Meisterliche Aphorismen
„Die Meldungen im Einzelnen“ von Friedemann Spicker: brillant geschliffene und theoretisch fundierte Sinnsprüche
Von Rainer Rönsch
Besprochene Bücher / LiteraturhinweiseDer Literaturwissenschaftler Friedemann Spicker befasst sich seit Jahrzehnten mit dem Aphorismus, diesem prägnanten Sinnspruch voller Urteilskraft und Lebensweisheit. Zu seinen zahlreichen Veröffentlichungen gehört das Standardwerk Der deutsche Aphorismus im 20. Jahrhundert (2004). Er widmet sich als Herausgeber, Rezensent, Archivar und Stifter den Aphorismen und verfasst diese auch selbst. Jetzt sind die neuesten Aphorismen und Notate aus seinen seit 1956 geführten Reflexionstagebüchern unter dem Titel Die Meldungen im Einzelnen erschienen.
Als Forscher und Aphoristiker in Personalunion charakterisiert sich Spicker schalkhaft so: „Der eine weiß alles und kann nichts. Der andre darf nichts wissen, wenn er was können will.“ Das hieße ja wohl, der Gelehrte wisse alles über Aphorismen, bringe aber keine zustande, und der Autor müsse die Theorie beim Schreiben vergessen. Da kann man von Glück reden, dass Spickers Buch das Gegenteil beweist: Die Aphorismen und Notate aus zwei Jahren sind eine Fundgrube, wenn man kluge Gedanken in bündigster Formulierung zu schätzen weiß.
Spicker belässt es nicht bei originellen Wortfindungen wie „Wahlkampfunterhaltungsindustrie“, sondern läutet die Alarmglocke angesichts der akut gefährdeten Zivilisation und der sich öffnenden und ihm in Herz und Hirn schneidenden „Schere“ zwischen Vorstandsgehältern und Arbeitnehmerlöhnen. Diese zunehmende Ungerechtigkeit gilt als Beweis dafür, dass „der Fort-Schritt vom Wege abkommt“. Der Autor definiert den Markt als „unersättlichen Retter“ und kennzeichnet damit treffsicher, unüberbietbar knapp und mit dialektischer Schärfe die ganze Widersprüchlichkeit des Kapitalismus. Und die Anregung, das Wort „Lebensmittel“ wieder als Kompositum zu erkennen, führt weit übers Grammatische hinaus zur Besinnung auf Nachhaltigkeit.
Das Sinnieren über ein vertrautes Wort mündet in einer beglückenden konträren Formulierung: „Gedankenversunken? Gedankenerhoben.“ Die Veränderung nur eines Wortes in einer stehenden Redewendung verweist auf ein häufiges Manko nicht nur in Bundestagssitzungen und Talkshows: „Für das geistige Wohl ist gesorgt.“ Schön wäre es! Denn in Überfülle gibt es „Worte, die gehört verhallen“.
Hin und wieder geht der Blick des Autors hinaus zum Garten, wo man das Sehen lernt, die Mühe direkt proportional der Freude ist und das Haben zum Sein wird.
Bei allem Ernst wird auch die heitere Seite des Feilens am Wort nicht vergessen, weshalb zu hoffen ist, dass sich jemand einer bescheidenen Bitte annimmt: „Wer schreibt mir einen Kaffeesatz?“
Dem Autor Friedemann Spicker gebührt Dank dafür, dass er einen eigenen Aphorismus zur Grundlage seines Schaffens gemacht hat: „Wahrheit ist Arbeit.“ Nicht jeden Sprach- und Geistesblitz wird man auf Anhieb verstehen. Doch es lohnt sich, die als Schatzkammer zu betrachtende Sammlung immer wieder neu zu erkunden, um durch Arbeit zur Wahrheit zu finden.
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