Ein Leben für die verbale Magie
Franz K. Stanzels Forschungen zum Einfluss „Kakaniens“ auf James Joyce und seinen Roman „Ulysses“
Von Tobias Weilandt
Ulysses ist wohl der bekannteste am wenigsten gelesene Roman der Welt. Er ist zu großen Teilen sperrig, voller Symbole und verlangt Leser*innen eine enorme Gedächtnisleistung ab, um all den kleinen und großen Verlinkungen innerhalb der Szenarien folgen zu können. Auf der anderen Seite ist Ulysses ein Roman, der die alltäglichen Dinge einfängt und sie ohne Pathos zur Darstellung bringt. So notierten einst die Literaturkritiker und Publizisten H. J. Schmitt und G. Schramm:
Das Bemerkenswerteste an ihm [James Joyce, T.W.] ist die Überzeugung, dass es im Leben nichts Großes gibt – keine großen Ereignisse, keine großen Menschen, keine großen Ideen; und der Schriftsteller kann das Leben abbilden, indem er sich einfach ,irgendeinen Helden an irgendeinem Tag‘ vornimmt und ihn mit größter Genauigkeit schildert. Ein von Würmern wimmelnder Misthaufen, mit einer Filmkamera durch ein Mikroskop aufgenommen – das ist Joyce Werk.
Ulysses ist ein durchweg europäischer Roman, der die Gedanken und Handlungen der Menschen zur Jahrhundertwende beschreibt. Die literarischen Einflüsse auf den Ulysses sind dabei zahlreich und durch jahrzehntelange Forschung bis heute nicht erschöpfend aufgedeckt. Zu nennen sind hier vor allem die Bedeutung Henrik Ibsens (Norwegen) auf James Joyce (hierzu unter anderem D. J. Tysdal), Gerhart Hauptmanns (Deutschland, hierzu unter anderem D. McMillan) und Dante und Thomas von Aquin (Italien, hierzu vor allem M. T. Reynolds beziehungsweise W. T. Noon). Welche Wirkungen „Kakanien“, als Bezeichnung der Habsburger Donaumonarchie, auf den irischen Sprachmagier hatte, erforschte der Literaturwissenschaftler Franz Karl Stanzel zeitlebens. Literarische Einflüsse macht Stanzel dabei vor allem beim Psychoanalytiker Otto Weininger aus. Abseits literarischer Wirkungskräfte auf Joyce, waren dessen Aufenthalte im „alt-österreichischen“ Pola (heute Kroatien) und in Triest (heute Italien) prägend für den Iren, wie Stanzel in zahlreichen Aufsätzen zeigte.
Mit dem vorliegenden Band James Joyce in Kakanien blicken wir auf einen wichtigen Teil des Lebenswerks Stanzels zurück und können seine Forschungen zu Joyce anhand von Zeitungs- und Fachmagazinartikeln nachvollziehen. Dem literaturtheoretisch Gebildeten ist Stanzel aber nicht als Joyceaner bekannt, sondern als Schöpfer des „Typenkreises der Erzähltheorie“. Seine Überlegungen zum typologischen Erzählmodell finden allerdings auch im Kakanien-Buch ihren Niederschlag, wenn er sich unter anderem auf die Spuren des Meta-Narrativen im Ulysses aufmacht. Wer sich allerdings detailliert mit der literaturtheoretischen Verbandelung von Ulysses und Typenkreis-Modell beschäftigen möchte, sei an das im Jahre 2011 erschienene Welt als Text. Grundbegriffe der Interpretation von Stanzel verwiesen.
Stanzels vorliegende Aufsatzsammlung ist in zwei Hauptabschnitte unterteilt plus Anhang und Coda. Im ersten Teil versammelt er Feuilleton-Artikel, die als Teaser für den zweiten und wissenschaftlichen Teil fungieren. Hier finden sich Beiträge, die Stanzel in Fachzeitschriften wie dem James Joyce Quarterly veröffentlichte. Ein üppiger Anhang umfasst kein Stichwortregister oder weiterführende Literaturempfehlungen, stattdessen finden sich hier seine literaturtheoretischen Ausführungen und narratologischen Abhandlungen zum Ulysses. Das Ende des Anhangs bildet eine isoliert dastehende Coda zum Thema Alternsforschung.
In seinem Aufsatz I hate this Catholic Country, der erstmals 1996 in Spektrum: Die Presse veröffentlicht wurde, steckt Stanzel bereits einen ersten thematischen Rahmen seiner folgenden feuilletonistischen Arbeiten ab. Er bereitet hier Fragen vor wie: War der Großvater Leopold Blooms ein österreichischer Offizier? Vor dem Hintergrund, dass Blooms Vorfahr eine reale Person, Bloom selbst hingegen nur eine fiktive Gestalt ist, stellt sich hier das Problem des Verhältnisses von Ficta und Facta, von Fiktion und Wirklichkeit. Stanzel bearbeitet also eine Frage, die in den letzten Jahren in der Philosophie zu neuer Prominenz gelangte. Leider sind in den im Band vorliegenden Aufsätzen seine Ausführungen nur skizzenhaft. Verwiesen sei hier wiederum an die obige Anthologie aus dem Jahre 2011.
Immer wieder äußert er sich enorm kritisch über die Entwicklung der weltweiten Festivitäten rund um den Bloomsday, dem Tag also, an dem Ulysses spielt und Joyce laut Aussage seiner späteren Ehefrau Nora Barnacle „zum Mann wurde“. Mit staunendem Blick beobachtet Stanzel die damit einhergehende Popularisierung der Person James Joyce und dessen Werkes. So schreibt er: „Das Ende der Bloomsday-Feiern, ihr Doomsday, d.h. ihr Ende, ist noch lange nicht absehbar. Es wird wohl davon abhängen, ob die 2004 begründete ,unheilige‘ Allianz zwischen akademische Seriosität und munteren Straßenfestival von Dauer sein kann.“ Im Jahre 2019 ist die Begeisterung für Joyces Ulysses unverändert und man kann sich durchaus die Frage stellen, was denn so schlimm sein soll, wenn ein literarisches Werk tagelang andauernde Feiern motiviert. Man könnte hier meinen, die Kritik an den Bloomsday-Festivals sei Ausdruck eines altmodischen Elitedenkens.
Eine der wichtigsten Problemstellungen, der sich Stanzel des Weiteren viele Jahre widmete, ist der Einfluss des Werkes Geschlecht und Charakter des nationalsozialistisch geprägten Psychoanalytikers Otto Weininger. Kannte Joyce Weiningers „Sexualmythologie“ und inwiefern hatte es möglicherweise Einfluss bei der Entwicklung der Figur des „weiblichen Mannes“ (Weininger) Leopold Blooms? Hier leistete Stanzel mit seinen Forschungsergebnissen seiner Zeit echte Pionierarbeit.
Ebenso beschäftigt sich Stanzel immer wieder mit der Einstellung Joyce’ zur damaligen Habsburger Monarchie. Stand Joyce dem kakanischen Regiment skeptisch, ja geradezu ablehnend gegenüber, so entwickelte er letztlich sogar eine Affinität und sprach nach Jahren in Triest vom „habsburgischen Mythos“. Zudem gibt es Indizien, dass Joyce vom k.u.k.-Geheimdienst beschattet wurde, vor allem vor dem Hintergrund der Frage, inwiefern sich der irische Schriftsteller für deren Belange einspannen ließe. So fällte der österreichische Miltärattaché, Oberst William von Einem 1916 das Urteil und berichtete an das Landesverteidigungskommando in Tirol: „Er [James Joyce, T.W.] ist ein anständiger Mann und scheint am Hungertuch zu nagen. Er spricht mit Achtung und Verehrung von Österreich. Der Agent meint, dass die Feder dieses Mannes für uns auszunützen wäre.” Zu einer Zusammenarbeit zwischen Joyce und dem Geheimdienst kam es allerdings nachweislich nie, so Stanzel. Joyce lag es fern, sich irgendwie politisch einspannen zu lassen. Auf die Frage, was er zur Zeit des Ersten Weltkrieges tat, antwortete er nonchalant: “I wrote Ulysses.”
Eine weitere Frage, die Stanzel lange umtrieb, ist ebenfalls eine nicht-literarische: Warum musste Joyce samt seiner Gefährtin Nora Barnacle nach Triest weiterziehen, obwohl ihm noch vor der Ankunft in Pola eine Stelle an der Berlitz-School versprochen war? Gemeinhin wurde gemutmaßt, allen voran vom berühmtesten Kenner der irischen Literatur, Richard Ellmann, ein Missverständnis führte dazu, dass Joyce glaubte, in Zürich und später in Triest erwarte man ihn mit offenen Armen. Stanzel hingegen gibt zu bedenken, dass es wohl eher die nach mehrtägiger Reise schmuddelige Erscheinung von Joyce war, die die Gemüter gegen ihn aufbrachte und letztlich eine Anstellung als Englischlehrer vereitelte.
Es sind laut Stanzel gerade die beiden Städte Pola und Triest, die einen festen Platz im Denken James Joyce und seinem Werk fanden. So notiert Stanzel:
Doch haben diese Städte deutliche Spuren im Subtext des Werkes hinterlassen, wie besonders an Triest nachweisbar ist. Nicht nur ist er dort in persona den leibhaftigen Modellen für seinen Charakter Leopold Bloom begegnet, es hat auch die Multiethnizität der Bewohner dieser Österreichischen Hafenstadt, wie auch jene Polas vorher, einen ganz nachhaltigen, aber im Oberflächentext nur schwer nachweisbaren Einfluss auf die Konzeption des Ulysses und von Finnegans Wake ausgeübt.
Nach der Analyse des Lebens Joyce’ und seiner Familie in „Alt-Österreich“ und deren kulturellen Einflüsse auf das Werk Joyce, widmet sich Stanzel im Anhang narratologischen Fragen. Die darin zu findende Textsammlung beginnt mit einem Auszug aus Stanzels Die typischen Erzählsituationen aus dem Jahre 1955, worin er nachfolgend seine These, Ulysses werde von einem (Meta-)Bewußtsein des sich im Schreibprozess befindlichen Autors erzählt. Hier wendet sich Stanzel gegen die Behauptung T.S. Eliots, mit dem Ulysses sei die herkömmliche Form des Romans überwunden.
Stanzels Eingangsprämisse lautet dabei, dass Ulysses zwar mit den Erzählkonventionen bricht, indem Joyce die Einheit der Erzählsituation überwindet, dabei sprenge er aber beileibe nicht die Grenzen herkömmlicher narrativer Großformate. Vielmehr erweitere Joyce nur den Werkzeugkoffer des Erzählens. Stanzel führt dann auch durch die Kapitel des Ulysses und bespricht deren Erzählmethoden. Dabei kommt er zu dem Schluss, und bezieht sich dabei auf den Aufsatz C. G. Jungs Ulysses. Ein Monolog, dass es im Ulysses ein (!) Erzählerbewusstsein gebe und der Roman nicht zwischen den Perspektiven von Bloom, Stephen Dedalus und anderen wechsle, sondern dass eine Art Über-Bewusstsein die Leser*innen durch den Dubliner Alltag führe: „Das Subjekt zur Welt des Ulysses ist einfach das Bewusstsein des Autors im Augenblick des Konzeptionsprozesses.“ Beim Lesen tauchen wir demnach in das Bewusstsein des Autors, nicht aber der Person James Joyce’ selbst ein, der parallel die Geschicke der Romanhelden lenkt und die Geschichte spinnt:
Charakteristisch für das Subjekt [gemeint ist der schreibende Autor, T.W.] in dieser Verfassung ist, dass es jeden ausdrücklichen Bezug auf sich selbst, von dem im Vortrag eines auktorialen Erzählers so reichlicher Gebrauch gemacht wird, unterdrückt. Der Konzeptionsmonolog ist nicht wie der Monolog im Schauspiel oder der stille Monolog zunächst ein Mittel des Selbstausdruckes, sondern ein Stadium des Werkes als Ausdruck des Prozesses der objektiven Weltgestaltung durch den Autor. Es ist daher nicht das persönliche Ich des Autors, welches monologisiert, sondern ein dramatisiertes Ich, das schöpferische Bewusstsein des Künstlers.
Erst durch die These, Ulysses sei ein Monolog des Künstlers beim Denken, erhält die Gesamtstruktur des Romans eine sinnvolle Einheit und erlaubt eine völlig neue Lesart.
Im Laufe der Jahre legte Stanzel diesbezüglich nach und scheute nicht den kritischen Blick auf das bisher geleistete. So formulierte er im Laufe von fast sechs Jahrzehnten seine These um den „Konzeptionsmonolog“ im Ulysses zur „Fiktivierung des Ich-Erzählers“ um. Letzere erlaube eine Distanzierung des Lesers vom Ich-Erzähler und geht mit der Überwindung eines „omniszenten, allgewaltigen Olympiers“ einher. Der fiktive Ich-Erzähler, insofern dieser im Ulysses überhaupt noch greifbar ist, bezieht sein eigenes Bewusstsein, seine eigenen subjektiven Erlebnisse in die Erzählung mit ein. Die Darstellung der literarischen Sujets von einer auf den ersten Blick nicht klar fassbaren Perspektive irritiert die Leser des Ulysses bis heute und ist eine der Innovationen des Joyce’schen Werkes. Um hier Klarheit zu schaffen, bedurfte es neuer Instrumentarien, die Stanzel im Laufe seiner Forschungsarbeit entwickelte. Diese Leistung ist nachzuvollziehen in den im vorliegenden Band wieder abgedruckten Aufsätzen Die Personalisierung des Erzählaktes im Ulysses aus dem Jahre 1977, über Narrative Voices, Narrators, and Reflector-Characters in Ulysses (1981) bis zu einem Kapitel aus dem 2002 erschienenen Unterwegs: Erzähltheorie für Leser; ausgewählte Schriften.
Die Thesen Stanzels zu den Einflüssen der damaligen österreichischen Kultur, die Gründe um die Ablehnung Joyce’ an der Berlitz-School in Pola und die Interpretation des Alltagsromans des 20. Jahrhunderts waren seinerzeit neuartig und teilweise unkonventionell. Die versammelten Aufsätze und Essays umspannen die Jahre 1955 bis 2018. Damit spiegelt der Band ein ganzes Forscherleben wider. Sind die Inhalte teilweise redundant – die Themen der Feuilleton-Arbeiten finden sich eben in großen Teilen in den vorliegenden Fachpublikationen wieder – ist die Auswahl der narratologischen Aufsätze sehr gut gewählt. Sie erlauben Stanzel bei der Entwicklung seiner Überlegungen vom „Konzeptionsmonolog“ zur „Fiktivierung des Ich-Erzählers“ zu verfolgen und so den Forscher beim Denken zu begleiten. Auch, wenn Stanzels Prämissen und Schlussfolgerungen mittlerweile mehr oder minder durch das flexiblere narratologische Modell Gérard Genettes widerlegt wurden, lohnt die Lektüre dennoch als literarisches MRT.
Es liegt allerdings auf der Hand, dass die Anthologie James Joyce in Kakanien nur etwas für echte Joyce-Enthusiasten ist. Wer eine Einführung in das Werk Ulysses benötigt, ist mit Stuart Gilbert Ulysses: A Study oder Anthony Burgess Here comes everybody besser beraten.
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