Den Demütigen gehört die Zukunft

Bernd Stegemann analysiert in „Die Öffentlichkeit und ihre Feinde“ die multiplen Blockaden der Dialogkultur spätmoderner Gesellschaften im Wandel und kommt zu wenig überraschenden Ergebnissen

Von Marcus NeuertRSS-Newsfeed neuer Artikel von Marcus Neuert

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Einer der streitbarsten Geister auf dem Gebiet des philosophisch-sozial-politischen Grenzgängertums hat ein neues Buch geschrieben: der in Berlin wirkende Dramaturg und Professor für Theatergeschichte Bernd Stegemann, einer breiteren Öffentlichkeit spätestens seit seinem vehementen Eintreten für die Aufstehen!-Bewegung ein Begriff, hat sich die akuten Verwerfungen deutscher Debatten(un)kultur vorgenommen. Er lehnt sich schon im Titel an den Hausheiligen aller Apologeten egalitärer Gesellschaftsstrukturen, Karl Popper, an, dessen Buch Die offene Gesellschaft und ihre Feinde zu den Standardwerken liberalen und demokratischen Denkens gehört. Damit wird bereits ein Akzent gesetzt, der aufhorchen lässt: Ist es so schlecht um unser öffentliches Reden miteinander bestellt, dass man dessen Entgleisungen quasi als systemisch relevant für den drohenden Kollaps unseres kollektiven Zusammenlebens erachten muss?

Stegemanns Antwort hierauf ist ein klares Ja, auch wenn die Verkürzung des Begriffes der „offenen Gesellschaft“ auf den der „Öffentlichkeit“ natürlich nur ihren plakativen Zweck erfüllt, denjenigen Teil denkbereiter Menschen im Land aufzuschrecken, der in der Lage ist, historische Analogien zu bilden, ohne an ihnen kleben zu bleiben. Die Öffentlichkeit als Diskursraum sieht Stegemann als gefährdet an. Kernthese des 300 Seiten starken Buches ist die Behauptung, die Debattenkultur werde zerstört durch einen moralisierenden, emotionalisierten Grundton linksliberalen Bessermenschentums, welches uns permanent mit anzustrebender wokeness, LGBTQ*-Anliegen, der FFF-Bewegung mit ihrem how dare you, der MeToo-Problematik und Cancel Culture beschäftige, aber die eigentlichen Voraussetzungen für eine bessere Welt und ein besseres kommunikatives Miteinander nicht sehen wolle: die Notwendigkeit der Überwindung des Kapitalismus und der weltweiten Klassengesellschaften.

Das Buch versucht also im Grunde nicht weniger, als eine schon häufig von sonst eher (wert-)konservativer Seite kritisierte gesellschaftspolitische Grundhaltung mit einer immer noch als radikal links einzusortierenden Voraussetzung in Einklang zu bringen. Dazu führt der Autor den gesamten abendländischen Philosophiekanon von Platon bis Luhmann (der es Stegemann als bekennendem Systemtheoretiker natürlich besonders angetan hat) ins Feld, definiert ausführlich erst einmal die Grundbegriffe von offenen und geschlossenen Gesellschafts- und Kommunikationssystemen und benennt die zahlreichen Widersprüche, in welchen spätmoderne Gemeinschaften gefangen zu sein scheinen. Insofern entpuppt sich das Buch als anspruchsvolles populärphilosophisches Werk, das einem Publikum mit weniger expliziten Philosophiekenntnissen durchaus entgegenkommt und zahlreiche Anknüpfungspunkte zu vertiefender Lektüre bietet, auch wenn Stegemanns Sprachstil nicht immer ganz leicht verständlich erscheinen mag.  

Die oben beschriebene Kernthese und wie nun konkret damit umzugehen sei, verhandelt der Autor dann eher im Kontext dieser grundsätzlichen Überlegungen. Das Phänomen Covid-19 war dabei leider nicht Gegenstand seiner Betrachtungen und wird nur ganz kurz gestreift, obwohl sich gerade an diesem Themenkomplex mit seinen vorschnellen Lagerbildungen und den fehlenden Sachdebatten das ganze Dilemma modernen Sprechens in der Öffentlichkeit vorzüglich hätte abarbeiten lassen. Die Verstrickung von gegenläufigen Interessen, die emotionalisierten Schuldzuweisungen, krasseste Ausprägungen von Lobbyismus und Korruption und die grenzenlose Naivität der beiden öffentlich präsenten Hauptströmungen (Schlafschafe vs. Covidioten), die sich nach wie vor von staatlich institutionalisiertem neofeudalem Rigorismus einerseits und rechtslastiger Unterwanderung andererseits instrumentalisieren lassen, wären geradezu ein Tummelplatz für die Stegemannschen Analysen gewesen.

Nach Covid-19 können identitätspolitische Debatten, in welchen vermeintliche Opfergruppen um ihr Wahrgenommenwerden und ihre Rechte in der Mehrheitsgesellschaft streiten, gefühlt nur noch als Fußnote erscheinen – so sehr diese Anliegen im Kern auch ihre Berechtigung haben mögen. Längst geht es um fundamentale Stellschrauben, die das Leben der gesamten Menschheitsfamilie beeinflussen. Stegemann macht sie – thematisch natürlich nicht zu Unrecht – indes vor allem beim Klimawandel aus, sicher auch, weil dieses Thema vom Covid-19-Komplex nur mittelfristig in den medialen Hintergrund gedrängt wurde und das Buch in seinen Grundzügen ja vermutlich schon vor der aktuellen globalen Virusfrage konzipiert wurde.

Was bei Stegemann immer mitschwingt, ist die grundsätzliche Kritik am Kapitalismus der Spätmoderne, der die Vereinnahmung der eigentlich wohlmeinenden und veränderungswilligen Linken auf die Spitze getrieben habe, indem er die Entwicklung hin zu einer Gesellschaft der Individuen mit ihren immer kleiner werdenden gemeinsamen Nennern für seine spalterischen Machenschaften nutze. So belegt er Schritt für Schritt, dass auch die Klimabewegung letztlich scheitern muss, wenn sie sich der Vorstellung hingibt, dass ein nachhaltiges Wirtschaften in Einklang mit den real existierenden globalen Finanz-, Pharma- und Technologie-Oligarchien möglich sei und wenn sie ein Umdenken der Massen durch ihre emotionalisierte Angstrhetorik bewirken will. Auch hier spielt der aus dem Ruder gelaufene öffentliche Diskurs eine eminent wichtige Rolle:

Die allgemeine, leerlaufende Erregung dient nicht mehr nur der jeweiligen Ordnung, sondern sie verhindert, dass die geistige Krise des Anthropozäns individuell empfunden und öffentlich kommuniziert werden kann.

Dem gegenüber setzt Stegemann ein Verständnis von Ökologie als transzendentem System aus Kybernetik, rekursiven Verhältnissen und symbiotischen Vernetzungen, welches das „Denken in Macht und Opposition“ überwinden müsse. Dies könne nur durch eine neu zu gewinnende Demut geschehen, einem vielfachen individuellen (und damit dann ja auch irgendwann wieder kollektiven) Handeln nach den persönlichen Möglichkeiten, das nicht in lauten und panischen Aktionismus verfällt. Das ist alles sicher nicht falsch, aber auch nicht wirklich neu. Freilich will Stegemann die Demut nicht als Nichtstun oder abwartende Gelassenheit missverstanden wissen, sondern als ein echtes Umdenken. Das genau aber fordern Klimawarner seit Jahrzehnten. Und auch der Autor ahnt, dass diese Forderung einmal mehr ins Leere laufen wird.

Dennoch muss man dem Buch zugute halten, dass es sich methodisch und ernsthaft mit dem Komplex einer versagenden Öffentlichkeit auseinandersetzt und eine Fülle an dabei mitwirkenden geistigen Strömungen aus Philosophie und Soziologie benennt. Was etwas zu kurz kommt, ist eine Beschäftigung mit der nicht zu unterschätzenden veröffentlichten Meinung in Bezug auf ihren Einfluss auf die Diskursrealität in persönlicher Begegnung wie auch in den untersuchten sogenannten sozialen Medien. Die große Lösung jedenfalls hat auch Bernd Stegemann nicht für uns, der wie wir alle letztendlich auch nur der achtmilliardste Teil des Problems ist.

Titelbild

Bernd Stegemann: Die Öffentlichkeit und ihre Feinde.
Klett-Cotta Verlag, Stuttgart 2021.
384 Seiten, 22,00 EUR.
ISBN-13: 9783608984194

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