Ein Spatz als Kommissar und umgekehrt

In Heinrich Steinfests neuem Roman „Das Leben und Sterben der Flugzeuge“ übernehmen Träumer die Regie

Von Dietmar JacobsenRSS-Newsfeed neuer Artikel von Dietmar Jacobsen

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Eigentlich sind alle Romane von Heinrich Steinfest Träumen ähnlicher als der schnöden Realität und man versteht die Bücher des in Australien geborenen Wahl-Stuttgarters besser, wenn man sich an die letzte Nacht erinnert. Was war da alles plötzlich möglich. Wer stand da nicht völlig unverhofft wieder vor einem. Und wie hat man auf einmal mit Leichtigkeit geschafft, was einen im wachen Zustand vor unlösbare Probleme stellte. 

Noch nie freilich wurde in Steinfests Büchern so ausgiebig geträumt wie in Das Leben und Sterben der Flugzeuge, seinem aktuellen und bisher umfangreichsten Werk. Wobei sich Traum und Wirklichkeit in diesem Roman beständig vermischen, das eine in das andere übergeht – so lange, bis der Leser am Ende der Lektüre denkt, er selbst sei soeben aus einem intensiven Traum erwacht, sich verwundert umschaut und die einfachen Dinge seiner Welt noch eine ganze Weile in einem irritierenden Zwielicht sieht.

Träumen ist, das wissen Steinfests Figuren ganz genau, von allen Möglichkeiten, seiner Einsamkeit zu entkommen, die poetischste. „Ich weiß, was es bedeutet, wirklich allein zu sein. Der traumlose Schlaf ist kein Spaß. Das ist viel schlimmer als das Alleinsein vor dem Fernseher oder im Hotel oder plötzlich allein zu sein mit einem Vermögen und es allein ausgeben müssen“, heißt es an einer Stelle.

Auch  Kriminalhauptkommissar Blind, der, wenn man so will, „menschliche“ Hauptakteur des Romans, kann sich über Traumlosigkeit nicht beklagen. Der 56-Jährige – studierter Germanist und auf österreichische Literatur spezialisiert – leitet das „Dezernat für organisierte Kriminalität und besondere Deliktsformen“ an einem süddeutschen Landeskriminalamt, sieht aus wie „eine Mischung aus Liam Neeson und Sam Shepard“, spielt leidenschaftlich Golf und wird vom Spenderherz eines agilen Skiläufers am Leben gehalten. Wenn freilich der Schlaf ihn überkommt, dann verwandelt er sich – und zwar in einen ordinären Spatzen, der sich im Pariser Bahnhof Montparnasse von den Krümeln ernährt, die eilige Gäste auf den Bistrotischen hinterlassen, und der über Gott und die Welt nachdenkt, während er durch die belebte Bahnhofshalle flattert, noch voller jugendlicher Naivität. Bis er plötzlich eine merkwürdige Begegnung hat, die ihn, wenn man das bei einem Spatzen sagen kann, über Nacht erwachsen werden lässt.

Aus heiterem Himmel nämlich fällt ihm eines Tages ein Artgenosse auf den Kopf und schickt ihn auf eine gefährliche Mission, die er selbst, soeben von einem Bösewicht namens Nybråten aus der Luft heruntergeschossen, nicht mehr zu Ende bringen kann. Dieser Auftrag führt den Spatz namens Quimp zunächst nach Wien, später über London bis nach Belfast und anschließend zurück in einen Randbezirk der österreichischen Hauptstadt, wo er so etwas wie ein Happy End mit einer wehrhaften Spatzendame erleben darf. Alles hochgeheim und verschwörerisch, ständig bedroht und mit der Maßgabe versehen, unterwegs nicht zu trödeln, weil Großes auf dem Spiel steht. Kein Wunder, dass der arme Spatz auf seiner Reise gelegentlich von Müdigkeit übermannt wird. Und wenn er dann einschläft und träumt, dann sieht er sich (zurück-)versetzt in den Körper seines menschlichen Pendants, eben jenes Kommissars ohne Vornamen.

Auch Blind treibt ein Auftrag der besonderen Art um. Auf Wunsch der Witwe eines genialen Erfinders und vermögenden Geschäftsmanns soll er nämlich herausfinden, ob bei dessen tragischem Unfalltod zwei Jahre zuvor alles mit rechten Dingen zugegangen war. Die Gnädige hegt nämlich berechtigte Zweifel gegenüber der Darstellung, mit der die Polizei den Fall damals zu den Akten legte. Denn zum einen war ihr Gatte ein ausgezeichneter Fahrer, der sich niemals betrunken ans Steuer seines Wagens gesetzt hätte, und andererseits handelte es sich bei der Studentin, die man neben ihm in den Autotrümmern fand, keineswegs um seine – wie allgemein angenommen –, sondern um ihre Geliebte. Dass diese noch dazu Mitglied einer geheimnisvollen Gesellschaft war und einen Hinweis hinterließ, dem in den Ermittlungen kaum nachgegangen worden war, macht die Sache noch verdächtiger. Und so findet auch Hauptkommissar Blind sich bald nach seinem Gespräch mit der hinterbliebenen Ehefrau auf dem Weg nach Belfast wieder, muss dabei allerdings gezwungenermaßen einen Umweg über Oslo und die Shetland-Inseln in Kauf nehmen. 

Ein Spatz, der träumt, er sei ein Kommissar, und ein Kommissar, der träumt, er sei ein Spatz. Wer bereit ist, Heinrich Steinfest in diese denkwürdige Konstellation zu folgen, dem steht eine vergnügliche Lektüre ins Haus – wie immer bei diesem Autor garniert mit allerhand philosophischen Abschweifungen, zitierfähigen Sprüchen („Die Liebe ist der politische Arm des zwischen Ja und Nein agierenden Sexus.“) sowie jeder Menge verrückter Ideen am Rande. Sogar ein bisschen Sex – sonst nicht unbedingt zu den unverzichtbaren Bestandteilen von Steinfests Phantasiewelten zählend – kommt diesmal vor, eine Prise nur, nicht mehr, aber selbst die in Steinfests Manier sprachlich so aufpoliert, dass nicht nur die beiden am Akt Beteiligten Spaß haben, sondern auch der Leser.

Ansonsten hat man als Kritiker auch mit dem neuesten Produkt aus der Feder Heinrich Steinfests wieder das Problem, dass sich seine Handlung kaum nacherzählen lässt. Manche, wie Ulrich Rüdenauer in der Süddeutschen Zeitung, bringt das schier zur Verzweiflung. Andere, wie Erik Lim in der Südwest Presse, betrachten es als ein „herausforderndes Lesevergnügen“, mal mit Blind und mal mit Quimp quer durch Europa zu fliegen. Und Dritte – bis dato sind die in der Mehrzahl – lassen sich lieber gar nicht erst auf ein Buch ein, in dem nicht nur wild hin und her und durcheinander geträumt wird, sondern das sich selbst über weite Strecken wie ein Traum liest, der keinen anderen als den eigenen Regeln gehorcht. Dabei ist es doch eigentlich ganz einfach: Für die Zeit der Lektüre alles vergessen, was einem in seiner Existenz im Hier und Jetzt Halt verleiht und sich den Gesetzen, Üblich- und Möglichkeiten eines Universums ausliefern, in dem die Dinge völlig anders laufen.  

Eine hochgerüstete Spatzenarmee, die in einem Belfaster Hochhaus ihr Hauptquartier hat – und zwar in einem gut getarnten Stockwerk zwischen der 33. und 34. Etage? Warum nicht! Eine im Verborgenen operierende Organisation namens „Golden Awakenings“, die über Nacht die gesamte Innenausstattung aus der Zentrale der Christlichen Partei aus- und in jene ihres sozialdemokratischen Gegners wieder einbaut und umgekehrt , um mit dieser „Entführung einer Büroeinrichtung“ zu beweisen, dass sich die Politik der beiden großen Volksparteien kaum mehr voneinander unterscheidet? Einfach nur herrlich! Und wer möchte nicht, wenn er sein Leben in Gefahr sieht, weil eine für ihn bestimmte Pistolenkugel den Lauf schon verlassen hat und in Millisekundenschnelle auf ihn zurast, durch einen kurzen Wisch wie auf dem Display seines Handys schnell aus der einen Welt verschwinden, um in einer anderen quicklebendig wieder aufzutauchen?!

Vielleicht sind die Wege, auf denen man Spatz und Kommissar über fast 600 Seiten zu begleiten hat, eine Kleinigkeit zu lang geraten. Aber die Leseanstrengung – ab und an kostet es wirklich ein bisschen Mühe, bei der Stange zu bleiben – lohnt sich. Man darf nur nicht erwarten, dass Steinfest immer etwas an die Wirklichkeit Erinnerndes liefert. Man muss die fantastischen Ideen und Abschweifungen, die diesen Roman auszeichnen, einfach nur akzeptieren. Genießen, wie hier Realität (das Verschwinden eines Flugzeugs der Malaysia Airlines auf dem Flug von Kuala-Lumpur nach Peking am 8. März 2014) und Fantasie (Spatzenkrieger und Tropfenmaler, Killer mit vier Wohnungen und Gebäude, die in der einen Welt nur geplant sind, während sie in der anderen in voller Pracht bis zu den Wolken reichen), Determiniertes und Zufälliges, Kriminelles und Sexuelles, Verrücktes und Normales, Diskurs und Geschwätz wild durcheinandergehen. 

Der geheime Held des Buches scheint mir übrigens ein Kind zu sein – eines in zwei Ausführungen, für jede Welt eine, versteht sich. Clemens heißt dieser Junge im Universum des Spatzen Quimp, während er sich in Blinds Parallelwelt Frederik nennt. Was Erwachsene und Spatzen gelegentlich verwirrt, was sie nicht oder nur schwer begreifen – für die beiden Jungen ist es normal. Und deshalb sind sie auch gewappnet gegen jede Art von Überraschung und wissen dem Vogel und dem Kommissar als eine Art Schutzengel auf ihren labyrinthischen Wegen immer beizustehen. Sich Kindern anvertrauen und deren Fantasie, um in unserer immer komplizierter werdenden Welt die Orientierung nicht zu verlieren – vielleicht ist das die geheimste aller geheimen Botschaften, die dieses Buch enthält.   

Titelbild

Heinrich Steinfest: Das Leben und Sterben der Flugzeuge. Roman.
Piper Verlag, München 2016.
598 Seiten, 25,00 EUR.
ISBN-13: 9783492056625

Weitere Rezensionen und Informationen zum Buch