Johann Wolfgang von Goethe in seiner Zeit

Zum 275. Geburtstag des „Dichterfürsten“ hat Thomas Steinfeld eine umfangreiche Biografie vorgelegt

Von Manfred OrlickRSS-Newsfeed neuer Artikel von Manfred Orlick

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Ein 275. Geburtstag ist eigentlich kein allzu rundes Jubiläum. Anders bei Johann Wolfgang von Goethe, geboren am 28. August 1749, und so sind zu diesem Anlass einige Neuerscheinungen erschienen. Allen voran die umfangreiche Biografie des Kulturjournalisten und Schriftstellers Thomas Steinfeld. Viele Biografen haben sich in den letzten zweihundert Jahren schon über Goethes Lebensgeschichte hergemacht: von seinem ersten Biografen Heinrich Döring (1789-1862) über Georg Simmel (1858-1918), Friedrich Gundolf (1880-1931) und Richard Friedenthal (1896-1979) bis hin zu Karl Otto Conrady (1926-2020) und Rüdiger Safranski sowie zuletzt dem Engländer Jeremy Adler, um nur einige zu nennen. Doch Steinfeld bietet keine Neuauflage von Goethes Lebensgeschichte. Wie der Untertitel Porträt eines Lebens, Bild einer Zeit verrät, werden nicht nur Leben und Werk des Dichterfürsten beleuchtet, sondern vor allem die Zeitumstände, die ihn beeinflussten. Das macht die Lektüre erhellend und interessant.

Steinfeld, der Goethes Leben vor dem Hintergrund seiner Zeit schildert, sieht es in zwei Hälften geteilt, deren Zäsur die Französische Revolution war. Den ersten Teil seines Lebens hatte er in der alten, feudalen Welt verbracht. Man lebte noch in einer „nachmittelalterlichen Welt“, die dann von der Französischen Revolution erschüttert wurde. Die zweite Lebenshälfte, geprägt von der Bildung der Nationalstaaten, der beginnenden europäischen Industrialisierung und den frühen Massenmedien, reichte bis in die Zeit der großen Umbrüche des 19. Jahrhunderts. Die Goethezeit war ein Spannungsfeld zwischen Antike und Moderne und auch eine Phase des radikalen künstlerischen und geistigen Umbruchs, die Goethe selbst mitgestaltet hatte.

Die Biografie ist in sieben Kapitel gegliedert – beginnend mit der Kindheit in Frankfurt, wo der junge Johann Wolfgang 1764 Augenzeuge der Krönung Josephs II. zum römisch-deutschen König war, und den Studienjahren in Leipzig und Straßburg über die Advokatur in Frankfurt und Wetzlar (Götz von Berlichingen und Die Leiden des jungen Werther), das erste Weimarer Jahrzehnt, die Italienische Reise, die persönlichen Reaktionen auf die Französische Revolution, Weimar um 1800 (Faust, erster Teil), den Untergang des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, das Ende der Napoleonischen Zeit (Die Wahlverwandtschaften) und die Neuordnung Europas nach dem Wiener Kongress bis hin zu Goethes letztem Jahrzehnt (Faust II). Goethes Lebensspanne war turbulent und bei der Vielzahl der Ereignisse scheinen 784 Seiten fast schmal. Die Kapitel hat Steinfeld wiederum in mehrere Abschnitte unterteilt, in denen bestimmte Themen oder Thesen in den Mittelpunkt gestellt werden.

Goethe war ein umtriebiger Literat, universell interessiert, begabt und wirksam, und so blickt Steinfelds Lebensbild nicht nur dem Dichter Goethe über die Schulter, sondern auch dem Geheimrat und Minister, dem Juristen und Kriegsbeobachter, dem Kulturpolitiker und Theaterdirektor, doch vor allem dem Naturforscher. Auch wenn er bereits zu Lebzeiten vorrangig als Poet wahrgenommen wurde, wollte Goethe später als Naturforscher gesehen werden. Eine besondere Episode ist die kritische Auseinandersetzung mit der Farbenlehre von Isaac Newton (1643-1727), die er gleich in mehreren Punkten zu widerlegen versuchte. Die naturwissenschaftliche Schrift ist Goethes umfangreichstes Werk, das er selbst für wichtiger erachtete als sein literarisches Schaffen. Obwohl er am Ende seines Lebens meinte, als Wissenschaftler mehr geleistet zu haben denn als Poet, waren seine Forschungen zu diesem physikalischen Thema fehlerhaft. Eigentlich wollte Steinfeld nur über den Naturforscher Goethe schreiben, aber der Verlag hatte ihm geraten, diesen sicherlich interessanten Aspekt in einer kritischen Lebensbeschreibung einzubeziehen.

Steinfeld sieht in Mephisto nicht nur die tragende Gestalt in Goethes Drama Faust, sondern die tragende Gestalt in seinem Leben. Goethe kann nichts tun, ohne gleichzeitig das Gegenteil mitzutun. In dem Liebesroman Werther z.B. dekonstruierte er gleichzeitig den Begriff der Liebe. Dieser Widerspruch war für ihn aber immer wieder Antrieb, sich in vielen literarischen und naturwissenschaftlichen Arbeitsfeldern auszuprobieren – von der Botanik, über die Anatomie, Geologie und Farbenlehre bis hin zur Beobachtung des Wetters und der Wolkenbildung. Neben dem naturwissenschaftlichen Interesse sind diese Beschäftigungen auch eine philosophische Auseinandersetzung.

Steinfeld versucht die drei Tätigkeitsfelder Goethes, Naturforschung, praktische Politik mit der Staatsverwaltung und Literatur, gleichwertig zu behandeln, was ein neuer Ansatz im „Biografiewesen zu Goethe“ ist. Alle drei Bereiche gingen dabei ineinander über. Der Autor stellt außerdem eine fundamentale Veränderung im Umgang mit Goethe in den letzten beiden Jahrzehnten fest, indem man die Verehrung Goethes, die Demutshaltung ihm gegenüber oder das Denkmalhafte nicht mehr voraussetzen kann. Man gewinnt neue Erkenntnisse, wenn das Denkmal „Dichterfürst“ nicht mehr vorhanden ist. Diese Aspekte haben ihn auch zu dieser Biografie motiviert, die Goethe auf das Menschliche zurückholt und gleichzeitig eine kritische Literaturgeschichte der Weimarer Klassik ist. Jede Generation muss „ihren“ Goethe neu entdecken. Ein Gemeinplatz. Auf den rund 700 Seiten (über 60 Seiten Anhang) gelingt tatsächlich eine neue Sicht auf Goethe und die Zeit, in der er wirkte.

Hier noch kurze Hinweise zu zwei weiteren Neuerscheinungen anlässlich des Goethe-Jubiläums. Bereits im Vorfeld hat der C.H. Beck Verlag eine Neuauflage von Goethes Werke: Hamburger Ausgabe in 14 Bänden herausgebracht. Die Hamburger Ausgabe ist seit vielen Jahrzehnten die erfolgreichste Goethe-Werkausgabe. Die von dem Herausgeber und Germanisten Erich Trunz  (1905-2001) kommentierte Ausgabe wurde 1948 bei dem Verleger Christian Wegner in Hamburg begonnen und erreichte bis 1969 neun Auflagen. 1972 wurde die Ausgabe von C.H. Beck übernommen, wo sie 1981 eine Neubearbeitung erfuhr. Seit 1982 ist bei dtv auch eine Taschenbuchausgabe erhältlich. Die Hamburger Ausgabe enthält alle wichtigen Werke, dazu eine recht umfangreiche Chronik zu Leben und Werk, mehrere hilfreiche Register und eine umfassende Bibliografie. Sie ist inzwischen selbst zu einem Klassiker geworden, allerdings nicht mehr auf dem neuesten Forschungsstand. Die 14 Bände werden in einer relativ preisgünstigen Ausgabe in edler Ausstattung und einer schön gestalteten Kassette angeboten.

Mit etwas Verspätung, Mitte Oktober, steuert der Reclam Verlag zum Goethe-Geburtstag die Neuerscheinung Goethe und der Frieden bei. Die höchst aktuelle Anthologie versammelt die interessantesten Zitate aus seinem gesamten Werk zu diesem Thema, neben Auszügen aus einigen Werken (Egmont, Hermann und Dorothea, Iphigenie auf Tauris und Wilhelm Meister), Gedichten und politischen Schriften auch sehr persönliche Äußerungen aus seinen Briefen, ergänzt durch Zitate aus Gespräche mit Goethe von Johann Peter Eckermann. Im Mittelpunkt stehen jedoch Goethes Äußerungen zu diesem Thema in seinen autobiografischen Schriften Dichtung und Wahrheit (1811-33) und der ausführliche Bericht Campagne in Frankreich 1792 (1822), in dem Goethe seine Erinnerungen an die vom Herzog von Weimar erbetene Teilnahme am Feldzug deutscher und österreichischer Truppen gegen das jakobinische Frankreich schilderte. Für die Auswahl des Reclam-Bandes sorgten die beiden Germanist*innen Mario Leis und Marisa Quilitz.

Titelbild

Thomas Steinfeld: Goethe. Porträt eines Lebens, Bild einer Zeit.
Rowohlt Berlin Verlag, Berlin 2024.
784 Seiten, 38,00 EUR.
ISBN-13: 9783737100595

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Titelbild

Erich Trunz (Hg.): Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden.
2. Edition.
Verlag C.H.Beck, München 2023.
11000 Seiten, 298,00 EUR.
ISBN-13: 9783406802232

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Titelbild

Mario Leis / Marisa Quilitz (Hg.): Goethe und der Frieden.
Reclam Verlag, Ditzingen 2024.
140 Seiten , 7,00 EUR.
ISBN-13: 9783150146057

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