre „Vorhaben und Fragestellungen“ dar, in denen es darum gehen wird, die Elemente einer Raumerzeugung im Allgemeinen mit den Spezifika des boumgarten zu verknüpfen, und explizit auch darum, die höfisch-literarischen Baumgärten hinsichtlich einer „sprachlich-narrativen Raumerzeugung von Räumen des höfischen Bleibens“ in den Blick zu nehmen.
In den „Strategien der Raumerzeugung“ schließlich werden Aspekte der „deiktischen Prozeduren“, „Blicke“ sowie „kinästhetische Bewegungen“ als Komponenten nicht nur der Generierung von Räumen, sondern – das ist eben hinsichtlich ihrer Funktion innerhalb der Literatur von besonderer Relevanz – als Orientierungshilfen definiert. Damit ist zum einen ein tragfähiges Fundament gesetzt, zum anderen aber auch, um im Bild zu bleiben, ein aufstrebender Rahmen geboten, innerhalb dessen die Inszenierung des Baumgarten als natur-kultureller Komponente und der ihn aufsuchenden respektive nutzenden Protagonistinnen und Protagonisten erfolgen kann, der boumgarten also mithin hinsichtlich seiner Inszenierung und Funktionalisierung als für die Romanhandlung polyvalenter Schwellenraum vorgestellt und untersucht wird.
Dies erfolgt unter dem Großkapitel „Analysen“, das der Anwendung der vorangestellten Parameter und Untersuchungsschritte auf prominente Beispiele aus der höfischen Literatur dient. Dass Theresa Specht in diesem Zusammenhang sich zum einen auf einen überschaubaren Textkorpus beschränkt, zum anderen auch nicht auf die Suche nach ‚exotischen‘ Beispielen zum Vorkommen von Baumgärten geht, ist bezogen sowohl auf die Übersichtlichkeit als auch auf die Rezeptionsfreundlichkeit nicht ungeschickt. So wird ein Quartett von vier relevanten Autoren samt ihren Texten vorgestellt, die hinsichtlich ihrer Baumgärten untersucht werden. Im Einzelnen sind dies Gottfried von Straßburg (Tristan), Hartmann von Aue (Erec), Konrad Fleck (Flore und Blanscheflur) sowie Konrad von Würzburg (Engelhard).
Dabei werden die herangezogenen Werke neben einer allgemeineren Darstellung auch unter unterschiedlichen Schwerpunkten betrachtet. Gottfrieds Tristan etwa ist – wenig überraschend – den „Taktiken der Intimisierung“ gewidmet, Hartmanns Erec den „Taktiken der Exklusion“, während Konrads Engelhard hinsichtlich der „Taktiken der Immunisierung“ in den Blick genommen wird. Einzig Konrad Flecks Flore und Blanscheflur weicht, was die Überschrift betrifft, insofern ab, als hier keine Taktiken untersucht werden, sondern „Paradigmatisches Auserzählen“ im Fokus steht.
Die Ergebnisse laufen auf eine letztlich nicht zu vermeidende Instabilität der Baumgärten hinaus. Für den Tristan ist dies hinsichtlich etwa der vermeintlichen Sicherheit einer im höfischen Kontext nicht tragfähigen, also gewissermaßen naturgewaltigen Liebe der Fall; für den Erec gilt dies bezogen auf die letztendlich systemerhaltende Akzeptanz und Befolgung höfischer Erwartungshaltungen, die den Baumgarten zu einem – in diesem Zusammenhang doch höchst fragwürdigen – vorübergehenden Ort der Flucht machen. Und auch die komplexe Vielfalt des Topos im Erzählkontext von Flore und Blanscheflur ist trotz aller anklingenden, bisweilen paradiesisch anmutenden Unschuld ebenso wenig von Dauer, wie dies für das adäquate Konstrukt im Engelhard der Fall ist. Die ‚Parallelwelt Baumgarten‘ liegt demnach nicht jenseits des Ereignishorizontes, und auch wenn die ‚Welt‘ vermeintlich außen vor bleibt, sind die Protagonistinnen und Protagonisten letzten Endes doch nicht in der Lage, dieser zu entfliehen, was in diesem Zusammenhang auch einfach heißt, dass sie ohne die Regulative bietenden höfischen Strukturen verloren scheinen. Also nicht nur das ‚Außen‘, sondern auch das ‚Innen‘ zwingen die Flüchtigen in eine durch einschränkende Regularien dominierte Lebenswirklichkeit zurück, der sie eigentlich zu entkommen trachteten.
Dies deutet – wie auch in den Schlussbetrachtungen nochmals verdichtet aufgegriffen – darauf hin, dass auch literarische Weltflucht schließlich chimärenartigen Charakter hat. Wichtig und beständig ist in diesem Zusammenhang der allfällige Verweis auf die sowohl im literarisch-kulturellen Kontext als auch in der letztlich implizit mitzudenkenden gesellschaftlichen Wirklichkeit systemische Brüchigkeit. Baumgärten sind mithin, egal wie konkret gedacht und beschrieben sie erscheinen mögen, keine Orte von Dauer, keine Paradiese gesellschaftlicher Fluchten, sondern von höchster Fragilität. Zumindest aber stehen diese Fluchtorte mit der gesellschaftlich relevanten Welt, also den höfisch geprägten Strukturen, in steter Wechselwirkung, denn „abgegrenzt vom Hof gehören der Baumgarten wie auch das dortige Geschehen doch zum Hof“.
Wenn Theresa Specht dann aber abschließend hinsichtlich des Verhältnisses zwischen eben Hof und höfischer Struktur und dem Fluchtort Baumgarten und den Entwicklungen sowie Ereignissen dortselbst formuliert, diese (Baumgarten und dortige Handlung) „behaupten sich gegen ihn, stellen ihn in Frage und fordern ihn heraus“, widerspricht sie in gewisser Hinsicht den eigenen Zwischenergebnissen. Infragestellung und Herausforderung mögen zwar Bestand haben, aber sowohl der Ort als auch die dorthin geflohenen Protagonistinnen und Protagonisten können sich auf Dauer nicht gegen die Welt behaupten; die gesellschaftliche Wirklichkeit obsiegt im Roman wie im Leben.
Das in vielerlei Hinsicht – Bindung, Umfang, Übersichtlichkeit – griffige Buch besticht bereits am Anfang nicht zuletzt durch die klare Fokussierung der Autorin, die in ihrer mehrfach untergliederten Hinführung (bisweilen fast zu) knapp die Parameter aufweist, unter denen die Fragestellungen an die Texte erfolgen. Auch die gewählten Beispiele sind insofern schlüssig, als sie nicht bloß aufgrund ihres Status als Klassiker der höfischen Literatur bekannt sind, sondern auch die Konstruktion des natur-kulturellen Baumgartens und seiner dramaturgischen Relevanz geläufig ist. So finden sich die Bezüge zu bekannten Textpassagen und den damit einhergehenden Konnotationen, die es Leserinnen und Lesern ermöglichen, die vorgestellten Argumentationsgänge zu verfolgen und diese zu bejahen, zu hinterfragen oder gegebenenfalls in eigenen Projekten weiterzuverfolgen. Der Nachweis der in angemessenem Umfang herangezogenen Primär- wie Sekundärliteratur (und auch der beiden Abbildungen) sowie ein knappes Register runden das Werk ab, das insgesamt – nicht zuletzt auch aufgrund des impliziten Potenzials – lesenswert ist, auch wenn der hohe Preis definitiv schmerzen wird. Und womöglich findet sich in Form der Lektüre doch ein der Leserin oder dem Leser eigener Baumgarten, der trotz oder vielleicht gerade wegen der realen Welt als Schutzraum Bestand haben möge.
Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg
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