Manchmal ist ein Roman einfach nur ein Roman

Nicht in jedem Fall eignet sich Robert Seethalers Roman „Der Trafikant“ für den Literaturunterricht

Von Peer JürgensRSS-Newsfeed neuer Artikel von Peer Jürgens

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Liste derjenigen zeitgenössischen deutschsprachigen Autor*innen, die es auch in die Lehrpläne des Deutschunterrichts geschafft haben, ist nicht besonders lang. Robert Seethaler ist dort aber – spätestens seit dem Erfolg seiner Romanverfilmungen – mit Sicherheit vertreten und das völlig zu Recht. Seine Werke wie Der Trafikant (2012), Ein ganzes Leben (2014) oder Das Feld (2018) haben Publikum und Literaturkritik gleichermaßen begeistert. Seit es zudem z.B. zum Trafikant auch umfangreiches Material für Schüler*innen und Lehrkräfte gibt (so unter anderem 2018 von Schöningh/Westermann, 2018 von Reclam oder 2017 von Klett), ist gerade dieser Roman von Seethaler Teil des Literaturunterrichts geworden.

Daher verwundert es nicht, dass sich auch die Deutsch- und besonders die Literaturdidaktik den Romanen Seethalers zuwendet. Eine für dieses Anliegen immer sehr hilfreiche Publikation ist Literatur im Unterricht (LiU), die sich laut ihrem Untertitel mit Texten der Gegenwartsliteratur für die Schule befasst. Herausgegeben wird dieses drei Mal jährlich erscheinende Heft von Jan Standke, renommierter Professor für Didaktik der deutschen Literatur in Braunschweig, der sich schwerpunktmäßig mit Gegenwartsliteratur befasst. 

Neben thematischen Heften wie zum Beispiel über Natur (Heft 2, 2019), Glück (Heft 1, 2018) oder Krankheiten (Heft 2, 2017) befasst sich LiU regelmäßig mit Gegenwartsautor*innen – unter anderem Wolfgang Herrndorf (Heft 3, 2015), Juli Zeh (Heft 3, 2017) und Andreas Steinhöfel (Heft 3, 2018). Die dritte Ausgabe in 2019 widmet sich nun Robert Seethaler und nimmt seine drei letzten Romane in den Blick.

Versammelt sind in dem Heft sechs Beiträge, von denen sich fünf aus unterschiedlicher Perspektive mit der Frage befassen, wie geeignet die Werke Seethalers für den Literaturunterricht sind. In einem sechsten Beitrag stellt Dieter Wrobel mit Lili Grüns Junge Bürokraft übernimmt auch andere Arbeit einen „vergessenen Text“ vor und erläutert, inwiefern dieser auch für die heutige Zeit aktuell ist. Zunächst jedoch befassen sich Christian Ernst, Christian Benesch und Ines Heiser intensiver mit dem Roman Der Trafikant.

Der erinnerungskulturelle Kontext steht bei Christian Ernst, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Germanistik-Institut in Magdeburg, im Fokus. Da der Roman die Zeit in Österreich kurz vor und nach dem „Anschluss“ 1938 beleuchtet, bietet er für diesen Blickwinkel eine gute Grundlage, zumal Christian Ernst mit seiner Analyse hier Neuland betritt. Aufschlussreich ist dabei vor allem sein Beitrag zum komplexen Verhältnis von literarischem Text, der Konstruktion von Geschichte sowie die Nutzung für den Unterricht. Er verweist darauf, dass literarisches Erzählen Geschichte nicht abbildet, sondern sie durch die dem Erzählen eigenen Mittel erst erzeugt und somit auch deutet. Dies sei aber – so Ernst – in den Unterrichtshilfen und Lektüreschlüsseln zu wenig berücksichtigt, hier wird seiner Meinung nach historische Quelle und literarische Darstellung verwechselt. Seine Empfehlung daher: am Text und nicht am Kontext ansetzen.

Eine weitere interessante Erkenntnis des Beitrages ist die überzeugende Argumentation über die Umdeutung erinnerungskultureller Zusammenhänge. So wird nach Auffassung Ernsts der organisierte Widerstand und die politische Opposition im Roman negativ konnotiert, moralische individuelle Aktionen wie die des Protagonisten Franz oder die von Otto Trsnjek positiv hervorgehoben. Andererseits jedoch kennzeichne der Roman Antisemitismus als integralen Bestandteil der österreichischen Gesellschaft schon vor dem „Anschluss“ und widerspricht damit aktuellen Erinnerungsdiskursen in Österreich. Ernst plädiert insgesamt zu Recht für eine Stärkung von textanalytischen Zugängen, um – gerade vor dem Hintergrund eines historischen Kontexts – Motive für Figurenhandeln zu erschließen. Erst nach einer solchen literarischen Analyse sollten Kontext- und Diskurs-gebundene Aspekte einfließen. Dafür hat Ernst am Ende seines Beitrages ein hilfreiches Aufgabenset für den Deutschunterricht vorgestellt.

Im Vordergrund des Beitrages von Christian Benesch, Doktorand am Germanistik-Institut in Wien, steht ein erzähltheoretisches Motiv. Er möchte zeigen, wie die Bühnenadaption des Romans für den Deutschunterricht genutzt werden kann. Dafür fasst er zu Beginn kurz, aber treffend die literaturwissenschaftliche Debatte um das Verhältnis von Epik und Dramatik zusammen. Er bezieht sich vor allem auf Wolf Schmid und seine Elemente der Narratologie, mit dessen Hilfe Benesch versucht, erzähltheoretische Analyseinstrumente für das Drama zu nutzen. Bei seinem Vergleich der ebenfalls von Seethaler verfassten Drama-Fassung steht für Benesch der Briefwechsel von Franz mit seiner Mutter im Fokus – ein Vorteil zudem für den handlungs- und produktionsorientierten Literaturunterricht. Allerdings tritt der Blick Beneschs auf den tatsächlichen Briefwechsel vor seinen theoretischen Analysen etwas in den Hintergrund. Benesch hat – am Beispiel des Trafikant – primär eine Streitschrift für die Theorie von Schmid und damit eine kritische Würdigung der Systematiken von Franz K. Stanzel und Gérard Genette geschrieben. Literaturtheoretisch ist das interessant und durchaus klug argumentiert, aber die praktische Anwendung einer „Romandramatisierung“ für die Analyse im Literaturunterricht ist dabei eher fraglich.

In ihrem sehr nachvollziehbaren Beitrag betrachtet Ines Heiser, Privatdozentin in Marburg, vor allem die Rezeptionsbedingungen von schulischem Lesen. Kritisch geht sie dabei mit schulischen Routinen ins Gericht, welche Sinn konstruieren wollen, auch wenn dieser gar nicht vorhanden ist. Gerade vor dem Hintergrund, dass das Fach Deutsch in besonderem Maße die Förderung von Identitätsentwicklung als Aufgabe hat, werden Lesarten von Werken häufig in Schubladen einsortiert. Nach der Analyse von Unterrichtshilfen zu Der Trafikant lautet die Lesart von Seethalers Roman nach Heiser: Entwicklungsroman eines Jugendlichen in schwierigen Zeiten – Schublade Adoleszenz-Geschichte. Aber Heiser zeigt, dass die schulische Interpretation nicht immer stimmig ist, obwohl der Roman zahlreiche „günstige“ Eigenschaften für den Literaturunterricht besitzt.

Dazu betrachtet sie genauer, wie der Entwicklungsprozess des Protagonisten Franz dargestellt wird und ob diese Darstellung für die Schüler*innen überhaupt zugänglich und hilfreich ist. Anhand gut gewählter Beispiele aus dem Text kommt sie zu dem Schluss, dass die Vorbildfunktion von Franz eher problematisch ist und die Figur sich für eine Identitätsbildung daher wenig eignet. An dieser Stelle ist gerade die Deutschdidaktik gefragt, sparsamer mit allzu bekannten Strukturen und Anknüpfungspunkten an neue Werke heranzugehen. Zudem kritisiert Heiser das „massiv stereotype Frauenbild des Romans“ und die „sexistischen Stereotype“, durch die ein Gespräch zwischen Franz und Freud geprägt sei. Ob die Kritik in dieser Schärfe berechtigt ist, sei dahingestellt, aber die Lesart des Romans wird durch diesen Hinweis fokussierter. In vollem Umfang ist daher Heisers Plädoyer am Ende zuzustimmen, dass es erstens mehr literaturwissenschaftlicher Vorarbeiten auch für Gegenwartsliteratur bedarf und zweitens es für Deutschdidaktik und Unterricht nicht Tabu sein darf, auch Schwächen eines Textes zu benennen.

Nach dieser ausführlichen Beschäftigung mit Der Trafikant widmet sich Ines Theilen, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Seminar in Hannover, in ihrem Beitrag dem Folgeroman Ein ganzes Leben. Ihren Kern bildet dabei die Vermutung, dass irritierende Momente in einem Werk die Schüler*innen für die Lektüre sensibilisieren und das Potential haben, bestimmten narratologischen und poetologischen Fragestellungen auf die Spur zu kommen. Sie benennt drei Irritationen in dem Werk (Titel, Widersprüchlichkeiten, Lücken), stellt diese an zahlreichen, gut gewählten Beispielen im Roman dar und gibt zudem praktische didaktische Hinweise, diese gemeinsam mit den Schüler*innen aufzuspüren und zu diskutieren. Theilen macht das textnahe Lesen stark, weil ihrer Meinung nach so Interferenzen von inhaltlicher und formaler Ebene aufgedeckt werden können. Diese Irritationen regen ihrer Auffassung nach Schüler*innen dazu an, Fragen an den Text und darüber hinaus zu stellen. Zu Recht urteilt Theilen, dass Ein ganzes Leben unter diesem Aspekt eine sehr dankbare Lektüre ist, deren „großes didaktisches Potential“ im Unterricht genutzt werden sollte.

Mit dem aktuellen Roman Das Feld befasst sich Sebastian Bernhardt, seines Zeichens wissenschaftlicher Mitarbeiter am Germanistik-Institut in Braunschweig. Er untersucht das Potential des Romans für den Literaturunterricht vor allem in Hinblick auf die Gattungsfrage und die im Roman thematisierten Lebens- bzw. Beziehungskonzepte. Auch wenn Bernhardt richtigerweise die Komplexität des Textes als Einschränkung benennt, kann zumindest die Gattungsfrage gut diskutiert werden. Der Roman – mit seinen 29 Abschnitten eher ohne klassische Romanstruktur – bietet hierfür „problemorientierten Input für ein eigenständig entdeckendes Lernen“. Fraglich ist aber, ob die im Roman dargestellten Lebens- und Beziehungskonzepte ähnlich anschaulich angesprochen werden können. Bernhardt ist davon überzeugt – aber die Länge des Romans, die Vielfalt der Episoden und die Komplexität des Textes stehen dem objektiv entgegen. Dass die Schüler*innen tatsächlich – wie Bernhardt vermutet – „das Widerständige der Figurenzeichnung“ wahrnehmen und sich in 29 Lebensentwürfe einfühlen können, um sich letztlich kritisch mit ihren eigenen Welt- und Selbstkonzepten auseinanderzusetzen, wirkt als Anspruch für den Literaturunterricht anhand von Das Feld doch etwas sehr ambitioniert. Nichtsdestotrotz bietet auch dieser Beitrag einen spannenden Ansatz für die Arbeit mit literarischen Texten.

Besonders erhellend ist der Beitrag von Dieter Wrobel, Lehrstuhlinhaber für Didaktik der deutschen Sprache und Literatur in Würzburg, welcher unter dem Motto „Vergessene Texte der Moderne wiedergelesen“ steht. Er stellt Lili Grün und ihr Werk vor und betrachtet den Roman Junge Bürokraft übernimmt auch andere Arbeit genauer. Besonders hebt er die in dem Roman dargestellten Frauenrollen hervor, die den „neuen Typus Frau“ der 20er Jahre kommentieren. Wrobel wirbt für die Nutzung des Romans im heutigen Literaturunterricht, da er unterschiedliche Aspekte anspricht: Adoleszenz, Identifikation, Auseinandersetzung mit historischen Frauenrollen sowie die Epochenfrage. Allein dank des Hinweises auf dieses Werk ist das Heft eine Bereicherung.

Insgesamt bietet diese Ausgabe von LiU auf der einen Seite einen guten stichwortartigen Überblick über zentrale literaturwissenschaftliche und literaturdidaktische Themen. Auf der anderen Seite beleuchtet sie die drei besprochenen Romane von Robert Seethaler kritisch und bereichert so ihre (Wieder)Lektüre. Die Aufsätze zeigen, dass nicht alle drei Romane gleich geeignet für den Literaturunterricht sind und es gerade beim vielgenutzten Trafikant erhebliche literaturdidaktische Kritikpunkte gibt. Nicht alle Beiträge bieten die gleiche gelungene Verbindung von theoretischer Analyse und praktischen Hinweise wie dies bei den Beiträgen von Ernst und Heiser der Fall ist. Auch können nicht alle Texte mit ihrer Herangehensweise im Hinblick auf die Anwendung in der Schule überzeugen. Aber dennoch ist das gesamte Heft eine hilfreiche, bereichernde und überschaubare Lektüre für all jene, die tiefer in das Werk von Seethaler einsteigen wollen und/oder die Anregungen für den Literaturunterricht brauchen.

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Jan Standke (Hg.): Literatur im Unterricht. Texte der Gegenwartsliteratur für die Schule. Heft 3: Robert Seethaler.
WVT Wissenschaftlicher Verlag Trier, Trier 2019.
90 Seiten, 15,00 EUR.
ISBN-13: 9783868218442
ISSN: 16156447

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