Medusen

Ludwig Steinherrs allumfassender Lebens- und Jahreszyklus in Gedichten

Von Helga ArendRSS-Newsfeed neuer Artikel von Helga Arend

Besprochene Bücher / Literaturhinweise

Die Zwölf gilt als Zahl der Vollkommenheit und der Mondzyklen im Jahresablauf. Auch das Göttliche und Heilige wird oft mit dieser Zahl assoziiert: das Gilgamesch-Epos besteht aus zwölf Tafeln, die Artusritter und die Apostel waren zwölf Personen. Ludwig Steinherrs Gedicht-Zyklus ist aufgeteilt in zwölf Kapitel, die einen Jahresverlauf abbilden: Inhaltliche Hinweise darauf finden sich im Kapitel VI durch den Begriff „Sommerloch“, in VIII durch die „Herbst-Etüden“ oder den „trüben Novembermorgen“, „die Winter-Sätze“, die Anspielungen auf Weihnachten in Kapitel XI durch die Überschriften Weihnachtskarte und Christmas Crackers sowie in XII im letzten Gedicht mit dem Titel Jahr des Unheils oder Silvester 2016. Einige der Gedichte passen zwar in den Jahresverlauf, allerdings geht die Einteilung der Kapitel nicht genau überein mit der Einteilung in die zwölf Monate. Der Novembermorgen kommt in VIII vor und Weihnachten in XI. Durch die genaue Zeitangabe „Silvester 2016“ wird der Bezug zu gesellschaftlich-politischen Ereignissen des Jahres 2016 hergestellt: die Verbindung zu den Ereignissen der Silvesternacht in Köln 2015, die das Jahr 2016 zu einem „Irrsinns-Jahr“ haben werden lassen. Die Böller sollen die „Dämonen“ vertreiben, „dass die Vernunft wieder hört / wie ihr das Herz schlägt / bis zum Hals“.

Der Zyklus ist einerseits abgerundet durch den Jahresablauf, andererseits werden konkrete Daten eines Lebens, wie die Sonnenfinsternis am 11.8.1999 genannt. Dieser Bezug und die Verweise auf wichtige Lebensereignisse, wie bestimmte Reisen, Erinnerungen an die Eltern, Beschreibungen der Liebe, der Trennung, der Geburt, des Alterns und des Todes verweben den Jahresablauf und den Lebensverlauf miteinander, sodass der Gesamtzyklus auch als Lebenslauf gelesen werden kann. Hinweise auf den Verlauf des menschlichen Lebens werden in der literarischen Tradition schon seit jeher mit dem Kalenderjahr in Verbindung gebracht. Ovids Fasti, Vergils Aeneis und Miltons Paradise Lost gehen bei der Kapiteleinteilung von der Zahl zwölf wie die Mondzyklen des Kalenderjahres aus. Die Andeutungen aus den Gedichten verweisen auf ein lyrisches Ich, das gerne reist – vor allem nach Italien –, auf eine erfüllte Liebesbeziehung zurückblickt, zwei Kinder hat und sich Gedanken über das Altern macht. Es ist ein Mann, dessen große Vorliebe für bildende Kunst besonders in den ersten Kapiteln deutlich wird: Werke Jan Vermeers, Sandro Botticellis, Fransisco de Goyas und Simone Martinis werden bewundernd als Beispiele großer Kunst beschrieben, indem die Reaktionen des Betrachters dargestellt werden: „das Herz bleibt mir stehen“. Auch die Musik wird als eine „Sinfonie der Gerüche“ beschrieben, die der Hörende nicht versteht, sondern wie ein Hund erspürt und auf „Nachtgeräusche von Flügelspitzen“ lauscht. Musik, Malerei, Film und Literatur öffnen Welten, die Fantasielose niemals erleben können. Sie weisen über den normalen Jahresablauf und die gewöhnliche Biographie hinaus. Genau wie die Bezüge zur Religion, die in vielen Gedichten auftauchen und die die Welt als eine Ganzheit erscheinen lassen: „In solchen Augenblicken / ist mein Glaube vollkommen“.

Neben der Religion befassen sich viele der Gedichte mit Tieren: Frosch, Beo, Tiefseefische, Medusen und Rochen, die in das Reich der Märchen oder der Schamanen führen. Die Medusen oder Quallen, die als sehr alte Tierart auf den Beginn der Evolution und auf den mythischen „Ursprung des Lebens“ verweisen, sind in ihrem Aussehen „neon-violette Party-Gimmicks“ und eine Reminiszenz an die Zukunft. Die Medusa in der griechischen Mythologie ist eine der Gorgonen, deren Anblick den Menschen zu Stein erstarren lässt. Die Tradition der Medusa lässt sich zurückverfolgen bis zu der Schlangengöttin der libyschen Amazonen, die als Repräsentanz der weiblichen Weisheit und als Mutter aller Götter gesehen wurde. Wie in den Jahreszyklen wird durch die Tiere aus der Urzeit neben dem Jahresrhythmus und dem Lebenslauf die Geschichte der gesamten Welt thematisiert, wobei die aktuelle Gegenwart durch Ereignisse, wie das Schmelzen der Polkappen und das syrische Militärgefängnis Sednaya, in dem Menschen gefoltert und ermordet werden und das im aktuellen Krieg eine unrühmliche Rolle spielt, in den Blick gerät.

Die Gedichte Steinherrs bilden ein abgerundetes Ganzes, wobei jedes einzelne wiederum ein kleines Universum für sich darstellt. Die Texte sind lesbar sowohl für Leser*innen, die weniger mit Lyrik vertraut sind, als auch für Lyrikkenner*innen, die ein unerschöpfliches Reservoir an kulturgeschichtlichen, literarischen und künstlerischen Bezügen eröffnen können.  Neben der Religion sind es die Zeugnisse der Kunst, die trotz der zerrissenen politischen Lage auf eine Einheit verweisen und die Welt als ein Ganzes erscheinen lassen. Besonders eklatant wird dies in folgender Anmerkung bei einer Weihnachtsfeier deutlich: „Die Heilige Familie kommt später. Sie treibt noch im Schlauchboot auf dem Mittelmeer. Aber fangt schon mal an!“

Die furchtbaren Ereignisse der Flucht und der Kriegsfolgen werden darin angesprochen und verdeutlicht. Versetzt in den Rahmen eines bürgerlichen Weihnachtsfestes klingt der Satz zynisch und gesellschaftskritisch. Aber es bleibt die Hoffnung, dass die Heilige Familie doch noch bei den Feiernden ankommen könnte. Die Gedichte in ihrem inneren Zusammenhang und im dargestellten Zyklus lassen die Gesamtheit des Jahres und des Lebens – trotz der Erinnerung an die schlimmsten Ereignisse – als ein Ganzes erscheinen. Obwohl diese Gedichte die Realität nicht aus dem Blick verlieren, vermitteln sie eine Hoffnung auf Ganzheit. Diese Vollkommenheit wird durch eine abwechslungsreiche künstlerische Gestaltung und eine formvollendete Sprache anschaulich vermittelt.

Titelbild

Ludwig Steinherr: Medusen. Gedichte.
Allitera Verlag, München 2018.
130 Seiten, 19,90 EUR.
ISBN-13: 9783962330569

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