Unzufriedene, zumeist weiße junge Männer

Der Sammelband „Rechte Egoshooter“ durchwandert die düstere Faktenlage zum neueren Phänomen rechtsextremer Einzeltäter

Von Kai SammetRSS-Newsfeed neuer Artikel von Kai Sammet

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Dieser Tage, am 21. Juli 2020, begann in Magdeburg der Prozess gegen Stefan B., der u.a. des zweifachen Mordes und mehrfachen versuchten Mordes angeklagt ist. Stefan B. soll versucht haben, am 9. Oktober 2020 – an Jom Kippur –, dem höchsten jüdischen Feiertag, einen Anschlag auf die Synagoge in Halle zu verüben. Er wollte in das Gotteshaus eindringen und dabei möglichst viele Besucher töten. Die Tür hielt stand, B. erschoss auf seiner Flucht eine Passantin sowie einen jungen Mann in einem Döner-Imbiss. Die Anklageschrift attestiert B. eine verfestigte antisemitische, rassistische sowie insgesamt fremdenfeindliche Gesinnung, sie liege seiner Tat zugrunde. Das psychiatrische Gutachten, das von einer vollen Schuldfähigkeit B.s ausgeht, diagnostizierte eine narzisstische Persönlichkeitsstörung mit autistischen Zügen.

Da kommt diese überaus instruktive Publikation, herausgegeben von den beiden Journalisten Jean-Philipp Baeck und Andreas Speit, gerade zur richtigen Zeit: auf knappem Raum wird man fast umfassend informiert.

Baeck und Speit skizzieren zuerst das neuere Phänomen rechter Einzeltäter. Allerdings stehen die Taten des Attentäters im neuseeländischen Christchurch, der im März 2019 51 Menschen in zwei Moscheen tötete (und den sich Stefan B. zum Vorbild nahm), ein Angriff auf eine Synagoge in Kalifornien, ein Anschlag auf Einwanderer in El Paso sowie weitere in enger, wenn auch virtueller Verbindung. Ob jüdische oder islamische Gläubige, Migranten oder Frauen ins Visier genommen werden: stets beziehen sich die Attentäter auf ihre Vorgänger, wobei der Norweger Anders Breivik als eine Art role model oder Prototyp fungiert.

Es handelt sich um junge, rechtsextrem eingestellte Männer, die „geprägt sind von einer sozial abgestumpften Internet-Subkultur“, sie sind in sogenannten Imageboards, 8chan oder 4chan oder einem Unterforum, Meguca, unterwegs und stehen in enger Verbindung zur Gamer-Szene. Die nach Möglichkeit live gestreamten Taten sollen die Stärke des Täters und Brutalität gegenüber möglichst vielen Opfern jenen zeigen, mit denen sich die oft einzelgängerischen Täter verbunden fühlen. Diese Imageboards sind keine Minderheitenprogramme Rechtsextremer, auch wenn sich dort Rassismus und Antisemitismus zuhauf finden; 4chan etwa hat 27 Millionen Besucher pro Monat. Soziale Medien spielen also eine „wesentliche Rolle bei der Verbreitung des Rechtsextremismus“.

Die verhandelten Inhalte sind nicht neu. Antisemitismus, Antiislamismus, Rassismus gehen die üblichen Verbindungen ein. Es wird von einer jüdischen Weltverschwörung gefaselt, vom großen „Bevölkerungsaustausch“. Ein zentraler Aspekt ist überdies eine vermeintlich bedrohte Männlichkeit, ganz so wie der AfD-Politiker Björn Höcke schon 2015 monierte: „Nur wenn wir unsere Männlichkeit wiederentdecken, werden wir mannhaft. Und nur wenn wir mannhaft werden, werden wir wehrhaft.“ Dabei sieht sich der (weiße) Mann einer doppelten Bedrohung gegenüber. Seine Natur als aggressiv-viriles Rudeltier wird in Frage gestellt. Neue emanzipierte Frauen hinterfragen seine Vorherrschaft.

Stefan B. produzierte ein „Manifest“, das ein „spiritueller Führer für unzufriedene weiße Männer“ sein sollte. Darin heißt es: wer einen Juden töte, bekomme zur Belohnung ein Cat-Girl, ein „weiblicher Anime-Charakter“, eine Art „fiktive Traumfrau, die dem männlichen Fan völlig ergeben ist“. Über Jahre hinweg wühlte sich Stefan B., der schon iin seiner Kindheit als Einzelgänger galt und jetzt, als 28jähriger, immer noch bei seiner Mutter wohnte, in eine abgeschlossene Welt des Hasses, der Verschwörungstheorien, vermeintlicher Kränkungen und Tötungsfantasien hinein.

Viele der neueren Egoshooter zählen sich zu den sogenannten Incels (involuntary celibates), d.h. unfreiwillig ohne Beziehung lebende junge Männer, die Frauen die Schuld an ihrer Misere geben. Auf Incels.co gibt es 50.000 Mitglieder, zwei Drittel davon sind unter 25. B. zum Beispiel gab als Grund für seinen Anschlag auch den Feminismus an. Dieser führe zu rückläufigen Geburtenraten, was Masseneinwanderung zur Folge habe, schuld sei ‚der Jude‘.

Das Welt-, Frauen- und Männerbild der Incels ist dichotom und von schlichten Identitätszuschreibungen gekennzeichnet. Dabei sind Incels alles andere als von Höckescher germanischer Wehrhaftigkeit, sie sind zutiefst selbstmitleidig, sehen sich als nicht attraktiv genug, Frauen seien oberflächlich. Das verbindet sich mit hedonistischem Anspruchsdenken. Der Attentäter Elliot Rodger, der 2014 sechs Menschen tötete, wollte u.a. Rache „üben an allen Frauen, die sich mir verweigert und mir Liebe und Sex entzogen haben“, wobei Sex als Grundrecht des Incels aufgefasst wird. Incels wären gern Chads, ungefähr 20% der Männer, die alle Frauen ‚abkriegen‘. Frauen wiederum dächten permanent nur daran, mit einem Chad Sex zu haben. Dabei sei erwähnt, dass Elliot Rodgers Mutter aus Malaysia stammt. Aufgrund seines Aussehens soll er an Minderwertigkeitskomplexen gelitten haben. Er wollte als ‚Weißer‘ erscheinen. Das neuere Phänomen der (rechten) ‚Egoshooter‘ wird also zwar von ‚weißen‘ jungen Männern dominiert, es ist aber komplexer. Überdies darf nicht vergessen werden, dass islamistische Attentäter, die u.a. aus dem arabischen Raum stammen, in ihrem Frauen- und Männerbild kaum weniger verachtend sind als ihre ‚weißen‘ Pendants.

Rechtsextremismus folgt den alten klassischen Hierarchisierungen und stereotypen Dichotomien: Rasse, Klasse, Geschlecht (wobei interessanterweise auch bei den Neurechten die Klasse zur Zeit kaum eine Rolle spielt). Dabei gibt es die Verkopplung zweier alter Feindbilder: Jude und Weiblichkeit werden kurzgeschlossen, beide sind die „Konstruktion des internen Anderen“ in der eigenen Kultur, durch die die hegemonial-rechtsextreme Männlichkeit bedroht werde.  

Als B. seine Tat streamte, schienen anfangs wenige User live zugesehen zu haben. Deren Kommentare zeigen „eine kühle Mischung aus Neugier, Faszination und Gleichgültigkeit“. Stefan B. selbst wurde als Versager gesehen, da ihm ja sein ursprüngliches Vorhaben nicht gelang – wiederum eine dichotome Zuschreibung, die nur Gewinner und Verlierer kennt.

Wie erwähnt besteht eine enge Verbindung zu gewalttätigen Computerspielen. Zweifelsohne gibt es keine allumfassende Erklärung bezüglich des Zusammenhangs von Killerspielen und tatsächlichem Terror. Gleichwohl, die „Gamification“ des Hasses lässt Gewalt als Spiel erscheinen. Nicht vergessen werden darf, dass soziale Medien kommerziell davon leben, „Menschen so lange wie möglich auf der Plattform zu halten. Dies geschieht nicht durch die Ausspielung besonders gut recherchierter Fakten oder respektvoller Diskussionen, sondern durch die bevorzugte Anzeige emotionaler oder skandalöser Äußerungen“. 

Die Gamer-Szene selbst wiegelt ab. Die Kritik der Gamer an Versuchen,  näher beleuchtet zu werden, klingt wie die Verteidigungsstrategie der amerikanischen Waffenlobby: „Nicht Videospiele seien das Problem – sondern der Rechtsextremismus hinter der Tat.“ Selbstverständlich wird nicht jeder, der Killerspiele spielt, Killer. Aber es gibt doch einige Auffälligkeiten, so zum Beispiel der pseudo-ironische Ton. Hier ist alles cool, nichts wirklich ernst gemeint, die wollen ja nur spielen. Das Netzwerkdurchsetzungsgesetz schreibt sozialen Netzwerken die Löschung strafbarer Inhalte binnen 24 Stunden vor. Doch dieses Deplatforming führt u.a. dazu, dass potentiell rechte ‚Follower‘ direkter via Messengerdiensten angesprochen werden, um sie zu werben und zu radikalisieren.

Psychologische Faktoren spielen eine Rolle. Es geht hier nicht um die exkulpierende Pathologisierung von Antisemitismus und Menschenverachtung. Gleichwohl: bei Stefan B. wurde, wie erwähnt, eine narzisstische Störung diagnostiziert. Elliot Rodger, der Täter von Isla Vista, war langjährig in psychiatrischer Behandlung. Doch leben diese Täter nicht auch davon, dass Antisemitismus, Fremdenfeindlichkeit irgendwie auch hoffähig sind und bis weit in die Mitte der Gesellschaft reichen?

Zumindest lässt sich weiterhin „politische Ignoranz“ gegenüber Terror von rechts konstatieren. Das gilt insgesamt wie auch mit Bezug auf die genauere Durchleuchtung des Internets oder der Internetaktivitäten Rechtsextremer. Zum Beispiel bestand wenig Interesse, mögliche Vernetzungen des NSU näher zu untersuchen. Dessen digitale Aktivitäten wurden während des NSU-Prozesses ignoriert. Der zuständige Richter sah darin „keinen Aufklärungsgewinn“.

Erneut: hier handelt es sich um eine wichtige Publikation, die kompakt und stets gut informiert über die desolate Lage des neueren Phänomens rechter Einzeltäter berichtet. Ihr sind viele Leser*innen zu wünschen.

Titelbild

Andreas Speit / Jean-Philipp Baeck (Hg.): Rechte Egoshooter. Von der virtuellen Hetze zum Livestream-Attentat.
Ch. Links Verlag, Berlin 2020.
240 Seiten, 18,00 EUR.
ISBN-13: 9783962890766

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