Gegen das „Geschlamper der Geschlechter“

In Leona Stahlmanns Romandebüt „Der Defekt“ findet eine junge Masochistin sich selbst

Von Oliver PfohlmannRSS-Newsfeed neuer Artikel von Oliver Pfohlmann

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein Roman über eine Pubertierende, die sich von ihrem Freund schlagen, würgen und anspucken lässt? Die sich vorschreiben lässt, kein Deo mehr zu benutzen, weil ihr Freund wissen will, wie sie „stinkt“? Das weckt nicht erst in MeToo-Zeiten höchst unbehagliche Gefühle. Doch Vorsicht mit schnellen Urteilen. Denn es geht in Leona Stahlmanns Romandebüt weder um einen Fall von Hörigkeit noch um eine Missbrauchsgeschichte.

Die masochistische Heldin ihres provokanten Coming-of-Age-Romans heißt Mina. Dass sie zum Schmerz eine besondere Beziehung hat, weiß die Schülerin, seit sie als Fünfjährige versehentlich im Wald in Brennnesseln gegriffen hat – um sie dann wie im Rausch einfach nicht mehr loszulassen. Natürlich gibt es in dem Schwarzwalddorf, in dem die inzwischen 16-Jährige aufwächst, für derlei Abweichungen von der Norm keinen Platz; Mina behält ihr Bedürfnis nach Grenzerfahrungen daher klugerweise für sich. Zunächst ist es auch nur die rätselhafte Anziehungskraft einzelner Wörter, die das Mädchen beschäftigt, wie „Ordnung“ oder „Disziplin“. Was es mit ihrem Anderssein, ihrem vermeintlichen „Defekt“, auf sich hat, das beginnt die Schülerin erst zu verstehen, als sie den zwei Jahre älteren Vetko kennenlernt.

Der Einzelgänger wird von der 32-jährigen Hamburger Autorin als skurrile Mischung aus englischem Baron und Papagei beschrieben. Er ist quasi der dominante Deckel auf Minas unterwerfungsfreudigem Topf und lenkt ihr pubertäres Gefühlschaos in seine ganz eigene Ordnung. Dank Vetko kann die jugendliche Protagonistin hinter dem Rücken ihrer Eltern und Mitschüler den Kick am Kontrollverlust erkunden. Etwa indem sie auf seine Anweisung hin auf einem Stoppelacker kniet, nackt und mit verbundenen Augen, ohne zu wissen wie lange. Noch die erwachsene Heldin erinnert sich gegen Ende des Romans an die „höllische Freude“, die ihr diese halbe Ewigkeit völligen Ausgesetztseins bereitet hat.

So dauert es nicht lange und Mina kann nur noch müde lächeln, wenn ihre beste Freundin auf dem Pausenhof mit ihrem ersten Knutschfleck Eindruck schinden will. Vordergründig ist natürlich Vetko der aktive Part in dieser Beziehung. Denn er ist es, der Mina mit seiner Verachtung für gewöhnlichen Sex – er spricht vom „Geschlamper der Geschlechter“ – über ihre Grenzen zu treiben versucht. Bis hin zur bewussten Einnahme von K.o.-Tropfen, um sich ihm völlig auszuliefern, als größtmöglichen Ausdruck von Vertrauen, wie er findet.

Doch erzeugt der junge Mann mit seiner halbgaren Gefühlsphilosophie eher ambivalente Reaktionen bei Mina. Überhaupt sind die Machtverhältnisse zwischen den beiden Erfahrungsjunkies in Wahrheit genau umgekehrt. Vetko ist letztlich wenig mehr als Minas Instrument, mit dem sie ihre Grenzen erforscht und ihre Identität findet. Wird ihr etwas zu viel, wie seine Forderung, sich den Kopf rasieren zu lassen, lässt sie Vetko einfach stehen, der plötzlich recht hilflos dreinschaut. Und die K.o.-Tropfen nimmt sie am Ende ganz allein ein.

Dass unklar bleibt, woher der Möchtegern-Dom die Erfahrung für seine gefährlichen Spiele nimmt, ist eine der Schwächen von Stahlmanns Romandebüt. Eine andere sind die manchmal allzu labyrinthischen Bandwurmsätze. Zu den Stärken zählt dagegen die bilderreiche, sinnliche Sprache der Autorin. Und nicht zuletzt die implizite Gesellschaftskritik, die deutlich wird, wenn sich etwa Minas Schulfreundinnen den sterilen Vorstellungen von Weiblichkeit à la „Germanys Next Topmodel“ hingeben, um nicht zu sagen: unterwerfen.

Bleibt die Frage: Erzählt Leona Stahlmann hier eigentlich eine Liebesgeschichte? Wenn man wie ihre Protagonisten bereit ist, eine Ohrfeige als Geste größtmöglicher Zärtlichkeit zu empfinden, dann sicherlich. Für Menschen wie Mina und Vetko ist eben vieles anders – ist Sexualität letztlich eine Sache des Kopfes, nicht der Genitalien. Es ist bemerkenswert, mit welcher Leichthändigkeit es der Autorin gelingt, diese andere Form von sexueller Identität ihren Lesern nahezubringen. Und das, obwohl das Thema Sadomasochismus nach dem Kunstlederkitsch von Fifty Shades of Grey für die Literatur erledigt zu sein schien. Das ist keine geringe Leistung für einen Debütroman.

Titelbild

Leona Stahlmann: Der Defekt.
Kein & Aber Verlag, Zürich 2020.
271 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783036958217

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch