Vom Interpretieren jenseits ausgetretener Pfade
In seiner Monografie bietet Sebastian Speth neue Ansätze für das Verständnis des frühneuhochdeutschen Prosaromans und seiner Überlieferungsformen
Von Robin Kuhn
Welche Erniedrigungen haben sich die vielfältigen volkssprachlichen Texte des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit nicht bereits schon von Seiten einer allzu sehr auf die großen Versepen der hochmittelalterlichen Blütezeit fokussierten Mediävistik anhören müssen? Ohne jeglichen besonderen literarischen Wert seien sie, epigonal ohnehin, kurzum: für die germanistische Literaturwissenschaft im Wesentlichen irrelevant. Obwohl sich dieses starre Bild mittlerweile zum Glück größtenteils gewandelt hat und sich besonders der deutsche Prosaroman in vielerlei Aufsätzen und Forschungsprojekten nachhaltiger Beliebtheit erfreut, so wirkt die traditionalistische Sichtweise doch immer noch in vereinzelten Ausläufern nach. Umso wichtiger sind daher stets aufs Neue groß angelegte fachspezifische Untersuchungen wie etwa von Sebastian Speth, der mit Dimensionen narrativer Sinnstiftung im frühneuhochdeutschen Prosaroman nun eine überarbeitete Fassung seiner umfangreichen Dissertation vorlegt. Darin weist er nicht nur nach, wie eng und komplex die Texte mit ihrem Entstehungsumfeld verflochten sind, sondern er „verhilft denjenigen Elementen zu ihrem Recht, die in Lachmann’scher Tradition als ‚Verbesserungssucht‘ der Schreiber, ‚Faulheit‘ oder bloß ‚verlegerische‘ Geschäftstüchtigkeit der Drucker ignoriert oder […] weginterpretiert werden“.
Was bedeutet dies genau? Speth wehrt sich gegen eine Sichtweise, die allein den (potenziellen) Urtext eines Werks in den Blick nimmt oder die die unterschiedlichen Varianten eines Textes im Sinne der new philology „unterschiedslos vergleichgültigt“. Stattdessen geht er von einer „überlieferungsgerechten Interpretation“ aus, die dann erfüllt ist, wenn sie die große Varianz der Überlieferungsträger angemessen berücksichtigt – dazu zählen neben inhaltlichen Anpassungen auch Veränderungen in der Textstruktur oder Paratexte wie Vor- und Nachreden. Diese gilt es gesondert herauszuarbeiten, um das Werk in seinem zeitlichen Kontext greifbar und verständlich zu machen.
Das bloße Prinzip einer solchen „Textgeschichtliche[n] Interpretation“, wie es im Untertitel der Monografie heißt, mag an sich nichts fundamental Neues sein, doch suchen die Betrachtungen von Speth an Systematik und Gründlichkeit zum gegenwärtigen Zeitpunkt zweifellos ihresgleichen. Vorab sei daher auch angemerkt, dass hier unmöglich auf alle Themenkomplexe eingegangen werden kann, die in dem Buch eröffnet werden. Jedoch lässt sich ein erster Überblick zeichnen, der die wahren Ausmaße des Textes auf dem weiten Feld von Interpretation und Literaturtheorie zumindest andeutet.
Für sein Vorhaben unterteilt Speth die Arbeit in drei große Kapitel: Nach einer kurzen Skizzierung seines Gesamtprojekts nimmt er sich zunächst des Fortunatus an, indem er dessen Augsburger Erstdruck von 1509 einem weit späteren Exemplar um etwa 1850 gegenüberstellt. Das Kapitel kann als Heranführung an die Thematik verstanden werden; ohne dabei allzu theorielastig zu werden, eröffnet Speth seine Untersuchungen quasi in medias res und nimmt hier bereits die für ihn wichtige Unterteilung in „Paratextuelle Dimensionen“, „Haupttextuelle Dimensionen“ und „Strukturelle Dimensionen“ vor, die er praxisnah an Beispielen aus den Textzeugen erörtert. Da die von ihm angestrebte überlieferungsgerechte Interpretation mit lediglich zwei zeitlich derart weit auseinanderliegenden Varianten eines Werks nicht ausreichend hergestellt werden kann, so Speths Aussage, dient das Kapitel vielmehr dazu, ein methodisches Gerüst zu entfalten und den Grundstein für die späteren Betrachtungen zu legen. Hierfür erweist sich der Fortunatus als anschauliche Quelle, an dem deutlich wird, wie sehr die bewusst angelegte Vieldeutigkeit vormoderner Romane von ebendiesen Dimensionen geprägt wird, die eine Vereindeutigung des Sinns verhindern, indem sie jeweils ganz unterschiedliche Sichtweisen auf den Text eröffnen können: „Zwischen diesen ‚Gütern‘ hat der Leser dann – wie Fortunatus – die Wahl.“
Im zweiten Kapitel holt Speth die noch fehlenden literaturtheoretischen Überlegungen in umfangreichem Volumen nach. Dabei fokussiert er sich auf detaillierte Ausarbeitungen zur Gattung des frühneuhochdeutschen Prosaromans sowie auf die Theorie der Überlieferungsgeschichte. Zusätzlich konkretisiert er nochmals sein Verständnis des Dimensionsbegriffes und der überlieferungsgerechten Interpretation, wobei er seine Absichten immer wieder unzweideutig definiert und von anderen möglichen Vorhergehensweisen abgrenzt. An diesem Kapitel fällt besonders positiv auf, dass die in anderen wissenschaftlichen Texten oft vorhandene zähe Trockenheit der theoretischen Gebilde hier größtenteils fehlt. Dies liegt zum einen daran, dass Speth die verschiedensten Titel und deren Geschichte lebendig in seine Gedankenführungen einbindet, nicht zuletzt aber auch an der guten Positionierung in der Mitte des Werks. Durch die Inspektion des Fortunatus neugierig geworden, kann sich der Leser viel besser auf derartige Details einlassen, als dies zu Beginn des Buchs der Fall wäre. Gleichwohl sind Speths Ausführungen nicht ganz fehlerfrei: So lässt er sich dazu hinreißen, in den vorherrschenden unreflektierten Ton moderner Forschungskreise einzustimmen, bei der Melusine Thürings von Ringoltingen handele es sich um den „mit Abstand am besten untersuchte[n] Prosaroman“. Dies mag vielleicht allerhöchstens in einem gewissen Maß für die Drucküberlieferung gelten; für das immer noch in weiten Teilen unerforschte Gebiet der Melusine-Handschriften kann davon jedoch keine Rede sein, absolute Thesen wie diese geben den tatsächlichen Sachverhalt daher nicht adäquat wieder und sind irreführend.
Das dritte und ausführlichste Kapitel seines Werks widmet Speth schließlich dem deutschen Prosa-Herzog Ernst, von dessen breitem Überlieferungskorpus er die Fassungen F und Vb (die sogenannte ‚Frankfurter Prosafassung‘) in aller gebotenen Ausführlichkeit untersucht. Nicht weniger als 17 Drucke und zwei Handschriften finden dabei Verwendung und lassen zahlreiche Aspekte von Text und Tradierung in einem neuen Licht erscheinen. Was bereits im einleitenden Fortunatus-Kapitel angedeutet und später nochmals theoretisch unterfüttert wurde, wird hier jetzt in vollendeter Form präsentiert: Nacheinander auf inhaltlicher, struktureller und paratextueller Ebene schöpft Speth aus dem ihm vorliegenden reichhaltigen Fundus der Überlieferungsträger; er vergleicht übergreifend, wertet Kapitellängen und weitere Verteilungen grafisch-mathematisch aus, interpretiert Holzschnitte und zieht neue Konklusionen, sodass man beim Lesen immer wieder staunt über allein diese Vielschichtigkeit eines kleinen erhaltenen Zweiges des damaligen Literaturbetriebs – ebenso wie über den beeindruckenden Blick des Autors für selbst die kleinsten Feinheiten. Und so kann Speth letzten Endes überzeugend darlegen, dass es – entgegen dem ersten Eindruck, der sich bei einer gewöhnlichen Interpretation zunächst aufdrängen mag – für den objektiven Literaturwissenschaftler grundsätzlich unwichtig ist, ob Änderungen im Inhalt des Textes oder in seiner Struktur geplant oder ungeplant erfolgen: „Inhaltliche, ästhetische, ökonomische Gründe oder bloßer Zufall formen unsere Untersuchungsgegenstände gleichermaßen.“ Die ausgewerteten Redaktionen des Herzog Ernst sind dafür nur ein einzelnes schillerndes Beispiel, welches die eigene Sicht auf das Interpretieren schärft und zum aktiven Nachdenken darüber anregt, sodass diese Art der Texterschließung in Zukunft vielleicht auch einmal ähnlich geartete Ausläufer nach sich ziehen wird.
Ein umfassendes, klar gegliedertes Literaturverzeichnis und ein sauber formatiertes Register, die zum Stöbern einladen, runden den gelungenen Band ab. Überhaupt bleiben Konzept und Aufbau der Untersuchungen auch auf den 574 Seiten Fließtext zu jedem Zeitpunkt sehr gut nachvollziehbar. Auch wenn allein die bloße Masse an Text manch interessierten Leser zunächst abschrecken mag: Speth beherrscht erfreulicherweise die, gerade im akademischen Bereich leider längst nicht selbstverständliche, Fähigkeit, die von ihm behandelten Themenfelder und Gegenstände unkompliziert erklären zu können, ohne dabei gleichzeitig auf die notwendige und wichtige Fachsprache verzichten zu müssen. So stören den Lesefluss selbst nicht die gelegentlichen orthografischen Fehler, deren Tilgung freilich noch wünschenswert gewesen wäre. An einigen Stellen hätten darüber hinaus sicher noch ausführlichere vergleichende Blicke auf weitere zeitgenössische Texte wie die Melusine, Magelone oder Hug Schapler gelohnt, die zwar immer wieder in den Grundtext eingebunden, nach dem persönlichen Eindruck des Rezensenten aber in manchen Fällen doch etwas zu kurz angerissen werden.
Hierbei stellte sich wiederum die nötige Frage, wie groß die Arbeit in diesem Fall noch werden sollte, denn ab einem gewissen Punkt ist zweifellos der Rahmen eines jeden Projekts erreicht. Und obwohl sich natürlich immer wieder hochspezialisierte Stimmen finden werden, die meinen, dass nun diesem und jenem nicht genug Rechnung getragen worden sei, so muss man nach der erhellenden Lektüre doch konstatieren, dass Speth dem angesprochenen Punkt mindestens sehr, sehr nahekommt. Weder bleiben grundlegende Fragen offen, noch entsteht der gegenteilige Eindruck, dass unnötiges Füllmaterial eingebaut wurde, um den Text auf die mehr als nur imposante Länge zu strecken.
Zuletzt sind die genannten Kritikpunkte auch bloß verblassende Kleinigkeiten, die am endgültigen Fazit nichts zu ändern vermögen: Die Mühe, die sich der Autor bei der Auswertung seiner Textzeugen gemacht hat, die fruchtbaren Erkenntnisse, die für die enorme Relevanz der mal mehr, mal weniger unterschiedlichen Inhalte, Textstrukturen und Paratexte der einzelnen Werke hier zutage gefördert werden – sie sind in ihrem Facettenreichtum besonders für Mediävisten, die sich den vermeintlich ‚epigonalen‘ Zeitabschnitten ihres Fachgebiets verschrieben haben, keinesfalls zu unterschätzen. Die zukünftige Forschung wird es Speth danken.
Ein Beitrag aus der Mittelalter-Redaktion der Universität Marburg
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